Grenzerfahrungen von Politik und Selbstverwaltung

Die Governance des Gesundheitswesens in der Corona-Krise

Fina Geschonneck

Sebastian Hofmann

Prof. Dr. Andreas Lehr

Sabine Rieser

Seit März 2020 ist die Bekämpfung der Corona-Pandemie das zentrale politische Handlungsfeld. Neue Player betreten die politische Bühne, Schwerpunkte verlagern sich. Wissenschaftler geraten unverhofft ins Zentrum der politischen Debatte. Aus dem Nichts erwachsen informelle Gremien zu zentralen Entscheidern für das tägliche (Über)Leben, wie die Runde aus Länderchefs, Corona-Kabinett und der Bundeskanzlerin. Die demokratische Kontrolle des Regierungshandelns wandelt sich. Das wirft Fragen auf: Wie agieren die alten und neuen Akteure in Deutschland? Welche Bedeutung hat die weltweite Pandemie für Europa? Kurz: Wie hat sich die Governance des deutschen Gesundheitswesens – Governance verstanden als Systemsteuerung im weitesten Sinne – verändert? Und: Welche politischen Konsequenzen zeichnen sich ab?

 

Die Autoren des Beitrages haben den Prozess auf allen Ebenen begleitet und in der Observer Datenbank dokumentiert. Diese Wissensbasis dient als Grundlage für eine kritische Betrachtung. Beschrieben werden in dieser politischen Analyse zunächst die  wichtigsten politisch-regulatorischen Handlungsstränge der Corona-Governance im Zeitraum März (Corona-Zäsur mit erstem Lockdown-Beschluss) bis Dezember 2020:

  1. Neue Arbeitsstruktur der Bundesregierung
  2. Bund-Länder-Regierungspolitik
  3. Bundeshaushalt und Finanzminister
  4. Gesetzgebung mit und ohne Corona-Bezug
  5. Corona-Verordnungen im Überblick
  6. Die Reaktion des Gemeinsamen Bundesausschusses
  7. Die Rolle der EU.

 

Im Fazit folgt darauf aufbauend eine Meta-Reflexion der Governance des Gesundheitswesens in der Corona-Krise, mit dem Fokus auf drei Aspekten:

  • Hat sich die etablierte Governance des Gesundheitswesens in der Pandemie bewährt als Organisationsprinzip der gesundheitlichen Versorgung?
  • Diente die Kompetenz der Selbstverwaltung als strategische Ressource für die staatliche Gefahrenabwehr?
  • Was bedeutet dies perspektivisch für die Governance des Gesundheitswesens?

 

 

1. Neue Arbeitsstruktur der Bundesregierung

Seit dem 30. März 2020 prägen neue Strukturen das Regierungshandeln. Es tagt nun bei Bedarf montags das kleine Corona-Kabinett – Bundesfinanzministerium (BMF), Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), Auswärtiges Amt (AA), Bundesgesundheitsministerum (BMG), Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) sowie , Chef des Bundeskanzleramtes – unter Leitung der Bundeskanzlerin, donnerstags das große Corona-Kabinett (Ergänzung des kleinen um Fachminister, die bei einem Thema mitberatend oder federführend sind). Mittwochs finden weiter reguläre Kabinettssitzungen statt.

Die Aufgabenliste für die montäglichen Treffen der beamteten Staatssekretäre wird erweitert: Dort müssen die Ressorts Themen anmelden, die sofort zu bewältigen sind. Die Runde legt fest, mit welchem personellen Einsatz und bis wann dies zu geschehen hat. Das gilt auch für die neu etablierte Staatssekretärsrunde mittwochs, die u.a. Themen und Beschlüsse des großen Corona-Kabinetts vorbereitet.

 

Pandemie befördert ressortübergreifende Strukturen

Weiter wird ein Krisenstab von BMG und BMI etabliert (u.a. für: Beschlussumsetzung Corona-Kabinette, Hilfeersuchen der Länder, Lagebilder zur Information von Regierung und Öffentlichkeit). Hinzu kommt ein Beschaffungsstab im BMG (Experten aus BMG, BMF, AA, Verbindungspersonen deutscher Unternehmen mit internationalem Geschäft). Diesem Stab wird eine Task Force angegliedert, für die relevante Bundesministerien Ansprechpartner benennen müssen, die bei konkreten Anliegen zügige Bearbeitung im jeweils eigenen Haus garantieren (Themenbereiche: Hilfeersuchen der Länder, Unterstützungsbitten an den Bund bei Beschaffungs- und Logistikproblemen, Angebote an den Bund für die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung und kritischer Güter, Unterstützungsangebote aus Wirtschaft, Wissenschaft, für digitale Lösungen in der Corona-Krise).

Anfang April wird zusätzlich ein Stab im Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) etabliert, der für die medizinische Schutzmaskenproduktion Bedeutung hat: Das Corona-Kabinett beschließt, Firmen zu bezuschussen, die Vorstoffe produzieren. Weitere Stabsthemen: Schutzausrüstung allgemein, Testausstattungen, Wirkstoffe aus Deutschland.

 

Mehr Tempo als im gesundheitspolitischen Normalbetrieb

Unter Governance-Gesichtspunkten sind die neuen Strukturen grundsätzlich sinnvoll: Die Auswirkungen der Pandemie lassen sich nicht auf einzelne Politikfelder begrenzen. Und sie führen zu komplexen, eiligen Herausforderungen. Das BMG rückt in der Pandemie stark in den Fokus. Das gilt ebenso für Strukturen wie RKI, PEI und BfArM. Die neuen Arbeitsprozesse des Bundes ermöglichen schnelle Entscheidungen, anders als im gesundheitspolitischen Normalbetrieb. Dies fällt zumindest fürs BMG möglicherweise weniger auf, weil Jens Spahn seit seinem Amtsantritt bei der Gesetzgebung ein hohes Tempo vorgelegt hat.

