Bei der Gesundheitspolitik: Hauptsache dagegen!

Zehn Jahre AfD und fünf davon im Bundestag

Dr. Robert Paquet

Die AfD wurde vor zehn Jahren in Oberursel gegründet (6. Februar). Im Jahr 2017 ist sie zum ersten Mal – und gleich als drittstärkste Fraktion – in den Bundestag eingezogen. Auch in der 20. Wahlperiode ist sie dort mit 78 Abgeordneten (als fünftstärkste Fraktion) vertreten. Zudem sitzt sie in 15 Landesparlamenten (außer Schleswig-Holstein). Nach über fünf Jahren im Bundestag kann eine Zwischenbilanz über ihre programmatische und parlamentarische Tätigkeit gezogen werden. Wir beschränken uns hier auf die Gesundheitspolitik und den Bundestag. Dabei wird an die Analyse von 2019 angeknüpft.[1]

Die Programmatik hat sich im Themenfeld „Gesundheit“ kaum weiterentwickelt. Sie bleibt rudimentär und fragmentarisch. Die Bundestagsfraktion dagegen hat sich in den Parlamentsbetrieb eingefunden und betreibt mit ihren Inhalten – jedenfalls auf der schriftlichen Ebene[2] – überwiegend eine fachgerechte Oppositionsarbeit. Die hat jedoch kaum Wirkung nach außen. Vielleicht kommt es der AfD – so lange sie sich als Protestpartei versteht – darauf auch gar nicht wirklich an.

 

Gesundheitspolitische Programme

Schauen wir zunächst auf die Programmatik. Im nach wie vor unveränderten Grundsatzprogramm der Partei von 2016 kommt Gesundheitspolitik nicht vor.[3] Beim 11. Bundesparteitag in Kalkar (28. bis 29. November 2020) sollte eigentlich am Programm gearbeitet werden, doch die Veranstaltung war vor allem durch den Flügelstreit in der Partei und die Corona-Pandemie geprägt. Trotzdem wurde ein „Konzept zur Sozialpolitik“ verabschiedet[4], das sich in der ersten Hälfte mit der „demografischen Krise und ihren Ursachen“ im Hinblick auf die Rentenpolitik beschäftigt. Vorgeschlagen wird eine „aktivierende Familienpolitik“ mit dem Ziel: „Eine Steigerung der Geburtenrate auf ein bestandserhaltendes Niveau von 2,1 Kindern pro Frau ist die einzige Möglichkeit zur Stabilisierung und zum Erhalt unserer Sozialsysteme, aber auch zur Bewahrung unserer Kultur und zum Fortbestand unseres Volkes.“ (S. 5) Die hohe Zahl der Abtreibungen wird kritisiert und „Zuwanderung ist keine Lösung“ (S. 7). Durch Verbesserungen im Bildungssystem und eine restriktivere Migrationspolitik sollen die Voraussetzungen für den „Erhalt der sozialen Sicherungssysteme“ verbessert werden (ebenda). Die konkreten Vorschläge zur Rente sind dann ein Sammelsurium aus Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, der „Abschaffung der Politikerpensionen“, der „Altersvorsorge für Selbständige“, einer Begünstigung von Eltern bei den Rentenbeiträgen, der Stärkung der „privaten Vorsorge“ und der Beseitigung von „Ungerechtigkeiten bei der Überleitung der Ostrenten“ etc. Wie das zusammenpasst und finanziert werden soll, wird nicht erläutert.

