Auf dem Weg in ein digitales Gesundheitswesen – Chancen und Hindernisse

Besprechung des Buches „Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie“

Dr. Robert Paquet

Fast 400 Seiten dick mit 44 Beiträgen und 79 Autorinnen und Autoren. Das gibt ein „dickes Brett“. In der vergangenen Wahlperiode habe die Digitalisierung im Gesundheitswesen Fortschritte gemacht. „Zunehmend tut sich etwas!“ Vor allem die Plattformökonomie verändere die Rollenmodelle, Geschäftsprozesse und Wertschöpfungsketten im Gesundheitswesen. Darum müsse man sich kümmern. Das schreibt Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK) und Herausgeber des Bandes „Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie“ zur Begründung der Veröffentlichung. „Diese Zukunft gilt es zu gestalten und nicht zu erleiden.“ Diese Botschaft habe man den Autorinnen und Autoren des Bandes schon vor dem Schreiben mitgegeben (Vorwort S. V).

Im ersten Teil des Buches geht es daher vor allem um den Wandel der gesellschaftlichen Mentalitäten, der mit dem technologischen Fortschritt korrespondiere. Das Aufkommen der Plattformunternehmen knüpfe daran an. Im zweiten Teil geht es um die Gesundheitsdaten, ihre Entstehung, ihre Verwendung und ihren Schutz. Im dritten Teil wird die Rolle des Patienten im Zuge der Digitalisierung neu bestimmt. Der vierte Teil widmet sich den „neuen Partnerschaften“ der Kassen mit Akteuren der Gesundheitswirtschaft (Technologie-Anbieter, Netzwerke, Industrie, Start-ups etc.). Im fünften Teil wird berichtet, wie die TK damit umgeht und welchen Nutzen sie für die Versicherten und Patienten aus der digitalen Entwicklung zieht. Aber auch welcher politische Handlungsbedarf in Sachen Plattformbildung besteht.

 

Teil I: Auf dem Weg in ein digitales Gesundheitswesen

Zum Auftakt führen uns Heiko Schulz und Kerstin Klär als TK-Marketing-Experten in die Gedankenwelt der Tik-Tok-Generation ein (3). Wenn man die „echten Digital Natives“ erreichen wolle, müsse man sich auf ihre Bedürfnisse, ihre Sorgen und ihr Nutzungsverhalten einlassen. Das betreffe vor allem die sozialen Netzwerke. Die Marktforschung der TK habe ergeben: Die „Vertreter:innen der Generation Z schätzen Medien und Marken, die Haltung und Charakter demonstrieren und die Möglichkeit der Identifikation bieten.“ (7) Die TK fühlt sich hier gut aufgestellt und vorbereitet. Die Generation Z gehe bei der Digitalisierung voran und sei deren Treiber.

Auch die Trendforscherin Corinna Mühlhausen ruft dazu auf, sich mit dem Wertewandel auseinanderzusetzen (32). Vier Megatrends stünden im Zusammenhang mit Gesundheit. Vernetzung sei der „eigentliche Vorteil der Digitalisierung“ (Konnektivität) (35). Der Megatrend der Individualisierung führe inzwischen auch zu mehr „Selbstwirksamkeit“ als „neue Achtsamkeit“ (35). „Wir Menschen sind jetzt stärker auf der Suche nach Resonanz und Gemeinschaft“ (38). Globalisierung und Nachhaltigkeit seien weitere Megatrends.

Betriebswirtschaftler von der Universität Witten-Herdecke zeigen an den Beispielen von Amazon und dem chinesischen „Ping An Good Doctor“, in welcher Breite Plattformunternehmen bereits im Gesundheitswesen vorgehen (von der Bereitstellung von Gesundheitsinformationen, Fitness-Trackern bis zur Vermittlung von Online-Apotheken und telemedizinischen Angeboten) (12). „Online-Plattformen schaffen es also, Marktakteure in großem Umfang zusammenzuführen“ und daraus optimierte Angebote für Nutzer und Anbieter zu schaffen (15). Man müsse in Europa aufpassen, dass sich Geschichte nicht wiederhole: Die Uber-Taxis hätten die traditionellen Taximärkte überrollt. Mit den herkömmlichen Marktregulierungen könne man traditionelle Branchen nicht mehr schützen. – Zu den Gesundheits-Aktivitäten von Amazon und „Ping An Good Doctor“ werden übrigens in knappen Exkursen wichtige Informationen geliefert (48f. und 77f.). Die bei uns kaum bekannte Ping An Versicherungs- und Finanz-Dienstleistungsgruppe mit Sitz in Shenzhen habe z.B. für ihre Gesundheits-App 400 Millionen registrierte Nutzer (67), vermittle Telemedizin-Angebote, hausärztliche Versorgung, arbeite mit 3.700 Krankenhäusern und 150.000 Apotheken zusammen und organisiere täglich mehr als 900.000 Konsultationen (77). Inzwischen sehe es selbst der chinesische Staat als erforderlich an, die Macht von Ping An zu begrenzen (78).