In wichtige Regelungen auch fürs Gesundheitswesen sind vermehrt weitere Ministerien eingebunden, beispielsweise das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Form diverser Sozialschutzpakete, das BMI mit Arbeiten an Muster-Quarantäneverordnungen und Corona-Warn-App, das BMWi durch Produktionsförderung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) durch Mittelvergabe an mögliche Impfstoffproduzenten. Doch nicht einmal BMG und BMBF geben ein gutes Bild des Krisenmiteinanders ab. Im September stellen Bundesgesundheitsminister und Bundesforschungsministerin gemeinsam die Unternehmensauswahl (BioNTech, CureVac und IDT Biologika) für das 750-Millionen-Sonderprogramm zur Entwicklung von Impfstoffen vor. Doch das ist es weitgehend. Dabei gehören Spahn und Anja Karliczek derselben Partei an. Und das BMBF bearbeitet mit der Förderung von Impfstoffherstellern oder dem Netzwerk Universitätsmedizin ja BMG-nahe Themen.

 

Neue Probleme, alte Lösungsvorschläge

Es existieren weiter etablierte Strukturen, Prozesse und Abgrenzungen. Die neuen Governance-Strukturen führen auch deshalb nicht wie selbstverständlich zu neuer Politik, weil einflussreiche gesundheitspolitische Akteure alte Vorschläge für neue Probleme einbringen. Ein Beispiel: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) wirbt für den Erhalt der stationären Strukturen, lobt deren Leistungsfähigkeit in der Krise und erhebt bekannte, umfangreiche finanzielle Forderungen. Dabei lässt die Pandemie strukturelle Mängel und Versorgungsunzulänglichkeiten des Sektors deutlich werden. So fehlen zentrale Informationen für eine Steuerung in der Krise, beispielsweise über die bundesweite Ausstattung mit Intensivbetten. Dass Veränderungen in kurzer Zeit möglich sind, belegen gleichwohl das neue DIVI-Intensivbettenregister sowie im Spätherbst das Kleeblatt-Konzept zur bundesländerübergreifenden Unterstützung bei der Versorgung schwerstkranker Corona-Patienten.

Ein weiteres Element, das die Wirkung der neuen Governance-Strukturen begrenzt, ist der Föderalismus. Gesundheitspolitik ist vielfach Aufgabe der Länder. BMG und Bundesregierung versuchen zwar erkennbar, mit Geld auf Strukturen und Aufgaben Einfluss zu nehmen, Stichworte: Finanzausgleich für Kliniken wegen einer ausbleibenden Normalbettenbelegung, Gelder für eine zeitgemäße IT-Ausrüstung der Gesundheitsämter. Doch den Erfolgen solcher Interventionen sind, wie man am öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) sehen kann, Grenzen gesetzt.

Das Bundeskanzleramt wird deutlicher als Akteur auch in der Gesundheitspolitik wahrgenommen. Die Kanzlerin thematisiert regelmäßig entsprechende Fragestellungen. Sonst kann eine ganze Sommerpressekonferenz mit ihr in der Bundespressekonferenz ohne nennenswerte Aussagen zu diesem Politikfeld vergehen. Kanzleramtsminister Helge Braun positioniert sich ebenfalls sichtbarer, wobei ihm zugutekommt, dass er gelernter Arzt ist. Außerdem ist Braun sowohl in den Corona-Kabinetten vertreten als auch in den Staatssekretärsrunden und sitzt somit an wichtigen Schnittstellen.

 

 

2. Bund-Länder-Regierungspolitik

Seit dem 12. März 2020 stimmen sich Bund und Länder über die Vorgehensweise zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie ab. Ziel: Reduzierung von sozialen Kontakten und Neuerkrankungen an SARS-CoV-2. Um es vorwegzunehmen: Über Maßnahmen zum Infektionsschutz entscheiden allein weder die Bundeskanzlerin noch die Ministerpräsidentenkonferenz als Gremium. Die Umsetzung von Corona-Einschränkungen liegt allein in der Verantwortung der Bundesländer. Sie können sich abstimmen und alle einheitlich vorgehen. Sie müssen das aber nicht. Einheitliche Regeln sind also eine freiwillige Sache. Das folgt aus der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz und aus den Regeln des Infektionsschutzgesetzes. Die Bund-Länder-Konferenzen haben also vielmehr den Charakter von politischen Absichtserklärungen. Die Länder wiederum beschließen in ihren Parlamenten auf dieser Grundlage, welche Beschlüsse vor Ort getroffen werden – meistens per Rechtsverordnung.

 

Zu Beginn: keine planbaren Operationen

Anfangs sind sämtliche Maßnahmen bei den Bund-Länder-Besprechungen auf einen steigenden Bedarf an Intensiv- und Beatmungskapazitäten ausgerichtet. Wichtigste Entscheidung: In Krankenhäusern sollen keine planbaren Operationen mehr stattfinden. Um die fehlenden Erlöse auszugleichen, ist ein umfangreiches Finanzierungspaket für die Kliniken zwischen Bund und Länder verabredet.

Die Länder schlagen vielfach einen schärferen Weg ein – vor allem Bayern rüstet auf. Bereits im März wird hier ein umfangreiches Programm für Mitarbeiter im Gesundheitsbereich aufgesetzt mit Bonuszahlungen und Übernahme der Verpflegungskosten. Zudem werden Ärzte bestimmt, die die Versorgung gewährleisten sollen. Obwohl das Bundesgesundheitsministerium nur die Empfehlung ausspricht, planbare Operationen in Krankenhäusern zu verschieben, verhängen einige Bundesländer, wie Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen ein Verbot – ohne Psychiatrien. Baden-Württemberg untersagt sogar regelhafte zahnärztliche Behandlungen.

