Zwei Jahre „Cannabis-Gesetz“ – auf dem Weg zum lernenden System

Dr. Florian Eckert, Director Public Affairs, fischerAppelt relations, Berlin

Das war ein ungewöhnlich klares Votum: In seltener Einigkeit verabschiedete der Deutsche Bundestag am 19. Januar 2017 einstimmig das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Drucksache 18/8965). Solch überfraktioneller Konsens ist in gesundheitspolitischen Debatten eher ungewöhnlich – dies war lediglich fünf Jahre zuvor bei der Abschaffung der Praxisgebühr der Fall gewesen. Seit dem 10. März 2017 ist das Gesetz nun in Kraft. Unter bestimmten Voraussetzungen dürfen Haus- und Fachärzte diese Therapieansätze verordnen. Jedoch: Einen Automatismus auf Erstattung sieht das Gesetz nicht vor.

Ärzte müssen sich die Behandlung ihrer Patienten mit Cannabisblüten oder -extrakten zunächst von ihren gesetzlichen Krankenkassen genehmigen lassen. Bis dahin waren Antragsstellungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf eine Therapie nur auf Basis der Selbstzahlung möglich. „Triebfeder für das Gesetz war es aus Sicht der Bundesregierung zu verhindern, dass weitere Genehmigungen für den Eigenanbau erteilt werden“, sagt Burkard Blienert, der das Gesetzgebungsverfahren für die SPD-Fraktion verantwortet hatte. „Uns war auch wichtig, dass viele Menschen unkompliziert die Behandlungsmöglichkeiten mit Cannabis bekommen.“

 

Änderungen im Zuge des GSAV in der Diskussion

Zwei Jahre Erfahrungen mit dem Gesetz sind Anlass genug für eine Bestandsaufnahme und einen Ausblick. Denn: Mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) sind gegenwärtig zugleich erste Änderungen in der Diskussion.

Bei der Verabschiedung der gesetzlichen Regelungen zu cannabishaltigen Arzneimitteln (§31 Abs. 6 SGB V) hatte der damals amtierende Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) in der Debatte betont, dass zur Versorgung schwerstkranker Menschen auch gehöre, dass die Kosten für Cannabis als Medizin von der Krankenkasse übernommen werden sollten. Auch, wenn eine Mengenausweitung nicht im Interesse der Kostenträger ist, mussten sich die Kassen im ersten Jahr einer höheren Beantragung gegenübersehen, als dies zunächst vermutet worden war. Auch im Bundesgesundheitsministerium wurde diese Entwicklung so nicht antizipiert und führte intern zu Kritik. Lag die Zahl der Beantragungen vor der Verabschiedung des Gesetzes bei 1.000, verzwanzigfachte sie sich von März bis Dezember 2017. In Teilen verständlich, da es nun eine Kassenleistung war und auch Patienten zur Verfügung stand, die bislang als austherapiert galten und denen sich nun eine neue Therapieoption bot.

Letztlich gingen so bei den gesetzlichen Krankenkassen in diesem Zeitraum rund 20.000 Anträge ein – jedoch fallen hierunter auch Zweitanträge nach einer ersten Ablehnung. Bei der Techniker Krankenkasse waren es beispielsweise alleine 2.600 Anträge, ihr Anteil ist im Folgejahr auf 2.200 zurückgegangen. Die Zahl der Patienten ist also angestiegen. Obwohl Patienten, bei denen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Cannabis-Therapie vorliegen, eine entsprechende Versorgung erhalten, scheint der Eindruck zu bestehen, dass Cannabis im Versorgungsalltag noch nicht angekommen ist.

 

Keine Kostenexplosion durch Cannabis im GKV-System

„Zu Beginn sind die Antragszahlen sehr schnell angestiegen. Grundsätzlich finden wir es dennoch gut, dass die Therapie zumindest bestimmten Patienten zur Verfügung steht“, sagt Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse.  Mittlerweile haben sich aus Sicht der Techniker Krankenkasse die Antragszahlen eingependelt, wobei mit über 60 Prozent mehr als jeder zweite Antrag positiv beschieden wird. Ablehnungsgründe sind in der Regel bislang primär Therapiealternativen für Indikationen der Antragssteller, die besser geeignet sind. Weitere Ablehnungsgründe sind das Fehlen einer schwerwiegenden Erkrankung oder die mangelnde Aussicht auf einen Therapieerfolg. Einen Grund sieht Sebastian Schütze, Leiter der Industriearbeitsgruppe Cannabis beim BPI, in der regional unterschiedlichen Genehmigungspraxis des Medizinischen Diensts der Krankenkassen. Der Verband fordert daher, dass es hier künftig Entscheidungskriterien gibt, die den Ermessensspielraum auf null reduzieren.

