Patientenorientierung im Gesundheitswesen – wann kommt der große Durchbruch?

Prof. Dr. Eva Susanne Dietrich, Institut für evidenzbasierte Positionierung im Gesundheitswesen, Bonn

Das Thema „Patientenorientierung“ besitzt – zumindest nach Google – eine vergleichbare Popularität, wie das Schlagwort „AMNOG“. Doch schlägt sich dies auch in einer ähnlichen regulatorischen Dichte nieder, wie wir sie im Bereich der Nutzenbewertungen sehen?

Patientenorientierung bezeichnet die Ausrichtung von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen des Systems der gesundheitlichen Versorgung auf die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche des individuellen Patienten. Sie äußert sich u.a. darin, dass der Patient im Gesundheitssystem mit seinen Interessen, Bedürfnissen und Wünschen wahrgenommen und respektiert wird, ihm mit Empathie und Takt begegnet wird, er die Leistungen erhält, die nutzbringend und von ihm erwünscht sind, und er über verbriefte Rechte und Pflichten verfügt.[1]

 

Gesetzgeberische Initiativen

Im Koalitionsvertrag findet sich die anspruchsvolle Aussage, dass Patientenorientierung das Leitbild der Regierungsparteien für das Gesundheitswesen sei. Das weckt Erwartungen. Änderungen der Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung müssen nicht explizit oder primär auf eine Verbesserung der Patientenorientierung ausgelegt sein, können sie aber dennoch unterstützen. Umgekehrt führen Maßnahmen, auf denen der Stempel „Patientenorientierung“ steht, nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung derselben. Vielmehr sind sie ggf. durch andere Ziele motiviert, wie eine Kostensenkung oder Gewinnoptimierung. Sowohl mittelbare als auch unmittelbare Maßnahmen sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Eine erste gesetzgeberische Maßnahme, die jedoch noch in der vorigen Legislaturperiode eingeleitet wurde, ist das Arztinformationssystem. Die geplante computergestützte Information des Arztes, die den Nutzen neuer Arzneimittel für unterschiedliche Patientengruppen darstellt, könnte in eine differenziertere Arzneimitteltherapie münden und somit dem Patienten zugutekommen. Eine optimierte Arzneimitteltherapie ist auch Teil des Arbeitsentwurfs des Gesundheitsministeriums zu einem Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz.

Der dort konzipierte Modellstudiengang sieht vor, dass Psychotherapeuten auch pharmakologisch ausgebildet werden und künftig Psychopharmaka verordnen können. In der Folge müssten Patienten nicht eigens zwecks Rezepts ihren Hausarzt aufsuchen, der oft nur am Rande in die Therapie involviert ist. Darüber hinaus wird im Entwurf explizit eine stärkere Patientenorientierung angesprochen. Diese bezieht sich zum einen auf die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. Zum anderen wird auf eine Berücksichtigung der Biographie des Patienten hingewiesen sowie dessen Selbständigkeit und Recht auf Selbstbestimmung betont.

Die niedergelassenen Ärzte befürchten eine Verdrängung aus der psychotherapeutischen Versorgung und lehnten den Gesetzentwurf inklusive Modellstudiengang mit Beschluss des diesjährigen Ärztetags ab.[2]

Ein weiteres Thema mit Patientenrelevanz sind die teils langen Wartezeiten, die der Gesundheitsminister mit einem Sofortprogramm angehen möchte, wie der parlamentarische Staatssekretär im April kundtat.[3] Ein wichtiger Baustein hierbei ist die Erhöhung der Sprechstundenzeit für GKV-Patienten bei in Vollzeit tätigen Ärzten von 20 auf 25 Stunden pro Woche, die ebenfalls durch den 121. Deutschen Ärztetag explizit abgelehnt wurde. Akzeptiert wurde jedoch die Fernbehandlung, nach der Ärzte künftig „im Einzelfall“ auch bei ihnen noch unbekannten Patienten eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien vornehmen dürfen. Dies erspart dem Patienten unter anderem Wege- und Wartezeiten und kann Besuche in der Notaufnahme reduzieren.

Eine weitere Gesetzesänderung mit jedoch nur geringen Kollateraleffekten auf die Patientenorientierung ist die Neuregelung der Schweigepflicht. Sie wurde letztes Jahr auch auf nicht-medizinisches Personal ausgeweitet, womit klargestellt wird, dass auch die kaufmännische Kraft nicht mit Dritten über einzelne Patienten und deren Erkrankungen plaudern darf. Und damit ist die – überschaubare – Liste gesetzlicher Maßnahmen des letzten Jahres – ob beschlossen oder geplant – auch bereits komplett.