Der Ruf nach besserer Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen mit Schutzausrüstungen und dem Aufbau von eigenen Produktionsstätten wird in den kommenden Wochen in den Bund-Länder-Treffen lauter. Die Stärkung des ÖGD wird im April beschlossen, um die Kontakte Infizierter besser zu verfolgen und Engpässen in den Gesundheitsämtern umgehend zu begegnen.

 

Richtungswechsel Anfang Mai

Am 6. Mai gibt es einen Richtungswechsel. Die Bundesländer sollen künftig „auf der Grundlage von Hygiene- und Abstandskonzepten“ eigenverantwortlich über weitere Öffnungsschritte entscheiden. Voraussetzung: Die Neuinfiziertenzahlen bleiben niedrig. Treten allerdings kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen auf, sollen Einschränkungen greifen. Merkel reagiert damit auf den Druck der Länder und umschreibt es in der Pressekonferenz so: Wenn man nur noch der Zentrale vertrauen könne und allen anderen im Land nicht, dann widerspreche das unserem Demokratieverständnis. Die aktuellen Regelungen der Länder bis Mai bleiben zwar bestehen, orientiert an den Bund-Länder-Entscheidungen, von Lockerungen ist zu diesem Zeitpunkt nicht viel zu spüren – trotz sinkender Inzidenzzahlen. Die Verbote von planbaren Operationen in den Krankenhäusern werden vielfach verlängert, obwohl eine Lockerung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn empfohlen wird. Bayern sticht mit einer Finanzspritze für Krankenhäuser, Privatkliniken und Reha-Einrichtungen hervor. Mehr Geld gibt es in Bayern auch für die Unterstützung des ÖGD.

Ab 5. Mai wird in den Ländern endlich gelockert; es darf wieder operiert werden. Lediglich Bremen hält an dem Verbot weiter fest. Rheinland-Pfalz verlangt Kapazitäten für die Intensivmedizin mit Beatmungsgeräten von 20 Prozent. In Baden-Württemberg dürfen die Zahnärzte wieder uneingeschränkt praktizieren. Einige Bundesländer, darunter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, heben die Ausgangsbeschränkungen für Pflegeheime auf. Ab Mitte Mai erlauben fast alle Bundesländer – außer Berlin – planbare Operationen. Kapazitäten für die Behandlung von Covid-Patienten müssen allerdings freigehalten werden. Bayern führt ein Screening auf Covid-19 bei allen Patienten in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen ein.

Die Konferenz am 25. Mai zwischen Kanzleramt und Chefs der Senats- und Staatskanzleien der Länder lässt die Einheitlichkeit der Länderentscheidungen weiter bröckeln. Die Festlegungen sind nur vage. Thüringen will sich künftig nur noch am Infektionsgeschehen im Bundesland orientieren.

Die bessere personelle Ausstattung des ÖGD steht im Vordergrund des Bund-Länder-Treffens am 17. Juni. Bis Ende August sollen die Gesundheitsminister ein Konzept für die Erarbeitung eines „Paktes für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)“ vorlegen. Gleichzeitig wird ein „Zukunftsprogramm für Krankenhäuser“ mit drei Milliarden Euro – vom Bund bereitgestellt – verabredet. Die Länder sollen sich mit 30 Prozent an der Finanzierung beteiligen. Geworben wird zudem für die Corona-Warn-App.

 

Zunehmend Reisende im Fokus

Mitte Juli geht es bei den Bund-Länder-Verhandlungen vor allem darum, für eine mögliche Corona-Pandemie-Gefahr gewappnet zu sein. Konzepte für Monitoring, Tests und Beschränkung des öffentlichen Lebens sollen für den Notfall fertig sein. Grundlage sind die Empfehlungen des RKI, insbesondere der nationalen Teststrategie. Letztere soll weiterentwickelt werden – gemeinsam von BMG und Länder. Die Beschlüsse vom 24. Juli richten sich vor allem auf Reisende, die aus Risikogebieten im Ausland wieder nach Deutschland kommen mit dem Ziel, das Virus bei der Ausbreitung zu behindern. Betroffene Reiserückkehrer haben die Möglichkeit, sich an Flughäfen testen zu lassen. Freiwillig.

Am 24. August gibt es keinen Konsens, ob Tests vom Bürger bezahlt werden müssen oder nicht, wenn die Quarantäne früher beendet werden will. Es bleibt beim Alten; die GKV bezahlt.

 

Bayern agiert eigenständig

In den Ländern gehen die Lockerungen über die Sommermonate weiter. Bayern agiert eigenständig mit einer umfangreichen Testung auch für symptomfreie Bürger des Bundeslandes bzw. macht explizit die Reihentestung für Lehrkräfte sowie Erzieher fest. Bei den Bund-Länder-Treffen kommt das Thema ÖGD Ende August noch einmal auf die Agenda. Der Pakt für den ÖGD mit einer Finanzierung von vier Milliarden Euro wird zwar bereits im Juni beschlossen – als Auftakt für die Umsetzung, wie es heißt.

Das Ausscheren der Länder aus Absprachen mit dem Bund nimmt Fahrt auf. Thüringen fordert bundesgesetzliche Regelungen, dass angeordnete Gästelisten in Restaurants ausschließlich für den Infektionsschutz verwendet werden dürfen (29. September). In der Konferenz am 7. Oktober erheben vier Bundesländer Einspruch. Berlin fordert, als Gesamtstadt bzw. eine Region mit Blick auf die Neuinfektionen betrachtet zu werden. Niedersachsen will den Beschluss nochmal prüfen. Für Thüringen ist die Aussage der Gesundheitsbehörden entscheidend, welche Maßnahmen ergriffen werden. Mecklenburg-Vorpommern gehen die Absprachen nicht weit genug. Auch die Konferenz am 14. Oktober zeigt: Gemeinsamkeit zwischen Bund und Ländern sieht anders aus. Fünf Bundesländer – Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen, NRW und Sachsen – erheben ihre Einwände bei der Begrenzung der Teilnehmerzahl der Treffen in den eigenen vier Wänden auf zehn Teilnehmer aus höchstens zwei Hausständen.