Als „Leitlinien zur Gesundheitspolitik“ folgen elf Punkte, bei denen schon die Rangfolge irritiert. Als erster Punkt steht die Sicherung des dualen Systems von GKV und PKV. Die Existenz der PKV sichere das Leistungsangebot der GKV gegen Kürzungen ab. Schon an zweiter Stelle soll der Medizinische Dienst neu und „unabhängig von Kostenträgern und Leistungserbringern“ organisiert werden. Um in der ambulanten Versorgung Wartezeiten abzubauen und „einer nicht medizinisch notwendigen Behandlungsausweitung entgegenzuwirken“, sollen „‘gleitende Bonussysteme‘ für Patienten mit gestaffelten Beitragsrückvergütungen“ eingeführt und die „Prüfungen durch … Medizinischen Dienst“ verstärkt werden. Bei der stationären Versorgung will man das „DRG-System durch Klinik-Individualvereinbarungen … ersetzen“ und „Privatisierungen von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen begrenzen“.

Bei der Pflegeversicherung darf die Forderung nach einem „Steuerzuschuss analog dem der GKV“ und nach einer „Entlastung der Eigenbeteiligung der betroffenen Angehörigen“ nicht fehlen. En passant befürwortet man die „Zusammenlegung von GKV und SPV, auch um Schnittstellenprobleme zu beheben“. Dem migrationspolitischen Ressentiment der Partei entspricht die Forderung „Kompetenz von ausländischem Personal für das Gesundheitswesen (zu) gewährleisten“ und nach einer grundlegenden Reform der WHO, womit „Verschlankung“ gemeint ist. Sollte das nicht gelingen, „sprechen wir uns für einen Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation aus“. Aktualisiert und abgerundet wird das Papier einerseits mit der Forderung nach verbessertem Infektionsschutz („Mit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 ist ein deutlicher Anstieg meldepflichtiger Infektionskrankheiten, auch mit resistenten Erregern, zu verzeichnen …“). Andererseits werden alle im Jahr 2020 ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kritisiert bzw. abgelehnt (Lockdowns und Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen, Impfpflicht oder Immunitätsausweise etc.).

Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021[5] finden sich die Positionen des „Konzepts zur Sozialpolitik“ zum größten Teil wörtlich wieder (Gesundheitspolitik ab Seite 134). Die Forderungen mit Corona-Bezug sind zeitgemäß an den Anfang des Gesundheitskapitels gerückt: „Schluss mit den unverhältnismäßigen Corona-Maßnahmen“ und „Impfen muss freiwillig bleiben“ etc. Die Forderung nach einer Reform des Medizinischen Dienstes ist entfallen, da die Spahn‘sche MDK-Reform ja weitgehend der AfD-Positionierung entsprach. Neu hinzugekommen ist die Forderung nach einer „Entbürokratisierung“ des „Zugang zu Heil- und Hilfsmitteln“, die Ablehnung der Freigabe von Cannabis sowie nach Maßnahmen zur Erhaltung des „Berufs des Heilpraktikers“.

Zusammenfassend muss man feststellen, dass die Partei in programmatischer Hinsicht in den vergangenen vier Jahren nicht weitergekommen ist[6]. Die Forderungen versuchen, bestimmte Gruppen in der Gesellschaft anzusprechen, deren Protestpotential man als Unterstützung der Partei vereinnahmen will. Für die verschiedenen Gruppen gibt es jedoch kein gemeinsames Band. Was sich durchzieht, ist allein das nationale bzw. ausländerkritische Motiv. Die starke Orientierung auf die Kritiker der Corona-Maßnahmen könnte sich mit der Reduktion der Infektionszahlen als Hypothek erweisen. Mit dieser Fokussierung dürfte nämlich in der nächsten Zeit kein gesundheitspolitischer Blumentopf mehr zu gewinnen sein.

