Rückkehr zur Normalität als gesundheitspolitische Chance

Erich Irlstorfer MdB, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, pflegepolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe

„Mehr Fortschritt wagen“ haben sich die Ampel-Partner im Koalitionsvertrag vorgenommen. Knapp 180 Seiten voller Aufbruchsstimmung. Ein „vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem“ definieren SPD, Grüne und FDP als eines der zentralen Zukunftsfelder. Doch, welche Aufgaben sehen die Gesundheitspolitiker des Bundestages für sich federführend? Was wollen sie politisch verändern, an welchen Stellschrauben drehen für ein verlässliches Gesundheitssystem? Erich Irlstorfer MdB, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit und pflegepolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe nimmt heute Stellung.

 

Wenn die COVID-19-Pandemie etwas Positives hatte, dann die Tatsache, dass die Gesundheitsberufe und die Gesundheitspolitik immens an Bedeutung gewonnen haben. Themen mit Gesundheitsbezug, welche vor einigen Jahren ebenso akut waren, aber nicht die mediale Durchschlagskraft hatten, sind jetzt fester Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Debatten.

Die aktuelle „Übergangsphase“, in der nach einer zweijährigen, beinahe exklusiven Auseinandersetzung mit der Pandemiebewältigung eine Rückkehr zur Normalität erkennbar ist, ist eine große gesundheitspolitische Chance. Die Pandemie hat brennglasartig aufgezeigt, in welchen Bereichen es mangelt, und diese Punkte müssen nun zielgenau bearbeitet werden.

 

Pflege und Personalfrage stehen im Fokus

Die Pflege und mit ihr die Personalfrage stehen dabei absolut im Fokus. Prognosen rechnen bis 2030 mit einem Mehrbedarf von bis zu 300.000 Menschen. Die politischen Maßnahmen und Rahmenbedingungen müssen sich daher intensiv darauf konzentrieren, Personal zu halten und neu zu gewinnen. Die Attraktivitätssteigerung des Pflegeberufes ist hierfür substanziell, und damit ist nicht die Höhe des Gehalts gemeint, sondern die Arbeitsbedingungen, welche durch viele weitere Aspekte beeinflusst werden. Darunter fallen Entlastungen mittels einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf; etwa durch angepasste Betreuungszeiten, Entbürokratisierungen, wie die Harmonisierung verschiedenster Auflagen (zum Beispiel: interne Kontrollen) zwischen den Bundesländern sowie weitreichende Digitalisierungsmaßnahmen.

Mit dem Blick auf Letztere reicht es jedoch nicht aus, Tablets oder andere offensichtliche Hardwarebestandteile inflationär an die Beschäftigten zu verteilen, sondern die Pflegenden auch mit den dazugehörigen Digital- bzw. Technikkompetenzen auszustatten. Den stetig andauernden Weiterentwicklungen im digitalen Bereich muss natürlich mit Fort- und Weiterbildungen ebenfalls Rechnung getragen werden.

Und auch unkonventionelle Ansätze müssen endlich verstärkt debattiert werden. Einen Teil der Geflüchteten aus der Ukraine mit entsprechender Qualifikation möglichst unbürokratisch und rasch in die Pflegeprofession zu integrieren, wäre ein solcher Ansatz. Doch auch Überlegungen wie die Einführung eines Pflegejahres im Rahmen des Medizinstudiums, um Personalengpässe auszugleichen, Vorurteile abzubauen und die Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärzteschaft weiter zu verbessern, gehören dazu.

 

Große Herausforderung: Long Covid

Neben der Pflegethematik bleibt die oft als „unsichtbar“ bezeichnete Welle an Long- und Post-COVID-Betroffenen bzw. ME/CFS-Betroffenen eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem. Unsichtbar ist daran nichts – ganz im Gegenteil: Etwa zehn Prozent aller Menschen, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben und an COVID-19 erkrankt sind, entwickeln aktuellen Studien zufolge eine Long-COVID-Erkrankung. Allein in Deutschland hieße das nach aktuellem Stand, dass etwa zwei Millionen Patientinnen und Patienten davon betroffen wären. Die gravierendsten Fälle entwickeln dabei Symptome, die der postinfektiösen Erkrankung ME/CFS entsprechen.