Doch vom 28. Oktober an signalisieren Länder und Bund wieder Einigkeit. Grund: hohe Infektionszahlen und der Druck der Öffentlichkeit und Infektiologen zu handeln. Regierungschefs und Bundeskanzlerin verkünden einen Teil-Lockdown, der vom 2. November bis Ende November gelten soll. Kontaktbeschränkungen sowie Schließungen von Einrichtungen werden angeordnet. Der besondere Schutz vulnerabler Gruppen in den Einrichtungen steht im Vordergrund mit Einsatz von Schnelltests. Den Krankenhäusern wird die Fortführung finanzieller Unterstützung zugesichert. Die Länder setzen die Beschlüsse in ihren Parlamenten eins-zu-eins um.

 

Keine Wende nach dem Teil-Lockdown

Zwei Wochen nach dem Teil-Lockdown zeichnet sich keine Wende nach unten bei den Infektionszahlen an. Doch mit konkreten Vorschlägen halten sich Bundeskanzlerin und die Länder-Chefs zurück. Vulnerable Gruppen sollen besser geschützt werden, 15 FFP2-Masken je Betroffenem ab Dezember ausgeteilt werden. Ende November dann werden die Maßnahmen erweitert – bis Anfang Januar sollen sie nun gelten. Private Zusammenkünfte werden weiter beschränkt. Die Verschiebung von planbaren Operationen und Behandlungen kommt wieder auf die Tagesordnung.

Gut 14 Tage später ziehen Bundeskanzlerin und Regierungschefs noch einmal an: Die befristeten Maßnahmen werden über Weihnachten und Silvester bis zum 10. Januar 2021 verlängert; private Feiern noch einmal beschränkt. Thüringen und Sachsen-Anhalt fordern in einer Protokollerklärung mehr Geld vom Bund für die Krankenhäuser. Bundesländer mit sehr hohen Corona-Zahlen verhängen Ausgangssperren und weitreichende Kontaktbeschränkungen. Dazu gehört Bayern, Sachsen, aber auch Berlin.

Während Mitte Dezember die Regelungen vom 24. Dezember bis Silvester noch gelockert sind, werden sie nur wenig später verschärft. Bund und Länder sind sich einig wie noch nie. Und ein neues Thema kommt auf die Tagesordnung: Impfungen.

 

 

3. Bundeshaushalt und Finanzminister

Über die Haushaltsgesetzgebung der Jahre 2020/2021 werden erhebliche zusätzliche Mittel in das Gesundheitswesen transferiert, um die Corona-bedingten Herausforderungen zu meistern. In der Vergangenheit ist dies hauptsächlich nur der Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds von jährlich 14,5 Mrd. Euro. Dieser wird 2020 um 3,5 Mrd. Euro und 2021 um fünf Mrd. Euro erhöht. Erstmalig erhält auch die soziale Pflegeversicherung (SPV) einen Bundeszuschuss (1,8 Mrd. Euro im Jahr 2020, 2021 3 Mrd. Euro).

 

Staat wird Kofinanzierer des Gesundheitswesens

 Besonders hervorzuheben ist allerdings die „globale Mehrausgabe Corona-Pandemie“ im Budget des Bundesfinanzministeriums, die flexibel für alle Ministerien eingesetzt werden kann. Diese beträgt 55 Mrd. Euro im Jahr 2020 und 35 Mrd. Euro im Jahr 2021. Finanziert wird damit unter anderem auch die Bundesbeteiligung am Impfstoffhersteller CureVac. Über die genaue Verwendung unterrichtet das Finanzministerium vierteljährlich den Bundestag. Hinzu kommen klar umrissene einzelne Sonderausgaben, wie z.B. Zuweisungen an die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds für das Zukunftsprogramm Krankenhäuser in Höhe von drei Mrd. Euro (2021). Der Etat des BMG steigt insgesamt von 15,3 Mrd. Euro (2019) auf 41,3 Mrd. Euro (2020) und (vorerst) 35,3 Mrd. Euro (2021).

Der Staat wird damit via Bundeshaushalt zum Kofinanzierer des Gesundheitswesens, der Bundesfinanzminister neben dem Bundesgesundheitsminister zum politischen Hauptakteur für Gesundheit und Pflege. Die Höhe des zusätzlichen Bundeszuschusses ist für die Jahre 2020 ff. maßgeblich dafür, welchem Finanzierungsmix sich GKV und SPV mit welchen Konsequenzen unterwerfen müssen.

Damit wird auch ein langjähriger Trend in der Verteilung der Gesundheitsausgaben nach Kostenträgern zumindest vorläufig gestoppt. Jahr für Jahr sind gemäß Statistischem Bundesamt die Anteile von GKV und SPV an den Gesundheitsausgaben gestiegen, zuletzt auf 56,9 Prozent (GKV) und 10,1 Prozent (SPV); dies wird sich in den Jahren 2020 und 2021 anders darstellen.