 

Parlamentarische Arbeit

Betrachtet man die parlamentarische Arbeit, stehen die Anfragen im Mittelpunkt. Anfragen sind überwiegend Instrumente der Opposition. Anfragen der Regierungsfraktionen – so weit sie überhaupt vorkommen – werden oft in den zuständigen Ministerien geschrieben und dienen der positiven Selbstdarstellung der Regierung. „Große Anfragen“ dienen normalerweise zur Vorbereitung, ggf. zur Erzwingung von Plenardebatten zu einem wichtigen Thema (§ 100ff. der GO des Deutschen Bundestages). Die Beliebtheit von Großen Anfragen lässt aber seit langem nach, weil sich die Regierung für die Beantwortung der meist umfangreichen Fragenkataloge (fast) beliebig Zeit lassen darf. Zur Erzwingung von Debatten sind eigene Anträge (Entschließungen) oder die Beantragung aktueller Stunden inzwischen sehr viel wirksamer. „Kleine Anfragen“, die heute oft ziemlich viele Fragen enthalten, werden schriftlich beantwortet und nicht im Plenum behandelt (§ 104 GO). Entscheidend ist jedoch bei ihnen: Die Antwort der Regierung muss innerhalb von 14 Tagen eingegangen sein. Damit sind sie ein sehr aktuelles und effektives Instrument der Informationspolitik und potentiell der Öffentlichkeitsarbeit.

Die Opposition will mit Anfragen Informationen gewinnen, mehr aber noch: die Regierung zwingen, zu unangenehmen Themen Stellung zu beziehen und Fakten zu liefern. Häufig geht es um die Konfrontation von politischen Versprechungen und der Realität des Regierungshandelns, um Fehler, Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Widersprüche innerhalb der Regierung. Im Routinebetrieb läuft das oft auf ein Schattenboxen hinaus: Die Regierung hat gelernt, unangenehmen Fragen auszuweichen oder mit einer Fülle von banalen Infos den Sinn der Fragen aufzulösen. Aber auch eigentlich bekannte Tatsachen gewinnen manchmal im Kontext eine neue Brisanz. Wenn geschickt gefragt wird, z.B. auf der Basis von investigativen Journalisten-Recherchen, kommt es auch gelegentlich zu peinlichen Offenbarungen und Eingeständnissen. Jedenfalls aber haben Kleine Anfragen die Chance zum Agenda-Setting für die jeweilige Fachöffentlichkeit.

Da im Parlamentsalltag das regierungsseitige Abwiegeln der Anfragen dominiert, gewinnt eine andere Funktion der Anfragen eine überragende Bedeutung. Die fragende Fraktion zeigt (explizit in ihren „Vorbemerkungen“ und) in der Auswahl und Formulierung der Fragen, was ihre Position zum Thema ist und welche Interessen bzw. welche gesellschaftlichen Kräfte sie damit unterstützen möchte. Da die Antworten der Bundesregierung den Fragestellern mit einem gewissen Zeitvorsprung zur Verfügung stehen, können diese damit Journalisten bedienen und Medienarbeit betreiben. Oder auch die betroffenen Interessengruppen informieren und ihnen damit eigene Lobbyarbeit ermöglichen.

Große Anfragen gab es in der 20. Wahlperiode (WP) bisher nur sieben, vier von der CDU/CSU-Fraktion und drei von der AfD-Fraktion (Stand 1.2.2023)[7]. Die Themen der AfD waren beispielsweise „Reform des Sexualstrafrechts von 1973“ (BT-Drs. 20/3405) oder „Annäherung der Ukraine an die Nato“ (BT-Drs. 20/2891). In der 19. WP brachte es die AfD auf 19 Große Anfragen (von insgesamt 35). Die anderen Oppositionsparteien waren mit 6 (Bündnis 90/Grüne), 4 (FDP) und 6 (LINKE) dabei. Zweimal drehte es sich bei der AfD um Gesundheitsthemen[8]:

  • Schutz vor multiresistenten und nosokomialen Keimen (BT-Drs. 19/21882),
  • Umsetzungsstand der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und weitere Digitalisierung im Gesundheitsbereich (BT-Drs. 19/12560).