Auch der Dienstleistungsunternehmer Stefan Vilsmeier mahnt, dass sich Deutschland besser auf das Vordringen der großen US-Tech-Giganten (Amazon, Google, Apple) vorbereiten müsse. Sie gefährdeten unsere Souveränität. Gesundheitsdaten dürften kein Spekulationsobjekt für Plattformunternehmen sein (26). Man bräuchte zwar in Deutschland mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen, aber z.B. mit der organisatorischen Trennung von Gesundheits- und anderen personenbezogenen Daten aus anderen Sektoren oder über Verfahren der „feingranularen Patienteneinwilligung“ zur Datenfreigabe (28). Dafür gebe es auch „benutzerfreundliche“ Verfahren (30).

In einem Interview warnt die Rechtwissenschaftlerin Katharina Pistor: „Die großen Plattformen streben danach, die Staaten als wichtigste Ebene der Machtausübung über Menschen abzulösen.“ (40) Deshalb könne sie sich nicht vorstellen, „bewusst Gesundheitsdaten an eine Organisation zu geben, deren Geschäftsmodell die Monetarisierung von Daten ist…“ (46) Im zweiten Interview des Buches, das ebenfalls sehr sachkundig von Andreas Meusch geführt wurde, berichtet der China-Experte Frank Sieren (seit 1994 als Journalist in Peking) über den technologischen Fortschritt in China: Der chinesische Staat habe sich bei den Plattformen „bewusst für Eigenentwicklungen entschieden“, „anders als die Europäer, die sich von FAANGs[1] ohne eigene kreative Anstrengungen einfach haben überrollen lassen.“ TikTok sei inzwischen die App, die weltweit am häufigsten runtergeladen werde. (73). Die Chinesen hätten Baidu als zensierte Google-Version, Alibaba als chinesisches Amazon und Tencent als weltgrößte Gaming-Plattform. Wir sollten „möglichst früh schauen, wie wir sinnvolle technologische Innovationen aus China mit unserem Wertesystem synchronisieren können.“ (75)

Der interessanteste Beitrag dieses Teils ist ein Planspiel des Plattform-Experten Michael Seemann. Statt jeden „Digitalisierungsschritt mit Argwohn“ zu betrachten und diffus vom „Überwachungskapitalismus“ zu raunen (51), solle man sich besser einfach mal vorstellen, wie der Gesundheitsbereich „in seiner Gesamtheit unter die Herrschaft einer einzigen Plattform“ fallen könnte (ebenda). Wie Netflix Hollywood beherrsche und Amazon den E-Commerce. – Die entsprechende „Plattformmacht“ bestehe nämlich in der Abhängigkeit der Nutzer und Anbieter von der Plattform. Dabei spricht Seemann noch nicht einmal von der Möglichkeit, bestimmte Teilnehmer von der Plattform (und im schlimmsten Falle von dem gesamten Markt) auszuschließen bzw. dem Konformitätsdruck, der durch solche Monopole ausgeübt wird. Er deutet nur an, die Plattform könne dann „grob lenken, welche Interaktionen wahrscheinlich werden und welche nicht“ (52).

Im Interaktionsnetzwerk des Gesundheitswesens sei die Arzt-Patientenbeziehung das Schlüsselelement. Die Eroberung durch eine Plattform müsse somit an diesem Punkt angreifen (53). Das könnte nach Seemann z.B. ein bereits an dieser Schnittstelle etabliertes Unternehmen wie der Terminvermittler Doctolib sein, der schon jetzt die Koordinationskosten für Besuche bei Ärzten und Patienten senke (55). Mit bestimmten Innovationen könnte diese Plattform auch konkurrierende Ärzte oder Zweitmeinungen anbieten bzw. vermitteln. Vertrauen könnte sie gewinnen (etwa wie Hotel- oder Restaurant-Vermittler), indem sie eine Bewertungs- bzw. Chat-Funktion integriert. Nach diesem Schritt könnten Funktionen zur Verkürzung der Wartezeiten, zum Zugang zu Telemedizin (Videosprechstunden) oder zu KI-Diagnosetools zugeschaltet werden. Zur Integration der elektronischen Patientenakte und dem Anschluss einer Online-Apotheke sei es dann gedanklich nicht mehr weit. „Durch ihr Prinzip der Integration von Beziehungen schaffen sie es (die Plattformen), sich als neue allumfassende Intermediäre zwischen die jeweiligen Parteien zu stellen und so alle Abhängigkeiten auf sich zu beziehen“ (57). Die Chance der externen (kommerziellen) Player dazu seien umso größer, je weniger Vertrauen in die traditionellen Akteure vorhanden sei. Das heißt: Je weniger es dem Staat und den „dabei eingebundenen Stakeholdern … gelingt, eine digitale Infrastruktur anzubieten“, die den Patientenbedürfnissen entspricht (ebenda).