Es braucht deshalb so bald wie möglich gefestigte Strukturen zur Primärversorgung mit behandelnden Akteuren, welche für die Erkrankungen sensibilisiert werden. Breit angelegte Fachtagungen und Weiterbildungen sowie die Implementierung von entsprechenden Inhalten in die medizinischen und pflegerischen Ausbildungen könnten hier Wirkung zeigen. Intensive Forschungsanstrengungen müssen flankierend dazu die Erkrankung so genau wie möglich definieren und Symptome voneinander abgrenzen. Erst auf Basis dessen können Patientinnen und Patienten in spezialisierten, interdisziplinären Zentren passgenau und effektiv behandelt werden.

 

Misskommunikation und fehlende Koordination beim Bundesgesundheitsminister

Bei allen genannten und auch darüber hinausreichenden Punkten kann und wird die Unionsfraktion aus der Opposition heraus Vorschläge unterbreiten und Schwerpunkte legen. Das Heft des politischen Handelns haben jedoch die Bundesregierung bzw. die Ampelfraktionen in der Hand, und diese geben gerade mit Blick auf die Gesundheits- und Pflegepolitik keine gute Figur ab.

Die letzten Entscheidungsprozesse von Bundesgesundheitsminister Prof. Lauterbach sind von Misskommunikation, fehlender Koordination und einer seltsamen Kombination von Phlegmatik bei gleichzeitiger Hektik geprägt. Man hat das Gefühl, dass Themen ohne den direkten Bezug zu Coronamaßnahmen im Ministerium kaum Beachtung finden, der Brennpunkt Pflege taucht jedenfalls selten bis gar nicht auf. Die anfängliche Aufbruchsstimmung, welche im Koalitionsvertrag manifestiert wurde, scheint der Erkenntnis gewichen zu sein, dass Regieren und das Tragen von Verantwortung nicht so leicht sind.

Sicherlich gilt es auch festzuhalten, dass wir uns bezugnehmend auf den russischen Angriffskrieg zusätzlich mit einer der größten Herausforderung unserer Zeit konfrontiert sehen. Nichtsdestotrotz ist auch hier zu erkennen, dass sich die Ampelkoalition in vielerlei Hinsicht hauptsächlich an sich selbst abarbeitet und dadurch viele Kapazitäten bindet. Wichtig ist es, jetzt so schnell wie möglich dieses chancenreiche Zeitintervall für den Gesundheitssektor zu nutzen, bevor es wieder schließt. Denn nach der Krise ist bekanntermaßen vor der Krise.

 

 

Lesen Sie in dieser Reihe auch im Observer Gesundheit:

Kathrin Vogler: „Intensiver Einsatz für eine solidarische Gesundheitsversicherung“ – 12. Mai 2022

Nezahat Baradari: „Unseren Jüngsten gebe ich eine Stimme“ – 7. Mai 2022

Maria Klein-Schmeink: „Wir steuern auf einen Kollaps zu, wenn wir jetzt nicht handeln“ – 3. Mai 2022

Erwin Rüddel: „Digitale Gesundheit muss von Anfang an intersektoral ausgerichtet werden“ – 30. April 2022

Kristine Lütke: „Gesundheitspolitik 2.0: Stigmatisierung beenden! – 28. April 2022

Armin Grau: „Gesundheit muss wieder im Mittelpunkt der Menschen stehen“ – 25. April 2022

Kordula Schulz-Asche: „Pflege stärken – Arbeitsbedingungen verbessern“ – 21. April 2022

Stephan Pilsinger: „Gesundheitspolitik ist mehr als Corona-Management“ – 14. April 2022


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