Kleine Anfragen gab es in der 20. WP bis Anfang Februar 2023 insgesamt 1.744. Davon 328 von der CDU/CSU (19 %), 834 von der AfD (48 %) und 582 von der LINKEN (33 %)[9]. In der 19. WP war die AfD für 3.479 Kleine Anfragen verantwortlich (30% von insgesamt 11.677). Auch die FDP war fleißig mit 3.747 Kleinen Anfragen (32 %). Die LINKE kam auf 2.803 (24 %) und Bündnis 90/Grüne kamen auf 1.645 (14 %)[10]. Ausweislich der Parlamentsstatistik ist die AfD auch bei den Gesetzesinitiativen äußerst regsam: Auf ihr Konto gingen in der 20. WP 26, auf die LINKE 7 und die SPD/Bündnis 90/Grüne/FDP 44 (von insgesamt 94, alles bis Anfang Februar 2023)[11]. In der 19. WP war es ähnlich: Die AfD brachte es auf 77 (von insgesamt 317), die übrigen Oppositionsparteien auf 137. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gesetzesinitiativen der Regierungsfraktionen (z.T. mit Beteiligung der Oppositionsparteien (vor allem i.S. Infektionsschutz), aber stets ohne die AfD) i.a. dazu dienen, den parlamentarischen Weg zu verkürzen, also die vorherige Befassung des Bundesrates zu umgehen.[12]

Ein entsprechendes Bild zeigt sich bei den Anträgen und Entschließungsanträgen. In der 20. WP verantwortet die AfD bisher 184 „selbständige Anträge“ (von insgesamt 485 bis Anfang Februar). Bei der CDU/CSU sind es 149 und bei der LINKEN 110. Auf die AfD kommen 33 Entschließungsanträge (von insgesamt 101), auf die CDU/CSU 50 und auf die LINKE 17[13]. In der 19. WP waren die Proportionen ähnlich: Die AfD kommt auf 643 „selbständige Anträge“ (23 % von insgesamt 2755). Die FDP hatte 804 (29 %), die LINKE und Bündnis 90/Grüne jeweils 569 (jeweils knapp 21 %). Entschließungsanträge gab es von der AfD 69 (von insgesamt 448), von der FDP 120, von der LINKEN 124 und von Bündnis 90/Grüne 128.[14]

 

Kleine Anfragen der AfD in der 20. Wahlperiode

Um das inhaltliche Spektrum zu verdeutlichen, sollen hier exemplarisch die Kleinen Anfragen der AfD in der 20. WP betrachtet werden. Nach einer Zusammenstellung des „Dokumentations- und Informationssystems für Parlamentsmaterialien (DIP)“ nach den Suchkriterien Kleine Anfragen/AfD-Fraktion/Sachgebiet „Gesundheit“ ergeben sich 74 „Vorgänge“.[15] Davon sind 69 dem Bereich des BMG zuzuordnen (fünf sind eigentlich „fachfremd“, z.B. zum „Lärmschutz an Bahnstrecken“ (auch Gesundheitsschutz) oder zu Fragen der gesunden Ernährung). Davon beschäftigen sich 42 mit Corona-Themen (61 %). Eine Auswahl:

  • Evaluierung klinischer Studien als Grundlage der Zulassung von COVID-19-Impfstoffen – 04.01.2023, BT-Drs. 20/5074
  • Konzeption und Kosten der COVID-19-Impfkampagne „Ich schütze mich“ – 24.11.2022, BT-Drs. 20/4632,
  • Beschaffung von Impfstoffen gegen COVID-19 – Vertragspartner, Leistungsanforderungen, Rücktritts- bzw. Kündigungsklauseln – 28.11.2022, BT-Drs. 20/4657
  • Kosten für den Bezug von Paxlovid durch die Bundesregierung – 20.09.2022, BT-Drs. 20/3456
  • Long-COVID – aktuelle Situation in Deutschland – 08.08.2022, BT-Drs. 20/3047
  • Mutmaßlicher Abrechnungsbetrug in Millionenhöhe bei Corona-Bürgertests – 23.05.2022, BT-Drs. 20/1946
  • Unvollständige Erfassung von Nebenwirkungen der Impfung gegen das COVID-19-Virus – 25.03.2022, BT-Drs. 20/1206
  • Drohender Personalmangel durch Einführung der Impfpflicht im Gesundheitswesen – 22.03.2022, BT-Drs. 20/1119
  • Prävalenz und Transmission bei COVID-19-Geimpften – 11.02.2022, BT-Drs. 20/640
  • Validität der Angaben zur COVID-19-Hospitalisierungsinzidenz – 11.01.2022, BT-Drs. 20/388
  • Mangel an Intensivbetten und fehlendes Pflegepersonal – 10.01.2022, BT-Drs. 20/377
  • Die Corona-Warn-App des Bundes – Erfolg, Nutzung, Perspektiven – 08.12.2021, BT-Drs. 20/224
  • Bestandteile und Verunreinigungen von in der EU zugelassenen COVID-19-Impfstoffen – 16.11.2021, BT-Drs. 20/73.