 

Teil II: Daten entscheiden die Zukunft

Mit den Problemen des Datenschutzes beschäftigt sich Jörg Drechsel. Die zunehmende Digitalisierung und erst recht der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) stellen hier völlig neue Anforderungen. Bei der Verfügbarkeit immer größerer Datenbestände werde die Wahrung des Persönlichkeitsschutzes immer schwieriger. Zwei mögliche Lösungsansätze seien die Bereitstellung synthetischer Daten oder die Sicherstellung der Differential Privacy bei der Weitergabe von Ergebnissen. Letztlich bleibe aber die „optimale Balance zwischen Datenschutz und Informationsgewinn … eine gesellschaftspolitische Frage“ (87). Zwei weitere Beiträge behandeln die „Perspektiven des Einsatzes von KI in der Gesundheitsversorgung der Zukunft“ (94) und die Frage der „Cybersicherheit auf Plattformen“ (98ff.). Nur ein ganzheitliches Konzept könne hier die nötige Akzeptanz erreichen (105). Ebenfalls sehr technisch ausgerichtet erläutern die IT-Experten der TK die technologischen Voraussetzungen des Erfolgs von Plattformen (107ff.). Neben den technischen Aspekten seien organisatorische und Veränderungsfähigkeit erfolgsentscheidend (114).

Ebenfalls sehr technisch ausgerichtet ist die Darstellung der Chancen, die die Cloud für die Gesundheitsversorgung bietet. Dieser Beitrag wurde von drei Google-Mitarbeitenden beigesteuert. Die Gesundheitsbranche stehe vor der größten Transformation seit Jahrzehnten. Man komme vom „Erkennen und Kompensieren“ zum „Vorhersagen und Vorbeugen“. Dafür spiele die Cloud technologisch die entscheidende Rolle für das künftige Datenmanagement der Krankenkassen (115). Schön ist die Feststellung: „Die Mehrheit der Versicherer ist reich an Daten, gleichzeitig aber arm an Erkenntnissen“ (116). Telemedizin, das elektronische Rezept und die elektronische Patientenakte würden „ohne Cloud-Technologien Opfer der Komplexität … und hinter den Erwartungen der Patienten zurückbleiben.“ (117)

Nicht viel mehr als einen Hinweis auf das Phänomen gibt der Aufsatz von KI-Experten des KI-Forschungszentrums Karlsruhe zu den interessanten Möglichkeiten von Wearables in der Gesundheitsversorgung. Endlich sei die evidenzbasierte Medizin zum globalen Standard geworden. Allerdings sei die Gewinnung von Daten immer noch stark an Ärzte und Kliniken gebunden. Durch Wearables könnten jedoch die einzelnen Patienten bzw. Versicherten viel mehr dazu beitragen. Ein Beispiel seien die Smartwatches, die sich immer schneller verbreiten, oder auch flexible Wearables, die „in Kleidung oder Sitzbezüge“ integriert werden könnten (127). Auch die „Erfassung von Gehirnaktivitäten und psychologischer Faktoren“ trete zunehmend in den „Fokus der Wearable-Forschung“ (z.B. mittels portabler EEGs) (129f.). In der Summe lasse sich festhalten: „Im Sektor der Wearables wachsen sowohl die Möglichkeiten der Sensorik selbst als auch deren Verarbeitung rasant.“ (132)

Im letzten Beitrag des Teil II berichtet die Berliner Ärztin Ulrike Helbig über Konzeption und Wirkung des „Netzwerk Gesundheitsdaten“ (NGD) (135ff.). Sie erläutert die Schritte der Datenzusammenführung (unter Berücksichtigung des Datenschutzes) bis zur Löschung. „Das NGD ist das Modell einer Organisationsstruktur, über das Einrichtungen des Gesundheitswesens ihre personenbezogenen oder nicht personenbezogenen Daten …für gemeinsame Auswertungen passager einbringen können und über welches ‚Big-Data-Analysen‘ erfolgen können“ (136). Eine zentrale Rolle spielen dabei die „Interoperabilität“ und die Festlegung von „Standards“ (142). Zum Schluss betont Helbig: „Für den Erfolg des NGD ist eine hohe Beteiligungsrate der Akteure im Gesundheitswesen wünschenswert.“ Die „Beteiligungsschwelle“ würde durch „die Unterstützung“ beim datenschutzkonformen „Contracting“ niedrig gehalten (143).