 

Absichtserklärungen

An politischen Absichtserklärungen mangelt es jedoch nicht. So beschlossen die Vertreter der obersten Landesgesundheitsbehörden im März 2018 über ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die jedoch noch operationalisiert und konkretisiert werden müssen. Dazu gehören die systematische Berücksichtigung der Kommunikationskompetenz und einer wertschätzenden Beziehungsgestaltung in den Curricula der Gesundheitsberufe oder auch eine bessere Kommunikation an den Schnittstellen ambulanter, stationärer, rehabilitativer und pflegerischer Versorgung sowie Transparenz über die Versorgungsqualität im ambulanten Bereich in Analogie zum Krankenhaus. Ein weiteres Ansinnen ist die Aushändigung von schriftlichen Informationen zur Krankheit und Behandlung an den Patienten oder Auslage von neutralen und evidenzbasierten Informationen zu individuellen Gesundheitsleistungen in den Praxen.[4]

Die Gesundheitsministerkonferenz hat – wie erwartet – über diese Maßnahmen letzte Woche beschlossen, zumal sich der Vorsitzende der GMK, Karl-Josef Laumann (NRW), bereits mehrfach zur Patientenorientierung als zentraler Aufgabe im Gesundheitswesen bekannt hatte.[5] Ein entsprechender Beschluss kann naturgemäß jedoch nur Appelle enthalten. Handeln müssen Ministerium, Regierung oder die darin angesprochenen Akteure, wie z.B. die Landesärztekammern.

Appelle und Absichtserklärungen zum Thema „Patientenorientierung“ sind auch auf Bundesebene populär. So wurde im Juni letzten Jahres die Allianz für Gesundheitskompetenz ins Leben gerufen. Die Teilnehmer – alle wichtigen Player im Gesundheitswesen – wurden mit Aufgaben betraut bzw. haben sich selbst zur Übernahme von Aufgaben committet. So wollen beispielsweise Bundesärztekammer (BÄK) und ABDA darauf achten, dass die kommunikative Kompetenz in der Aus-, Weiter- und Fortbildung gestärkt wird. Die BÄK soll qualitätsgesicherte, evidenzbasierte Patienteninformationen erstellen. Die ABDA will auch weiterhin die Patienten mit Hilfe von Medikationsanalysen aufklären. Selbsthilfegruppen sollen ihre Patienteninformationen dem IQWiG und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Verfügung stellen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) will weiterhin Informationsveranstaltungen in Kliniken für Patienten anbieten. Und die Krankenkassen sollen noch etwas mehr IGeL-Bewertungen durchführen und zur Verfügung stellen als bisher. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) will eine Konferenz zum Thema Gesundheitskompetenz durchführen und danach über Maßnahmen nachdenken.[6]

Betrachtet man die geplanten Aktivitäten, so stellt man fest, dass es die meisten entweder bereits vorher gab oder, dass sie ohnehin geplant waren. Der Auftakt kann damit eher als Versuch der Regierung gewertet werden, den Playern eine Verpflichtung zu mehr Patientenorientierung abzuringen und dem Bürger zu signalisieren, dass man aktiv ist.

Als Neuerung kann jedoch das „Meta“-Informationsportal für Patienten gewertet werden. Hierzu entwickelte das IQWiG im Herbst letzten Jahres einen Entwurf und prüfte unter anderem, welche Contents bereits existierender Websites dort zusammenlaufen könnten. Das Portal könnte das mühsame Googeln teilweise fragwürdiger und auch widersprüchlicher Informationsangebote obsolet machen. Außerdem wurde ein nationaler Aktionsplan verfasst, der im ersten Teil die bereits hinlänglich erkannte Notwendigkeit von Gesundheitskompetenz und die erforderliche Mitwirkung aller Beteiligten im Gesundheits- und auch Bildungswesen darstellt. Im zweiten Teil werden Empfehlungen formuliert, wie die Förderung von Gesundheitskompetenz in allen Lebenswelten und von chronisch Erkrankten oder eine nutzerfreundliche und gesundheitskompetente Gestaltung des Gesundheitssystems.

Auch hier finden sich somit Absichtsbekundungen, Zielformulierungen und Appelle, die zwar hoch aufgehängt sein mögen, aber erst einmal keine konkreten Konsequenzen nach sich ziehen.

Wie groß sind die Chancen, dass Maßnahmen mit „patientenrelevanten“ Effekten umgesetzt werden?

 

Ein Blick zurück

Im Nationalen Krebsplan beschäftigte sich das Handlungsfeld 4 ausgiebig mit der Stärkung der Patientenorientierung. Als Ziele waren dort ein niedrigschwelliger Zugang zu Informations-, Beratungs- und Hilfsangeboten, die Verbesserung der kommunikativen Kompetenzen der Behandlungsteams und die Stärkung der Patientenkompetenz genannt.

Die Ziele würden partiell durch das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz erreicht, das im Jahr 2013 auf den Weg gebracht wurde. Weitere Schritte seien das geplante Konzept für ein „Nationales Gesundheitsportal“ sowie die geplante „Allianz für Gesundheitskompetenz“.[7],[8] Abgesehen von den Krebsregistern ist hier de facto also noch nicht allzu viel seit 2008 passiert.