Besonders umschmeichelt werden Gruppen, bei denen die AfD latente Sympathien vermutet. So befassen sich drei Kleine Anfragen speziell mit der Bundeswehr (Auswirkungen der COVID-19-Schutzimpfung in der Bundeswehr – 25.07.2022, BT-Drs 20/2885, Psychische Erkrankungen von Bundeswehrsoldaten – 14.03.2022, BT-Drs. 20/980 und Aufnahme der COVID-19-Impfung in die Liste duldungspflichtiger Impfungen für Soldaten – 17.12.2021, BT-Drs. 20/295). Daneben kommen die zahlreichen Problemthemen im Gesundheitswesen zur Sprache, die zum großen Teil auch die Regierung und die anderen Oppositionsparteien bewegen. Eine Auswahl:

  • Auswirkungen der Energiekrise auf Gesundheitseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen – 12.09.2022, BT-Drs. 20/3376
  • Förderung von Gender Studies unter dem Begriff „Gendergesundheit“ – 28.07.2022, BT-Drs. 20/2923
  • Ausbruch der Affenpocken – 25.07.2022, BT-Drs. 20/2887
  • Auswirkungen hochverarbeiteter vegetarischer Lebensmittel auf die menschliche Gesundheit – 27.06.2022, BT-Drs. 20/2476
  • Verschobene Einführung des elektronischen Rezepts im Rahmen der Digitalisierung des Gesundheitswesens – 25.05.2022, BT-Drs. 20/1972
  • Gesundheitsversorgung von Kriegsflüchtlingen und Kriegsopfern aus der Ukraine sowie deren Kontaktpersonen in Deutschland – 05.04.2022, BT-Drs. 20/1296
  • Beitragsrückstände in der Sozialversicherung – 17.02.2022, BT-Drs. 20/754
  • Genderpolitik und Divers-Geschlechtlichkeit in Deutschland 2021 – 25.01.2022, BT-Drs. 20/484
  • Mögliche Versorgungsengpässe bei Nischen- und Bestandsprodukten in der deutschen Medizintechnik – 20.01.2022, BT-Drs. 20/451.

Angesichts der bekannten Positionen der AfD kann man sich die Tendenz der Fragen jeweils unschwer vorstellen: Kritik am Impfen generell, an der Informationspolitik der Bundesregierung, an der europäischen Zulassung von Impfstoffen und an der Genderpolitik etc.

 

Funktionalisierung des Gesundheitsausschusses nicht gelungen

Die AfD ist – so oder so – das Sammelbecken für die Opposition zur Corona-Politik der (alten und der neuen) Bundesregierung. Dabei ist für den 20. Bundestag eine Besonderheit anzusprechen: Der AfD-Fraktion ist es nicht gelungen, mit dem Vorsitz des Gesundheitsausschusses eine herausgehobene Sprecherrolle zu diesem Themenfeld zu erobern. Beim Beginn der 20. Wahlperiode wurden die Ausschussvorsitze unter den Fraktionen im sogenannten Zugriffsverfahren verteilt. Die AfD-Fraktion griff im Rahmen dieses Verfahrens u.a. auf den Vorsitz der Ausschüsse für Inneres und Heimat, Gesundheit sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu.