 

Teil III: Patientenzentrierung durch Digitalisierung

Mehrere Beiträge beschäftigen sich damit, welche Rolle der Patient bei der Digitalisierung spielt bzw. welche Rolle die Digitalisierung für ihn. So machen sich zwei Fachleute für Gesundheitsförderung darüber Gedanken, wie „Digital Behavioral Design“ die Patienten bei gesundheitsgerechtem Verhalten unterstützen kann. Dieser Ansatz entspreche dem Konzept des „mündigen Patienten“. „Patientenzentrierte Ansätze lösen das ursprünglich paternalistisch geprägte Arzt-Patienten-Verhältnis zunehmend auf.“ (146) Dann geht es um den Nutzen von DiGAs im Alltag. Elemente des Behavioral Design könnten ihre Wirksamkeit deutlich steigern. Dabei geht es um Gamification, Nudging, Feedback-Loops und weitere Techniken der Selbst-Konditionierung. „Die Anwendung von Behavioral-Design-Prinzipien hat den Erfolg vieler Unternehmen mittels einer ausgefeilten und höchst individualisierten User Experience massiv beeinflusst“. Die Autoren wollen diese Verfahren auch im Gesundheitswesen einsetzen und populär machen. Hier muss man sich fragen, ob solche Beeinflussungstechniken wirklich besser (und ethisch vertretbarer) sind, als das traditionelle paternalistische Modell.

Der Gründer einer digitalen Plattform, die eine Art digitalen Sportverein bereitstellt, präsentiert sein Unternehmen, den „Urban Sports Club“. Hybride Sportangebote entsprächen dem Individualisierungsbedürfnis der Großstadtmenschen und hätten z.B. auch „im Ausbau von Firmensport ein langfristiges Potenzial“ (162). Zwei Wissenschaftlerinnen fragen nach Zugänglichkeit und Qualität digitaler Informationsquellen zu Gesundheitsthemen und kommen zu dem Schluss: „Der Wissensraum, der durch die Digitalisierung entstanden ist, hat die Wissensdistribution zwischen Arzt und Patient verändert und dabei die Bedeutung medizinischen Wissens erhöht.“ Man müsse aber auch kritisch fragen, wie die Digitalisierung medizinische Entscheidungsprozesse beeinflusse (und ggf. standardisiere) (169). Ein Autorenteam des Berliner Unternehmens „Flying Health“ resümiert einige inzwischen eingeführte digitale Lösungen: Telemedizin/Videosprechstunde, „digitale Hebamme“ („Kinderheldin“), die DiGAs und die Wearables. Ihr Fazit klingt – im Verhältnis zu der auch in diesem Band sehr häufigen Euphorie – relativ bescheiden: „Digitale Medizin ist in der Lage, Ärzten, Patienten und medizinischem Fachpersonal erhebliche Mehrwerte zu bieten, indem sie sich passgenau in Versorgungslücken zwischen den klassischen Versorgungsmodellen einfügen.“ (180)

Der Kölner Alzheimer-Forscher Frank Jessen erklärt, die Medizin von heute müsse und dürfe sich nicht mehr auf die „symptomatische Phase von Erkrankungen“ beschränken. Wenn Symptome aufträten, habe die Krankheit oft biologisch schon ein „fortgeschrittenes Stadium erreicht“. Es sei daher plausibler, Krankheiten mit biologischen Markern in einer Frühphase zu identifizieren und dann bereits zu therapieren. „Die Erkennung eines Krankheitsprozesses vor Symptombeginn und die effektive Behandlung mit Verzögerung des weiteren Krankheitsverlaufs bezeichnet der Begriff ‚disease interception‘ .“ (183) Die beiden letzten Beiträge gehen noch einmal auf die Bedeutung des Gaming und der Wearables ein. Man müsse sich im Gesundheits- und Pflegewesen die „Kulturtechniken“ des Gaming zu Nutze machen. Videospiele seien das „meistgenutzte Medium unserer Zeit“. Mehr als drei Milliarden Menschen spielen weltweit regelmäßig Videospiele (191f.). Am Beispiel eines Spielmoduls (für Kegeln, Tischtennis und Tanzen) wird das therapeutische und gesundheitsförderliche Potenzial demonstriert (193). Den Abschluss bildet noch ein Beitrag zum Stand der Technik bei den Wearables. Beispielsweise könne eine Smartwatch in Zukunft nicht nur als Fitness-Tracker dienen und den Hausnotruf ersetzen. Auch die Möglichkeiten zur Messung von Vitalfunktionen (über z.B. den Puls hinaus, etwa von Blutdruck und Blutzuckergehalt) sind in Reichweite der Entwicklung (199).