Die genehmigten Behandlungen würden zugleich bislang nicht zu einer drastischen Kostensteigerung führen. „Der GKV Umsatz nach Apothekenverkaufspreis belief sich für die relevanten Cannabisprodukte im Jahr 2018 auf lediglich 76 Millionen €. Dies entspricht ungefähr einem Anteil von 0,03 % an den GKV Gesamtausgaben oder 0,2 % an den GKV Arzneimittelausgaben“, sagt Schütze. „Die Kosten für die Therapie chronischer Schmerzen belaufen sich im gleichen Zeitraum nach Schätzungen der deutschen Schmerzgesellschaft auf circa 38 Milliarden € jährlich“, sagt Schütze, der als Mitglied der BPI-Geschäftsführung auch Politik verantwortet.

Diese Tendenz greift auch die Barmer in ihrem „Gesundheitswesen aktuell 2018“ auf. 2017 hätte die Krankenkasse für Cannabis 4.448.600 Euro erstattet – der Betrag sei „im Vergleich zu anderen Arzneimittelkosten eher gering. Alleine auf Opioide entfielen 2017 Kosten in Höhe von über 174 Millionen Euro.“ Jedoch kritisiert Dr. Ursula Marschall, leitende Medizinerin der Barmer, dass Blüten „unverhältnismäßig teuer und in der Praxis auch kaum dosierbar“ seien. „Blüten sollten nicht zum Einsatz kommen, zumal es alternative Cannabis-Präparate gibt“, präzisiert sie ihre Position.

Der arzneimittelpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Hennrich, sagt in diesem Zusammenhang rückblickend, dass es „bei Blüten einer höheren Rechtfertigung bedurft hatte, diese auch aufzunehmen. Sie wurden kritischer betrachtet als Therapieoptionen auf Basis von Cannabisextrakten. Eine Präferenz gibt es aber von Seiten der Politik hier nicht.“

 

Verbesserung der Evidenzlage angestrebt

In der Diskussion steht nach zwei Jahren so auch primär die Evidenzlage bei Cannabis. Für Thomas Ballast ist sie „sehr dünn. Die Studienlage zur Wirksamkeit von Cannabis muss daher dringend verbessert werden.“ Dies sei auch der Bundesregierung bewusst gewesen, sagt Michael Hennrich. Zunächst habe man sie aber bewusst ein „Stück weit zurückgestellt und sich hier am medical need orientiert“.

Der ehemalige SPD-Abgeordnete Blienert bestätigt Hennrich: „Wir wussten ja, dass es kaum standardisierte zugelassene Produkte gab. Wir wollten jedoch die ganze Breite der Anwendungsmöglichkeiten in der Versorgung haben. Deshalb hatte für uns zunächst auch das Betäubungsmittelgesetz Vorrang, wir wollten die Neuregelung zu den Cannabisextrakten und Blüten und sind davon ausgegangen, dass in Anbetracht der Evidenzlage ohnehin zunächst keine Zulassungen erteilt werden würden.“ Ursprünglich war in der Diskussion auch, begleitende Forschung zu finanzieren. Die Überlegungen sahen zunächst vor, dass nur diejenigen Patienten Cannabisprodukte in der Therapie erstattet bekommen, die sich bereit erklären würden, an der Forschung teilzunehmen, erinnert sich Blienert. Dies habe man im Prozess dann aber fallen gelassen.

Um perspektivisch dennoch Erkenntnisse zu gewinnen hat der Gesetzgeber eine nichtinterventionelle Begleiterhebung bis zum 31. März 2022 angeordnet. Verschreibende Ärzte übermitteln dabei dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) anonymisiert Behandlungsdaten zur Auswertung.

Vor dem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich Ergebnisse der Begleiterhebung auf die politische Diskussion auswirken. „Je höher der Evidenzlevel ist, desto besser ist auch die Grundlage für politische Entscheidungen“, sagt Hennrich. „Im Kern sind wir ja bei der Erstattung von Cannabisprodukten ein Stück weit abgewichen von dem geltenden Grundsatz, wonach nur das erstattet wird, was einen nachgewiesenen Nutzen hat.“ Man stehe hier aber insgesamt noch am Anfang, was Therapie, Möglichkeiten und kritische Diskussion beträfe. Deshalb vergleicht Hennrich das Cannabis-Gesetz selbst mit dem lernenden System des AMNOGs.