„In den konstituierenden Sitzungen dieser Ausschüsse am 15. Dezember 2021 schlug die AfD-Fraktion für den Vorsitz des Ausschusses für Inneres und Heimat den Abgeordneten Martin Hess, für den Gesundheitsausschuss den Abgeordneten Jörg Schneider und für den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Abgeordneten Dietmar Friedhoff vor. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen wurden daraufhin in den drei Ausschüssen geheime Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durchgeführt, bei denen keiner der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten die erforderliche Mehrheit erhielt. Auch in den Sitzungen der Ausschüsse am 12. Januar 2022 verfehlten die AfD-Kandidaten bei erneuten geheimen Wahlen die erforderlichen Mehrheiten.“[16]

„Das Bundesverfassungsgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung, den die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag beantragt hatte, abgelehnt (Aktenzeichen: 2 BvE 10/21 zum Beschluss vom 25. Mai 2022). Wie das Gericht am Donnerstag, 23. Juni 2022, bekanntgab, war der Antrag darauf gerichtet, die von der Fraktion benannten Kandidaten vorläufig als Vorsitzende von drei Bundestagsausschüssen einzusetzen, bis Karlsruhe über den Antrag in der Hauptsache entschieden hat.“[17] Die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages umfasse auch das Verfahren zur Bestimmung der Ausschussvorsitze, so das Gericht bei seiner Ablehnung der einstweiligen Anordnung. Im Ergebnis wird der Ausschuss bis auf weiteres von seiner stellvertretenden Vorsitzenden, der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, geleitet.

 

Zusammenfassung und Bewertung

Insgesamt muss man feststellen, dass die AfD-Fraktion durchaus fleißig arbeitet und im Großen und Ganzen fachkundig fragt. Dementsprechend sind die Antworten des BMG gelegentlich interessant, werden aber von den etablierten Medien fast durchweg ignoriert. Nicht immer zu recht. Dahinter stehen nicht unbedingt die Abgeordneten der Fraktion. Aber die Mitarbeiter der MdBs und der Fraktion haben sich die verschiedenen Formen der Parlamentsarbeit zu eigen gemacht und nutzen sie zunehmend professionell. Die Initiativen versuchen, populistisches Kapital aus der Themenwahl zu schlagen und Ressentiments zu verstärken. Potentielle Sympathisantengruppen werden angesprochen, und die bekannten Klientele der Partei werden bedient (Kritiker der Migrations- und Asylpolitik, der Haltung der Regierung zum Ukraine-Krieg, der Pandemie-Politik etc.). Dieses Verfahren betreiben jedoch mehr oder weniger alle Parteien im Bundestag (mit jeweils anderen Inhalten).

Beim ersten Einzug in den Bundestag war offen, ob sich die AfD-Fraktion am parlamentarischen Handwerk beteiligen oder das Parlament nur als Bühne für populistische Auftritte nutzen würde. Die Alternative war: Parlamentsorientierung oder Bewegungsorientierung. Die bis dahin beobachtbaren Landtagsfraktionen der Partei ließen Vermutungen in beide Richtungen zu.[18] Diese Frage ist im Sinne der Verknüpfung beider Orientierungen inzwischen entschieden[19]: Die AfD ist – jedenfalls für die Gesundheitspolitik – schon in der vergangenen Wahlperiode im „Betrieb“ des Bundestages „angekommen“, jedoch von den anderen Parteien weitestgehend ausgegrenzt und von den Medien geschnitten. Dass das so bleibt, ist allerdings keineswegs garantiert. Es scheint oft nur ein kleiner Sprung zu sein, bis das von der AfD im Bundestag erzeugt Material („Content“) von Journalisten häufiger aufgegriffen wird.