 

Teil IV: Neue Partnerschaften

Im ersten Beitrag fragt sich Jochen Sunken von der Verbraucherberatung Hamburg, wie die Patienten „mit Blick auf die (möglichen) Gesundheitsangebote großer Technologiekonzerne gestärkt werden können“ (208). Seine „Vorschläge“ laufen – oh Überraschung! – alle auf einen hinaus: „Eine Problemlösung kann … nur durch eine stärkere staatliche Regulierung erreicht werden.“ Auch die McKinsey-Autoren verblüffen die geneigte Leserschaft mit der Feststellung, das deutsche Gesundheitswesen liege bei der „Digitalisierung zurück“ (214). Bei den Patienten sei dagegen die Nachfrage nach digitalen Anwendungen durchaus vorhanden (216). Was macht man nun? Es fehle ein „Ökosystem“ zur Vernetzung der verschiedenen Akteure. Trotzdem sind die Autoren zuversichtlich: „Mit dem zügigen Aufbau eines digitalen Ökosystems könnte Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen.“ (221) So schnell geht auf sieben Druckseiten der Lauf vom Rückstand zum Vorreiter. Geradezu klassisch (und sympathisch) argumentiert der Hamburger Digitalunternehmer Seebach (223): Er plädiert leidenschaftlich dafür, dass aus Patienten „Gesundheitskunden“ werden. Die Digitalisierung werde ihre Stellung gegenüber allen Leistungsanbietern stärken. Es sei „fest damit zu rechnen, dass die Perspektive des Gesundheitskunden in den kommenden Jahren immer fester verankert werden wird.“ (229)

Der Philips-Manager Peter Vullinghs sagt voraus, „das Gesundheitswesen der Zukunft ist smart“ (230). Es komme allmählich „Bewegung in die Digitalisierung der deutschen Gesundheitsbranche“ (231). Dabei sei die Plattformökonomie ein wichtiger Fortschrittstreiber. Vor allem die Prozessabläufe seien zu digitalisieren (233). Am Beispiel von Krankenhäusern zeigt er, wie vier zentrale Ziele in der richtigen Balance angegangen werden können: „verbesserte Behandlungsergebnisse“, „verbessertes Patientenerleben“, „Kostenreduktion/Wirtschaftlichkeit“ und „verbesserte Mitarbeitererfahrung“ (235). – Die PwC-Berater beschäftigen sich dagegen mit der Frage, wie die Digitalisierung das „Sport-Business“ verändert. Für sich genommen sind diese Überlegungen durchaus interessant, aber am Schluss ist die Frage etwas aufgesetzt: „Wie die Gesundheitsbranche vom digitalen Ökosystem Sport profitieren kann“? (248) Die Antwort fällt dementsprechend dürftig aus. Die Fitness-Förderung der Kassen könnte davon profitieren und die Partnerschaften der Kassen mit den Sportvereinen (ebenda). Aha!

Der Leibniz-Wissenschaftler Reiner Brunsch fragt, was die Digitalisierung „global“ zu einer gesünderen Ernährung beitragen kann (250). Diese Frage ist sicher berechtigt, aber was hat das mit den Krankenkassen und der Plattformökonomie zu tun? Dass „Ernährungs-Apps“ „bei der Veränderung des Essverhaltens und ernährungsbedingter Gesundheitsrisikofaktoren“ wirksam sind, reicht als Klammer irgendwie nicht aus. Ein Team von Roche-Mitarbeitern zeigt dagegen, wie sich die „Gesundheitsindustrie als Partner im Innovationsprozess“ beteiligen will. Dabei geht es vor allem um die Nutzung von Daten für die Entwicklung von Therapien (Medikamente, Verfahren, DiGAs etc.) (261ff.). Die Berater von Accenture suchen in ihrem Beitrag nach neuen Regeln: Sie wollen die Versorgung konsequent vom Kunden/Patienten her (neu) konzipieren (270ff.). Accenture rechnet 2026 mit einem globalen Marktvolumen von rund 500 Mrd. USD für Digital Health. Daran hätten die europäischen Länder einen signifikanten Anteil (von 218 Mrd.) (271). „Für Patienten wäre es wünschenswert, dass möglichst viele ihrer Anforderungen über eine einzige Lösung bzw. Plattform erfüllt werden können“ (275). Gemeint sind Krankheitsinformation, Arztsuche, Therapiewahl, Medikation, Zweitmeinung, ggf. Kliniksuche etc. bis hin zur Compliance-Unterstützung. Es sei nicht mehr die Frage, ob eine „umfassende Vernetzung der nächste Schritt sei, sondern nur noch wann sie stattfindet.“ (277) Auf der Basis der Erfahrung anderer Branchen sei davon auszugehen, „dass wir schon bald die Geburtsstunde völlig neuer Plattformen sehen werden“, die genau das leisten wollen (ebenda).