 

Enorme Verschuldung des Bundes

Parallel dazu verschuldet sich der Bund enorm – bei Aufhebung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse (vorerst) in den Jahren 2020 und 2021 (Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen mit Tilgungsregelung). Stand 31.12.2020 muss der Finanzminister im Jahr 2021 179,8 Mrd. Euro neue Schulden aufnehmen – bei einem Gesamthaushalt von (vergleichsweise nur) 498,6 Mrd. Euro. Und die erste Nachtragshaushaltsgesetzgebung für 2021 zeichnet sich bereits ab. Der gegenüber dem Soll günstigere vorläufige Haushaltsabschluss des Jahres 2020, vorgestellt am 19.1.2021, ändert an dieser Problematik grundsätzlich nichts.

Die Rolle des Kofinanzierers für Gesundheit und Pflege wird der Staat via Bundeshaushalt aber nach der Corona-Krise nur dann fortsetzen können, wenn sich an den (verfassungsrechtlichen) Vorgaben für den Bundeshaushalt etwas ändert.

 

 

4. Gesetzgebung mit und ohne Corona-Bezug

 

Phase 1: Schutzschirm und Ermächtigungen

Der Lockdown-Beschluss (23. März 2020) ist zugleich der Start für eine umfangreiche Corona-spezifische Gesundheitsgesetzgebung: das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz sowie das erste und zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Geht es beim ersten beschlossenen Gesetz ausschließlich um finanzielle Schutzschirme für die Leistungserbringer, stehen vor allem die Verordnungsermächtigungen für das BMG im Mittelpunkt beim ersten Bevölkerungsschutzgesetz. Das Parlament ist außen vor. Erstaunlich ist die lange Laufzeit: Bis zum 31. März 2021 sollen die Verordnungen in Kraft bleiben; außer der Bundestag hebt die epidemische Lage von nationaler Tragweite bereits vorher auf. Das zweite Bevölkerungsschutzgesetz ist ein Sammelsurium von gesetzlichen Festlegungen, die mal mehr oder weniger mit der Corona-Pandemie zu tun haben (vgl. auch die Ausführungen zur Phase 2).

 

Phase 2: Erweiterung um Konjunktur- und Investitionsstärkung

Mit dem Ergebnis des Koalitionsausschusses vom 3. Juni 2020 („Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken“) ist die Corona-Gesundheitsgesetzgebung auf ein „Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket“ und einem „Zukunftspaket“ ausgerichtet. Für das Gesundheitswesen besonders relevant ist

  • im ersten Paket eine „Sozialgarantie 2021“. Die Sozialversicherungsbeiträge werden bei maximal 40 Prozent über Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt stabilisiert; Umsetzung durch die Haushaltsgesetzgebung 2020/21 und durch das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG).
  • im zweiten Paket vor allem der „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ (vier Mrd. Euro) und das „Zukunftsprogramm Krankenhäuser“ (drei Mrd. Euro). Letzteres wurde mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) mit dem Krankenhauszukunftsfonds umgesetzt.

Insgesamt folgt die Koalition damit bislang der Gesetzgebungslogik, wie sie auch als Reaktion auf die Finanzmarktkrise ab 2008 zum Einsatz kommt: Dem Gesundheitssystem wird zur Stabilisierung Steuergeld zugeführt, ohne auf der Seite der Leistungserbringer / Industrie (Kostendämpfung) oder bei den Leistungen für die Versicherten zu sparen. Im Unterschied zur Finanzmarktkrise ist allerdings der Beitragssatz nicht gesenkt, sondern sogar leicht erhöht worden. Und auch die Kassenreserven sind bei der Finanzmarktkrise 2008 außen vor gewesen.

Das dritte Bevölkerungsschutzgesetz dagegen folgt wieder ausschließlich der Zielsetzung der ersten Corona-Gesundheitsgesetze. Inhalt sind vor allem Klarstellungen, wie der Gesetzgeber das Parlament einzubeziehen hat.

 

Phase 3: Fortführung der „alten“ Agenda

Nachdem die „alte“ Agenda des BMG bis zur Corona-Zäsur seit dem Herbst wieder richtig Fahrt aufnimmt, werden darin auch viele Corona-Regelungen im gewohnten Omnibus-Verfahren eingebaut, z.B. die Botendienstregelung in das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken. Besonderer Ausdruck der Corona-Krise sind auch Regelungen der GKV-Finanzierung für das Jahr 2021, die dem Referentenentwurf des GPVG hinzugefügt werden. Grundlage dafür ist das mit dem Finanzminister konsentierte BMG-Papier „Maßnahmenpaket zur Stabilisierung der Zusatzbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Umsetzung der ‚Sozialgarantie 2021‘ “ vom 14. September 2020 – im Wesentlichen mit einem Mix von Bundeszuschuss, dem einmaligen Anzapfen der Finanzreserven der Kassen und der Erhöhung des Zusatzbeitragssatzes.

Maßnahmen mit und ohne Corona-Bezug gehen sukzessive eine symbiotische Verbindung ein. Bisweilen ist schwer zu unterscheiden, ob eine Regelung nun von der Corona-Pandemie beeinflusst ist oder nicht. Ohnehin schwer durchsetzbare Projekte werden endgültig in dieser Legislaturperiode auf Eis gelegt (sektorenübergreifende Versorgung, einschl. Notfallversorgung, absehbar auch die Finanzierung der Pflegeversicherung). Auf der anderen Seite wirkt Corona als Katalysator für Jens Spahns Lieblingsprojekt: Digitalisierung.

 

 

5. Corona-Verordnungen im Überblick

Verordnungen spielen bei der Bewältigung der COVID-19-Pandemie eine wichtige Rolle. Die damit verbundene Übertragung der Macht auf die Exekutive trifft anfangs auf Widerstand. Die scharfe Kritik der Opposition am „Regieren mit Verordnungen vorbei am Parlament“ verebbt allerdings mit der zweiten Infektionswelle im Herbst 2020. Kritisiert wird dann vor allem die Rolle des Beschlussgremiums „Merkel mit Ministerpräsidenten“.