Nach zwei Jahren würde man daher jetzt auch über das GSAV erste Anpassungen vornehmen. In der Diskussion sei, beim Wechsel von einem Anbieter zu einem anderen künftig auf eine erneute Genehmigung zu verzichten und so das Switchen zu entbürokratisieren. „Ich hoffe auch“, sagt Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der KV Niedersachsen, „dass die Begleitevaluation in fünf Jahren zur Festlegung der Indikationen führt. Für die müssten wir dann die Therapie nicht mehr beantragen. Das würde die Verordnung deutlich erleichtern.“ Auch, wenn die Union die Forderung der Grünen nach einem Ende des generellen Genehmigungsvorbehalts nicht aufgreifen möchte, kann man sich hier durchaus vorstellen, diesem Wunsch zu entsprechen und „über Indikationen nachzudenken, wo ein Genehmigungsvorbehalt seitens der Krankenkassen entfallen könnte“, sagt Hennrich.

 

Konkretisierung von Indikationen gefordert

Eine Konkretisierung bei den Indikationen befürwortet auch die Techniker Krankenkasse. Bislang sieht §31 Abs. 6 SGB V vor, dass „Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung“ Anspruch auf Versorgung haben. Welche Erkrankungen genau darunterfallen, nennt der Gesetzgeber nicht.  „Wir wünschen uns Klarheit, bei welchen Erkrankungen eine Erstattung möglich ist. Das würde das Verfahren erleichtern und Enttäuschungen im Vorfeld reduzieren, wenn geregelt ist, wer hier primär einen Anspruch hat“, sagt Ballast. Aus Sicht von Kostenträgern wie Leistungserbringer könnte dies insbesondere bei der Indikation Schmerz der Fall sein – so wird beispielsweise finaler Tumorschmerz in der Regel immer genehmigt. Auch Spasmen bei Multipler Sklerose oder Appetitsteigerung bei HIV/AIDS zählen zu jenen Indikationen, die für Evidenzen erkennbar sind.

„Letztlich arbeiten wir uns in der Praxis ja noch an die Indikationsgebiete heran, für die Cannabis geeignet sein kann“, sagt Konrad Cimander, Allgemeinmediziner aus Hannover. „So gesehen ist es eine empirische Therapie.“ Als praktizierender Arzt würde er einen Indikationskatalog daher ebenfalls begrüßen. „Der Prozess der Beantragung dauert mit dem Patientengespräch jeweils eine halbe bis eine Stunde, die kaum vergütet wird. Für Ärzte würde es so gesehen eine Entlastung bedeuten.“

Auch wenn es in Regierungskreisen Verständnis gibt, das Verfahren über einen Indikationenkatalog zu erleichtern, dürfte der Weg dahin noch länger sein. „Krankheitsbilder zu benennen, für die eine Therapie mit Cannabis in Frage kommt, kann nicht Aufgabe der Politik sein. Hier ist die Selbstverwaltung gefragt“, sagt Erwin Rüddel (CDU), Vorsitzender des Gesundheitsausschusses. „Die Gefahr lobbyistischer Einflussnahme ist zu groß, wenn politisch definiert werden sollte, welche Therapien für welche Krankheitsbilder von der gesetzlichen Krankenkasse finanziert werden. Den Leistungskatalog sollte nicht die Politik bestimmen, das ist Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses.“

Neben einer Konkretisierung von Indikationen ist der Apothekenzuschlag von bis zu 100 Prozent für die als Rezepturarzneimittel klassifizierten Cannabispräparate immer wieder in der Diskussion. Die Krankenkassen bemängeln hier das Nutzenverhältnis zwischen Aufschlag und Aufwand seitens der Apotheker. In den Regierungsfraktionen wird dies gegenwärtig auch diskutiert, jedoch geht Michael Hennrich davon aus, dass dies zunächst durch die Selbstverwaltung zwischen DAV und GKV-SV geklärt werden könnte. „Allerdings wollen wir uns das schon auch genauer ansehen.“ Vor dem Hintergrund dürfte neben der Entbürokratisierung beim Switchen auch diese Diskussion nochmals im Zuge der GSAV-Gesetzgebung aufgegriffen werden. Insofern ist Hennrichs Bild des lernenden Systems berechtigt.

Und auch 2022, mit dem Ende der Begleiterhebungen, wird medizinisches Cannabis vor dem Hintergrund der neuen Evidenzlage sicherlich erneut auf die Agenda der Gesundheitspolitik kommen. Dass die Abgeordneten dann nochmals einstimmig abstimmen, scheint indes unwahrscheinlich. Nachdem die prinzipielle Versorgungsmöglichkeit gegeben ist, wird in der Weiterentwicklung schwerlich Konsens herzustellen sein – zumal nun auch zwei Fraktionen mehr im Deutschen Bundestag vertreten sind, als noch im März 2017.

 

Literatur

 

Der Text basiert auf persönlichen Hintergrundgesprächen mit den genannten Personen.


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