Die Start-Up-Expertin Henningsen stellt fest, dass „das Bedürfnis nach digitalen Lösungen allgegenwärtig“ sei (280). Beispiele seien Telemedizin und Videosprechstunde. Ihre Frage ist, warum es „zahlreiche Beispiele von Start-ups“ gebe, „die den Status quo in Frage gestellt und substantielle Neuerungen bewirkt haben, wohingegen etablierte Unternehmen diesen Schritt eher als Follower gehen.“ (281) In der Wissenschaft werde das mit “Eigenschaften von Entrepreneurship“ erklärt, die im „Gesundheitswesen nicht unbedingt anzutreffen“ seien (ebenda). Gemeint sind „Optimismus gegenüber Neuem“, der Mut zu Trial and Error, „schnelle Teams statt komplexer Strukturen“ etc. – Im Markt der Start-ups gebe es ein starkes Wachstum (auf niedrigem Niveau) und viele Übernahmeaktivitäten in einem sehr agilen Markt (282f.). Politisches Anliegen sei, „die Player zu befähigen, selbst Lösungen zu erstellen“ (285). „Der vom Berliner Senat mit 3 Mio. Euro finanzierte Digital Health-Incubator ‚Vision Health Pioneers‘ verfolgt seit über zwei Jahren diesen Ansatz“ (ebenda). Dann plädiert Sven Jungmann, Mediziner bei FoundersLane und Start-up-Berater, „für ein intelligentes Gesundheitssystem“ (287ff.). Wer wäre nicht dafür! Es geht um die elektronische Patientenakte, die auch eine an die persönlichen Umstände angepasste Therapie ermöglichen soll. Sie sollte auch mit den Weiterbildungs- und Informationssystemen der Ärzte verknüpft werden, um schnell die bestmögliche Therapie zu finden. Die „intelligente Patientenakte“ sollte möglichst bald umgesetzt werden (293).

Einen ernstzunehmenden Ansatz für die Plattformentwicklung beschreibt Betül Susamis Unaran, Vorstandsmitglied der Schweizer Zur-Rose-Gruppe (die vor allem für ihre Online-Apotheke bekannt ist). Sie plädiert für die Unterstützung der Menschen durch eine „lückenlose und personalisierte Health Journey“. Die Zur-Rose-Gruppe arbeite dafür an der Entwicklung einer gemeinsamen Management-Plattform. Man dürfe jedoch nicht das „bestehende Gesundheitssystem einfach als Online-Version kopieren“ (295). In Europa sei die Zur-Rose-Gruppe zur Zeit der „größte Online-Anbieter für Apotheken-, Telemedizin- und Technologiedienste. Unter ihrer Dachmarke DocMorris mit mehr als 12 Millionen aktiven Kunden errichtet sie ein Gesundheitsökosystem, in dem unternehmenseigene Technologie und Assets auf einer einheitlichen Plattform mit Behandlungen und Lösungen anderer hochkarätiger Partner verbunden werden, um eine lückenlose Gesundheitsbegleitung bzw. ‚Health Journey‘ zu ermöglichen“ (297). Ziel ist das „Management jeden Aspekts der Gesundheit an einem Ort“ (298). Die ‚Health Journeys‘ sollen dabei vor allem für Menschen mit chronischen Erkrankungen entwickelt werden, z.B. für Herzgesundheit, Diabetes, Adipositas, Psoriasis etc. (302). – Der Zur-Rose-Gruppe ist das nach Kompetenz und Kapital – so weiß der Rezensent – durchaus zuzutrauen. Ob man darauf hoffen darf, oder darum fürchten muss, ist derzeit offen.

Am Schluss des Abschnitts fragt man sich allerdings, welche „Partnerschaften“ hier gemeint sind. Durch die Digitalisierung und neue Formen des Datenaustauschs verändert sich das Verhältnis der Krankenkassen zu den klassischen Leistungsanbietern und zur Industrie. Über die DiGAs kommen sie mit Start-ups in Kontakt. Sind das schon die „neuen Partnerschaften“? – Eigentlich geht es darum, dass Kassen eigene Plattformen aufbauen wollen, deren Reichweite aber derzeit in unserem System des Gesundheitsrechts (SGB V etc.) nur eingeschränkt sein dürfte. Das betrifft vor allem das zentrale Verhältnis der Kassen zu den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern bzw. den entsprechenden Beziehungsdaten. Diese Restriktionen werden dann im fünften Teil des Buches reflektiert.