Viele Verordnungen werden befristet bis zum „Einjährigen“ der Pandemie am 31. März 2021. Die wichtigste Ermächtigungsgrundlage, das Infektionsschutzgesetz (IfSG), sieht dieses Datum als maximale Geltungsdauer für Pandemie-Verordnungen vor. Mit der zentralen Befristung im IfSG wird die Möglichkeit angelegt, die Geltungsdauer der Verordnungen einheitlich zu verlängern.

 

Unübersichtliche Lage 

Eher unübersichtlich gestaltet sich die Lage bei Verordnungen, die im Lauf des Jahres 2020 bereits auslaufen, insbesondere bezüglich der Ersatz- oder Folgeregelungen. Dasselbe Ziel wird teilweise über wechselnde Regime (Erlass, Verordnung, Gesetz) verfolgt. Beispielsweise wird der finanzielle Ausgleich für Krankenhäuser wegen Erlösausfällen (freigehaltene Betten) bis September 2020 über eine Verordnung und anschließend über Krankenhausgesetze geregelt. Auch die Apothekenleistung „Botendienst“ findet sich zunächst zur Kontaktvermeidung in einer Pandemie-Verordnung und wird dann per Gesetz (VOASG) zur Regelleistung erhoben. Die COVID-19-Arbeitszeitverordnung läuft dagegen im Sommer 2020 ersatzlos aus; die Versorgung mit Gütern des täglichen Gebrauches (Nudeln, Toilettenpapier, etc.) ist auch ohne Sonntagsarbeit möglich.

Neben den befristeten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sind einige Veränderungen im Gesundheitswesen auf Dauer angelegt. In den Approbationsordnungen von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern wird die modifizierte Ausbildung während einer Pandemie geregelt. Versorgungsrelevante Betriebe im Gesundheitswesen werden der Außenwirtschaftsverordnung unterworfen, um den Aufkauf durch außereuropäische Investoren verhindern zu können. Die Haftung des Staates bei der Beschaffung von Medizinprodukten wird geklärt.

 

Probleme schnell und spezifisch angehen

Verordnungen werden meistens genutzt, um Probleme schnell und spezifisch anzugehen. Ziele der verordneten Maßnahmen sind neben Pflichten (Meldung und Quarantäne) auch Erleichterungen und Hilfsmaßnahmen für Leistungserbringer (Ausfallleistungen) sowie Ansprüche für die Bevölkerung (Tests, Impfungen). Als Verordnungsgeber tritt in der Regel das BMG auf.

 

 

6. Die Reaktion des Gemeinsamen Bundesausschusses

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) reagiert anfangs mit kurzfristig angedachten Ausnahmen von den eigenen Richtlinien auf die Pandemie. Nach einer vorübergehenden Beruhigung des Infektionsgeschehens im Sommer 2020 nimmt die Pandemie zum Ende der Urlaubszeit in einzelnen Hotspots wieder zu. Der G-BA trifft daraufhin am 17. September 2020 einen „Grundlagenbeschluss“ mit einer umfangreichen Sammlung von Ausnahmen, die ursprünglich nur bei Bedarf und regional (auf Hotspots) begrenzt gelten sollen.

Im Beschluss vom 30. Oktober 2020 nennt der G-BA dann erstmals alle 16 Bundesländer als regional betroffene Gebiete und setzt mit diesem Kunstgriff die zur regionalen Anwendung vorgesehenen Regeln bundesweit in Kraft. Mit der Befristung bis 31. Januar 2021 werden die Ausnahmen verstetigt. Die Regelungen ermöglichen neue (Fern-)Leistungen und lockern die formalen Vorgaben für den Versorgungsalltag:

 

Zusätzliche Leistungen: Fernbehandlung / digitale Formate

  • Videobehandlung: Heilmittel, Soziotherapie, psychiatrische häusliche Krankenpflege (HKP).
  • Nach telefonischer Anamnese: Verordnung (Krankentransport), Folgeverordnungen. (HKP, Hilfsmittel, Heilmittel), Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Telefonische Beratung im Rahmen der ASV.

 

Formale Erleichterungen

  • Ohne Genehmigung: Krankentransport von COVID-Kranken/Verdachtsfällen.
  • Ohne Begründung: längerfristige Folgeverordnungen für HKP.
  • Verlängerte Frist für die Vorlage von Verordnungen bei HKP, Soziotherapie, SAPV.
  • Vorgaben der Qualitätssicherung werden teilweise ausgesetzt (v.a. Personalvorhaltung und Dokumentation).

 

Erweiterte Gültigkeit/Befristung

  • Zeitlich flexiblere Verordnung für Heilmittel, HKP.
  • Entlassmanagement-Verordnungen für 14 (statt sieben) Tage.

Ziel der meisten Sonderregeln ist die Kontaktvermeidung, zu Beginn vor allem bei niedergelassenen Ärzten, später auch bei anderen Heil- und Gesundheitsberufen. Mit der Lockerung formaler Regeln wird der Ausnahmesituation in der Versorgung Rechnung getragen. Zwischen den Bänken herrscht weitgehend Konsens, dass Maßnahmen notwendig sind und wie diese ausgestaltet werden sollen. Anfänglicher Streit (vor allem über die telefonische Krankschreibung) wird schnell beigelegt. Lediglich im Bereich der Qualitätssicherung führt der grundsätzliche Konflikt über sinnvolle Vorgaben auch zu Streit über den notwendigen Umfang der Pandemie-Ausnahmen.

In eigener Sache erlaubt sich der G-BA, bei Vorliegen „besonderer Umstände“ Beschlüsse schriftlich zu fassen. Die Sitzungen des Plenums finden mit wenigen Ausnahmen als Video-Konferenzen statt. Die internen Verfahren zur Bewertung von neuen Wirkstoffen und Methoden bleiben von der Pandemie operativ und methodisch unberührt.