Auch der Masterplan Medizinstudium 2020, der im März letzten Jahres von den damaligen Bundesministern Hermann Gröhe und Johanna Wanka sowie Vertretern der GMK und des Bundestages beschlossen wurde, sieht eine Stärkung der Arzt-Patientenkommunikation vor. Mit der Verabschiedung des Masterplans wurde eine Expertenkommission eingesetzt, welche die Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen untersuchen und innerhalb eines Jahres einen Vorschlag zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte erarbeiten sollte. Nach Rücktritt der Leiterin der Kommission, Prof. Monika Harms, ist der Entwurf für eine neue Approbationsordnung nun erst einmal auf Oktober 2018 vertagt worden.

Wo stehen wir nun also mit dem Thema Patientenorientierung in Deutschland?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass durchaus einiges i.S. Patientenorientierung unternommen wurde. 2000 schrieb das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Förderschwerpunkt „Partizipative Entscheidungsfindung“ aus. Drei Millionen Euro wurden in diverse Projekte investiert. Parallel liefen Arbeiten an einer Patientencharta. Diese wurde 2002 dem BMG übergeben. 2004 wurden ein Patientenbeauftragter auf Bundesebene sowie Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eingesetzt, und das IQWiG wurde aus der Taufe gehoben.

Die Projekte der Großausschreibung lieferten wenig überraschende Ergebnisse: Patienten schätzen Informationen, wollen gern an ärztlichen Entscheidungen beteiligt werden, und das Modell der „Partizipativen Entscheidungsfindung“ sollte stärker in der Regelversorgung verankert werden. Dies veranlasste Günter Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, darauf hinzuweisen, dass Fragen nach der Arzt-Patient-Interaktion bereits seit einigen Jahren Thema auf dem Deutschen Ärztetag seien. Er warnte daher vor dem Aufbau von Doppelstrukturen.[9] Im Behandlungsalltag tat sich allerdings nicht wirklich viel.

2013 folgte das Patientenrechtegesetz. In der Folge wiederholten sich alljährlich die Meldungen und Klagen über eine fehlende Patientenorientierung. Und wie dargestellt, wurden auch in den letzten Monaten keine konkreten, nachhaltigen Maßnahmen von der Politik auf den Weg gebracht.

 

Resümee

Im Fazit sehen wir eine Vielzahl von Aktivitäten in Sachen Patientenorientierung, allerdings weitgehend in Form von Absichtserklärungen und Willensbekundungen auf Seiten der politischen Entscheidungsträger und einiger Institutionen. Sie bleiben jedoch ohne unmittelbare Konsequenzen für die Patienten selbst. Sinnvolle Initiativen wie „Chosing wisely“ konnten sich bisher nicht etablieren.

Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob es gesetzliche Zwänge braucht, um eine bessere Patientenorientierung durchzusetzen, ob sie bottom-up funktionieren sollte. Oder, ob langfristig doch viele kleinteilige Maßnahmen das gesamte Gesundheitswesen zu infiltrieren vermögen. Vielleicht braucht es noch einige Jahre die ständige Wiederholung der Forderung, um im Bewusstsein der Gesundheitsberufe etwas zu ändern. Oder es sind tatsächlich zuerst andere Hemmnisse, wie die hohe zeitliche und bürokratische Belastung vieler Gesundheitsberufe zu beseitigen. Weitere Alternativen wären, mehr Wettbewerb oder eine stärkere Patientenlobby zu forcieren.

In Sachen wirtschaftlicher Verordnung von Arzneimitteln konnten nur regulatorische Maßnahmen gewisse Effekte erzielen, wie die vergangenen 20 Jahre gezeigt haben. Vieles deutet darauf hin, dass dies gleichermaßen für die Patientenorientierung gilt.

 

[1] Klemperer D., Patientenorientierung im Gesundheitssystem. Qualität in der Gesundheitsversorgung – Newsletter der GQMG 2000; 1 (7): 15-16

[2] Bundesärztekammer. 121. Deutscher Ärztetag Beschlussprotokoll 2018 (http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/121.DAET/121_Beschlussprotokoll.pdf)

[3] Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – Plenarprotokoll 25. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. April 2018 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/19/19025.pdf)

[4] Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden. 41. Sitzung am 7./8. März 2018 in Düsseldorf

[5] Gesundheitsministerkonferenz. Beschlüsse der 91. GMK (2018) TOP: 4.1 Patientenorientierung als Element einer zukunftsweisenden Gesundheitspolitik (https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=698&jahr=)

[6] Bundesministerium für Gesundheit. Übersicht über aktuelle Maßnahmen der Partner der Allianz für Gesundheitskompetenz. 19.06.2017 (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/G/Gesundheit/Allianz_Gesundheitskompetenz_Massnahmen.pdf)

[7] BMG. Nationaler Krebsplan Handlungsfelder, Ziele, Umsetzungsempfehlungen und Ergebnisse. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/N/Nationaler_Krebsplan/Informationspapier_Nationaler_Krebsplan.pdf

[8] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/nationaler-krebsplan/was-haben-wir-bisher-erreicht/ziel-11a.html

[9] Merten M., Der Patient als Partner. Einen Schritt weiter. Deutsches Ärzteblatt PP 2005; 6: 254

 

 


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