 

Teil V: Perspektive: Gesundheitspartner TK

Der für Versorgung verantwortliche stellvertretende Vorstandsvorsitzende der TK, Thomas Ballast, und sein für Innovationen zuständiger Abteilungsleiter, Daniel Cardinal, stellen schließlich vor, wie sich die TK selbst eine Plattform bauen will. Dabei sollten Krankenkassen „an der digitalen Schnittstelle für eine Partnerschaft in Gesundheit und Versorgung ein Angebot schaffen, das sich durch individuelle Mehrwerte und hohe Nutzerfreundlichkeit auszeichnet und die individuellen Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden bedient.“ (309) Ein Nutzungsbeispiel könnte sein („Use-Case Versorgungspartnerschaft“), was im Anschluss an eine Reha-Maßnahme (nach Knieoperation) passiert: Empfehlung einer Videosprechstunde bei einem Orthopäden. Hinweis, dass aufgrund von Datenanalysen nach der OP Rückenprobleme drohen. Darauf verschreibt der Orthopäde eine Physiotherapie zum Muskelaufbau. Die Kassen-App schlägt dann eine geeignete Physio-Praxis in Wohnortnähe vor. Ein Teil der Therapie-Einheiten könnte digital durchlaufen werden. Nach Abschluss der Physio empfiehlt die Kasse ein Fitness-Studio und eine kasseneigene Fitness-App. Und so weiter (311f.). – Die Kasse könnte also die „Versorgungspartner“ nach Qualitäts- und Effizienzgesichtspunkten auswählen und so ein „best match“ erzeugen (313). An den zentralen Voraussetzungen für dieses Modell (Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten und Interoperabilität) werde im deutschen Gesundheitswesen gearbeitet. Aber eine „rigide Auslegung und Umsetzung der DSGVO führt zu einem deutschen Datenschutz, der (die beschriebenen) Mehrwerte aus der Digitalisierung im Gesundheitswesen bisher verhindert.“ (315)

Die Marketing-Spezialisten der TK zeigen dann, wie wichtig der Aufbau und die Pflege einer glaubwürdigen Marke dafür ist (mit Kundenbindung auf der Basis von Vertrauen). Die TK als „Gesundheitspartner ihrer Kunden“ zu positionieren, sei die Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenen Plattform (317). Dabei geht es – siehe oben – um Individualisierung und Personalisierung. In einem Modellprojekt werde diese Partnerschaft für „Studierende“ und „Herzkranke“ erprobt (324). In einem eigenen Kapitel wird darüber berichtet (352ff.). In einem weiteren Kapitel geht es um das Zentralproblem der Zusammenstellung der „Partner“ und die Regeln des Zusammenwirkens, hier die „Orchestrierung der Plattform“ (334). Dabei gilt: „Erst wenn ein Netzwerk eine kritische Größe erreicht hat, können die Netzwerkeffekte beginnen zu wirken.“ (335).

Mit der Digitalisierung sei zwar der Grundstein gelegt. Entscheidend sei aber, dass Ärzte und Krankenhäuser einbezogen werden müssten. Hier gebe es die größten Restriktionen. Behandlungsdaten der Patienten dürften derzeit von den Kassen nicht für individualisierte Empfehlungen ausgewertet werden. Die Empfehlung konkreter Vertragspartner sei nicht zulässig. Schon die Generierung von Empfehlungen müsste auf Big Data-Analysen zurückgreifen, die wegen der besonderen Zweckbindungs-Anforderungen in der GKV sehr problematisch seien (340). Hier müsste – so fordern die Autoren – der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen verbessern. – Gleich anschließend wird noch eine weitere, jetzt kasseninterne Voraussetzung angesprochen: Zum Betrieb einer Plattform – so weiß Nadja Stephani – seien neue Formen der Teamarbeit erforderlich und förderlich (Scrum-Methode, Agilität, Matrix-Organisation etc.) (343).