 

 

7. Die Rolle der EU

Die Europäische Union (EU) ist an der Bewältigung der Pandemie von Anfang an beteiligt. Als Staatenverbund ist sie in vielfacher Hinsicht gefordert als:

  • Plattform für freiwillige Zusammenarbeit, z.B. für Absprachen im Europäischen Rat
  • eigenständiger Akteur, z.B. bei der Impfstoffbeschaffung im Auftrag der Mitglieder
  • Geber und Kontrolleur zentraler Normen, z.B. in Fragen der Arzneimittel-Zulassung
  • Hüter der Europäischen Verträge, vor allem Verteidigung der Freizügigkeit im Binnenmarkt
  • Geldgeber, im Rahmen des eigenen Haushaltes einschließlich der Sonderprogramme.

 

Im Fokus zuerst Wirtschafts- und Handelspolitik

Zu Beginn liegt der Fokus europäischen Handelns insbesondere auf der Wirtschafts- und Handelspolitik. Die erste offizielle Mitteilung der EU-Kommission vom 13. März 2021 erscheint noch unter der Überschrift „koordinierte wirtschaftliche Reaktion“. Allerdings finden sich bereits dort Schlagworte aus vielen Politikfeldern, wie z.B. Katastrophenschutz, Liquiditätssicherung für Unternehmen, Leitlinien und Empfehlungen, Integrität des Binnenmarkts, gemeinsame Beschaffung und die Überwachung von Engpässen. Ihren Höhepunkt erreicht die europäische Wirtschaftspolitik mit der Einigung der EU-Regierungschefs auf kreditfinanzierte Zuschüsse in Höhe von insgesamt 750 Mrd. Euro im Juli 2020.

 

Ab Juni 2020 rückt Gesundheitspolitik in Mittelpunkt

Gesundheitspolitik hat zu Beginn der Pandemie eher flankierenden Charakter. So werden zum Beispiel harmonisierte Normen für medizinische Gesichtsmasken schnell und kostenlos zur Verfügung gestellt. Dies entspricht den europäischen Verträgen, nach denen das Gesundheitswesen in die Kompetenz der Mitgliedsstaaten fällt. Dies ändert sich schlagartig, als die EU-Kommission im Juni 2020 beauftragt wird, den Bedarf an Impfstoff gegen COVID-19 für alle Mitgliedsstaaten zentral zu beschaffen. Damit erlangt Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene erstmals eine herausgehobene Bedeutung.

Da die Pandemie das Leben in der EU zu weiten Teilen beherrscht, ist das Spektrum der politischen Maßnahmen sehr breit. Beim gemeinschaftlichen Handeln auf der europäischen Ebene lassen sich vielfältige Ziele erkennen:

  • Solidarität, v.a. Verschuldung zur Umverteilung von 750 Mrd. Euro für Investitionen
  • Marktmacht, v.a. Beschaffung von Impfstoffen
  • effiziente Verwaltung, z.B. beschleunigte Zulassungsverfahren für Impfstoffe
  • einheitliches Handeln, z.B. Reisebeschränkungen
  • regulatorische Erleichterungen, z.B. Verschiebung der Medical Device Regulation
  • Orientierung, z.B. Roadmap, EXIT-Strategie, Impfstoffstrategie
  • Informationsgewinn, z.B. Statusbericht zu Lieferengpässen bei Arzneimitteln
  • administrative Unterstützung, z.B. Leitlinien für Studien in der Pandemie
  • operative Koordination, z.B. Plattform für COVID-19-Forschungsdaten
  • informeller Einfluss, z.B. Appell an die Pharmazeutische Industrie.

 

 

Fazit

Die COVID-19-Pandemie ist mit keiner anderen Situation seit der Gründung der Bundesrepublik vergleichbar. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass diese Krise Auswirkungen auf die Governance des Gesundheitswesens hat. Dabei treten zwei (in Deutschland bislang nicht eingeübte) Besonderheiten einer Pandemie zutage:

  • Entscheidungen zur gesundheitlichen Versorgung erfordern teilweise ein Tempo, auf das die üblichen Entscheidungswege im Gesundheitswesen nicht ausgerichtet sind.
  • Die Prävention (hier: Infektionsschutz) wird plötzlich von einer eher beschaulichen Disziplin des Gesundheitswesens zur zentralen Aufgabe staatlicher Gefahrenabwehr und damit zum Gegenstand vieler Politikfelder. Damit betreten Entscheider auf allen Ebenen der Republik fachliches Neuland, von der Bundeskanzlerin bis zum Schulleiter.

Richtet man nun in dieser besonderen Lage den Fokus weiter auf das Gesundheitswesen, stellen sich unmittelbar zwei Fragen:

  • Hat sich die etablierte Governance des Gesundheitswesens auch in der Pandemie bewährt als gute Organisationsform der gesundheitlichen Versorgung?
  • Diente die Kompetenz der Selbstverwaltung als strategische Ressource für die staatliche Gefahrenabwehr?

 

Impfen auf allen Ebenen

 Die Analyse ist schwierig, weil Zuständigkeiten scheinbar situativ wechseln und die Entscheidungen außerordentliches Expertenwissen erfordern. Ein Beispiel: Früh teilt Jens Spahn die Erkenntnis, dass die Pandemie nur mit Impfungen beendet werden kann. Relativ zeitnah startet er auch zusammen mit Frankreich, Italien und den Niederlanden die Beschaffung von Impfstoffen für die Bürger der EU: Auf Druck u.a. der Bundeskanzlerin wird schließlich die EU-Verwaltung beauftragt. Dort fehlt offensichtlich die Erfahrung (Bsp. „best effort“-Klausel im Vertrag mit AstraZeneca). Und nicht vorhanden ist die (sehr vorausschauende) Erkenntnis, dass man für eine zügige Impfung der Bevölkerung neben Impfstoffen auch zusätzliche Produktionskapazitäten beschaffen muss.