Dass es der AfD nicht um praktikable Politikentwürfe bzw. Lösungsvorschläge geht, muss dem nicht entgegenstehen. Auch in der Wählerschaft gibt es inzwischen eine breite Gruppe, der es vor allem darum geht, die aktuelle Politik abzulehnen. Diese Gruppe – so heterogen sie auch ist – will die AfD binden. Sie dürfe daher nicht nur als extremistische Partei begriffen werden, „sondern ist Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche und Krisensituationen“, erklärt der AfD-Experte und Kasseler Politikprofessor Wolfgang Schroeder[20]. Als Protestpartei bleibt sie ohne ernsthafte Regierungsabsicht die Partei der Negation. Obwohl es – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern – auch andere Äußerungen gibt. Noch ist ihre allgemeine Maxime aber: Hauptsache dagegen!

 

[1] Robert Paquet: „Gesundheitspolitik der AfD – zusammengesuchtes Allerlei“, in Observer Gesundheit, 15.03.2019: https://observer-gesundheit.de/gesundheitspolitik-der-afd-zusammengesuchtes-allerlei/

[2] Die Reden zur Gesundheitspolitik sind oft unbeholfen bis schwer erträglich.

[3] https://www.afd.de/grundsatzprogramm/

[4] https://www.afd.de/sozialkonzept/

[5] https://www.afd.de/wp-content/uploads/2021/06/20210611_AfD_Programm_2021.pdf

[6] Vgl. Robert Paquet: „Gesundheitspolitik der AfD – zusammengesuchtes Allerlei“, in Observer Gesundheit, 15.03.2019.

[7] Statistik der Parlamentarischen Kontrolltätigkeit: https://www.bundestag.de/resource/blob/870010/2ac73d8d350f4449ac8e4d0af461ee54/kontroll_taetigkeiten_wp20-data.pdf

[8] Datenhandbuch des Deutschen Bundestages, Seite 44ff.
https://www.bundestag.de/resource/blob/196220/5599048c131fed3fc52b316aad5518fb/Kapitel_11_01_Anfragen-data.pdf

[9]https://www.bundestag.de/resource/blob/870010/135b1e429601674c33d04d7bc83256ca/kontroll_taetigkeiten_wp20-data.pdf

[10]https://www.bundestag.de/resource/blob/533192/51c1d687530b03ed04c08416a6ef50ba/kontroll_taetigkeiten_wp19-data.pdf

[11]https://www.bundestag.de/resource/blob/870012/d7c0eeb9ef2668ba3e345c91dbb32712/initiativen_wp20-data.pdf

[12]https://www.bundestag.de/resource/blob/533190/df69aafb330cc1e3b38c3dd9c999914a/initiativen_wp19-data.pdf

[13]https://www.bundestag.de/resource/blob/870012/d7c0eeb9ef2668ba3e345c91dbb32712/initiativen_wp20-data.pdf

[14]https://www.bundestag.de/resource/blob/533190/df69aafb330cc1e3b38c3dd9c999914a/initiativen_wp19-data.pdf

[15] file:///C:/Users/paquet/Documents/Dip-Export.pdf

[16] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw25-bvg-entscheidung-900080

[17] ebenda.

[18] Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, Alexander Berzel und Christian Neusser: „Bewegung? Partei? In den Landtagen agiert die AfD uneinheitlich“, in WZB Mitteilungen Heft 156 Juni 2017. S. 10ff.

[19] Fedor Ruhose: „Rechtspopulismus in der Opposition – Die AfD-Fraktion im Bundestag (2017–2021)“, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2023 (im Erscheinen).

[20] WELT Online News vom 02.02.2023: „Die AfD steht so gut da wie lange nicht“. https://www.welt.de/politik/deutschland/article243560015/Jahrestag-der-AfD-Politikwissenschaftler-sieht-keine-Regierungsperspektive.html

 

 

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