Im abschließenden Beitrag beschreiben Jens Baas und sein Mitarbeiter Dennis Chytrek die Rolle der „Krankenkassen in einer digitalisierten Welt“ (375, vgl. diesen Beitrag auch als politische Analyse im Observer Gesundheit, Vorabveröffentlichung vom 12.4.22). Trotz der fortschreitenden Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen sei die Gefahr nicht gebannt, dass die Tech-Giganten „mittelfristig den Gesundheitsmarkt in ähnlicher Art und Weise dominieren“, wie das schon in andere Märkten der Fall sei. (378) Es sei höchste Zeit, etwas zu tun, um „die Errungenschaften unseres Gesundheitssystems zu verteidigen“ und monopolartigen Machtstrukturen entgegenzuwirken (ebenda). Dabei seien Krankenkassen wegen ihres körperschaftlichen Status und ihrer Gemeinwohlorientierung die geeignetsten Institutionen als Träger solcher Plattformen. Leider stehe die Politik aber nicht nur der Zusammenführung der entscheidenden Daten sehr zurückhaltend gegenüber, sondern sogar der Integration der digitalen Entwicklungen selbst: Für das E-Rezept z.B. werde eine eigene App erforderlich sein, anstatt sie in die elektronische Patientenakte (ePA) zu integrieren (380). Man müsse endlich das „Prinzip der Datensparsamkeit“ aufgeben (381) und dafür sorgen, dass die verschiedenen Datenbestände des Gesundheitswesens interoperabel und miteinander kommunikationsfähig werden (382). Hier habe die Politik die enormen Chancen, die in der ePA als Basis dafür liegen, noch nicht wirklich erkannt. Um den Wettlauf mit den großen kommerziellen Plattformunternehmen nicht zu verlieren, müssten die entsprechenden Entscheidungen schnell getroffen werden (383).

 

Zusammenfassung und Bewertung

Das Buch greift ein wichtiges Thema auf, das auch Gesundheitsminister Spahn in seiner Amtszeit umgetrieben hat: Nicht nur das explizite Ausgreifen der kommerziellen Tech-Giganten auf Gesundheitsthemen ist bedrohlich. Die Wirkung von Plattformen bzw. ihre zunehmende Ausbreitung verändern Wirtschaft und Gesellschaft massiv. Daher muss sich auch die Gesundheitsbranche damit auseinandersetzten. Dabei gilt, was Michael Seemann in seinem Beitrag ausgesprochen hat: Den Patienten sei es zunächst einmal egal, woher sie digitale Hilfe bekommen. Je weniger es daher den traditionellen Akteuren und dem Staat gelingt, im Gesundheitswesen eine digitale Infrastruktur anzubieten, die den Bedürfnissen der Patienten und Versicherten entspricht, umso schneller werden wir von der kommerziellen Konkurrenz überrollt (57). Daher machen Jens Baas und alle TK-Autoren zu Recht Druck: Die Kassen (jedenfalls glaubwürdig die TK) stehen in den Startlöchern. Die Politik muss endlich die Hindernisse abräumen. Zu den notwendigen Schritten und den damit möglichen Erfolgen bietet der Band überreichlich Material.

Dabei ist die TK vorbildlich in der Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und den neuen technischen Möglichkeiten. Deshalb sind auch so viele Autoren von der TK beteiligt. Der Herausgeber hat jedoch auch viele Mitwirkende gewonnen, die – wohltuend – nicht zu den Dauerschreibern des Gesundheitswesens gehören. Das gilt für die Beiträge aus der Start-up-Szene, der Industrie und aus Beratungsunternehmen. Berlin erweist sich dabei wieder einmal als Knotenpunkt der Innovation. Auch scheinbar Exotisches (etwa zum Gaming und zur Digitalisierung des Sports) bringt ungewöhnliche Aspekte und macht nachdenklich.

Die Kürze aller Beiträge hilft zwar bei der schnellen Lektüre. Bei einigen Themen wäre aber etwas mehr Tiefgang wünschenswert gewesen. Die TK sollte ihr Publikationskonzept überdenken: Möglichst viele Autoren zu vielen Themenfacetten einzubeziehen, führt zu der Gefahr, dass am Schluss nur ein Kaleidoskop von Schlagworten herauskommt. Manchmal nervt auch das Neusprech, z.B. vom „Ökosystem“, wenn nur die Zusammenarbeit von medizinischen Leistungserbringern gemeint ist, oder von der „Health Journey“ der Patienten, als wäre die Rede vom Wochenendausflug. Aber das sind eher Kleinigkeiten.

Die Zusammenstellung einer solchen Publikation folgt eigenen Gesetzen. Das gilt auch für die Vorlieben und Bewertungen eines Rezensenten. Insoweit sei gewagt, ganz subjektiv drei „Perlen“ herauszustellen: Atemberaubend ist die Darstellung der Plattform-Pläne der Zur-Rose-Gruppe. Aufrüttelnd ist das Interview von Andreas Meusch mit dem China-Experten Frank Sieren. Und aufregend ist das gerade erwähnte und leicht dystopische Szenario von Michael Seemann. Alle drei zeigen eindringlich, um es mit Heinrich Böll zu sagen: „Es muss etwas geschehen!“

 

[1] Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google.

 

Jens Baas (Hrsg.): „Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie“, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin. ISBN 978-3-95466-690-4


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