Für die konkrete Verteilung des deutschen Kontingents an Impfdosen zeichnet schließlich wieder der Bundesgesundheitsminister mit einer Rechtsverordnung zur geordneten Reihenfolge verantwortlich. Die Umsetzung in regionalen Impfzentren obliegt den Bundesländern. Der Bundestag als Gesetzgeber ist bei der Vorbereitung und Umsetzung der als „game changer“ geltenden Impfung lediglich Zuschauer.

Die Selbstverwaltung wirkt eher unbeteiligt; nur die niedergelassenen (Haus-) Ärzte äußern sich zur Umsetzung. Über fachliche Unterstützung der Regierungen durch Vertreter der Selbstverwaltung z.B. zu Fragen der Beschaffung oder Besonderheiten der Impfstoffproduktion ist nichts bekannt.

 

Ein Trend setzt sich fort

Den Regelbetrieb des Gesundheitswesens organisiert allerdings auch in der Pandemie die etablierte Selbstverwaltung – mit einigen Ausnahmen. Bereits vor der Corona-Krise war ein Trend zu erkennen, in dessen Folge sich Entscheidungsrechte zugunsten der Exekutive verlagerten (siehe Observer Gesundheit, Geschonneck et al.: „Von der Regierungsbildung im Bundestag bis zur Corona-Zäsur“).

Das BMG macht ab März 2020 umfassend von der Ermächtigung durch den Bundestag (IfSG) Gebrauch und holt sich zur Umsetzung neue Akteure ins Boot. Beispiellos ist der Auftrag an eine Fachgesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), ein tagesaktuelles Register zu Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern zu veröffentlichen; Fachgesellschaften werden in der Regel von Entscheidern zu medizinischen Fragen gehört, nie aber in operative Abläufe einbezogen. Neu ist ebenfalls ein handverlesener Beirat, der das BMG unter anderem zu Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser berät; auch hier geht es um die Umsetzung von Verordnungen. Mit diesen Sonderaufgaben hätte man auch etablierte Gremien der Selbstverwaltung beauftragen können. Dies scheint politisch offensichtlich nicht attraktiv.

Neben großer Gestaltungsfreiheit bieten Rechtsverordnungen zusätzlich den Vorteil, dass sie eine schnelle Umsetzung politischer Ziele ermöglichen. Ein solcher Eingriff in die etablierte Governance erscheint als durchaus notwendig, was ein Beispiel verdeutlicht: Auf den regulären Entscheidungswegen der Selbstverwaltung wäre ein SARS-CoV-2-Test-Anspruch für alle Bürger (GKV, PKV, etc.) mit festen Erstattungsbeträgen für Labore und Finanzierung aus dem Gesundheitsfonds entweder gar nicht oder erst nach vermutlich langem zeitlichen Vorlauf möglich gewesen. Spahns ausgeprägter Wille zur Macht befördert offenbar den extensiven Einsatz von Rechtsverordnungen. Unbegründet erscheint dieses Vorgehen jedoch nicht.

 

 

Der G-BA in der Krise: unerschüttert im Standard-Radius

 Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bleibt von der Pandemie nur am Rande berührt. Weder wird er vorübergehend seiner Kompetenzen beraubt, noch bringt er sich aktiv in die Debatte zur Bewältigung der Pandemie ein. Stattdessen beschäftigt sich der „kleine Gesetzgeber“ unerschüttert und robust mit den laufenden Aufgaben, wie z.B. der Nutzenbewertung neuer Wirkstoffe. Lediglich einige Ausnahmen von eigenen Richtlinien gehören zum Pandemie-Portfolio des Gremiums. Das zentrale Organ der Selbstverwaltung (re-)agiert nahezu ausschließlich im Standard-Radius und hält sich aus unbestimmten Fragen der Krisenbewältigung heraus. Der fachliche und konzeptionelle Input ist nahe Null. Die beispiellose Ballung von Fachkompetenz im G-BA erweist sich nicht als Ressource zur Politikberatung in der Krise. Der G-BA im Auge des Orkan: Governance as usual.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Governance im Gesundheitswesen zwar so stabil ist, dass sie auch in Krisenzeiten den laufenden Betrieb aufrechterhalten kann. Eine Krisenführung durch eine neue Funktion (Kommissar, Beauftragter etc.) steht politisch nie zur Debatte. Gleichzeitig zeigt sich aber eine auffallende Zurückhaltung in allen Fragen, die außerhalb des Regelbetriebes politisch zu entscheiden sind. Der einzige konzeptionelle Beitrag aus den Reihen der Selbstverwaltung stammt von der KBV als Co-Autor eines Papiers zum zweiten Lockdown (Oktober 2020). Die tragenden Institutionen im Gesundheitswesen erheben damit in der COVID-19-Pandemie keinen Gestaltungs-, Entscheidungs- oder gar Führungsanspruch. Die Maxime ist augenscheinlich: Solidarität mit den politisch Verantwortlichen; Krisen-Governance nur im Auftrag.

 

Governance mit Variablen

 Die Selbstverwaltung dürfte weitgehend unbeschädigt durch die Corona-Krise kommen. Während Deutschlands politische Klasse gerade an Glaubwürdigkeit verliert, weil die präsentierte Fake-Governance (Führerin Merkel) mit der föderalen Realität (jedes Land für sich) nichts zu tun hat, bleiben die Verbände und Institutionen weitgehend unter dem Radar. Es sind meist Einzelexperten, die zu strittigen Fragen gebeten werden, ihre wissenschaftliche Einschätzung einzubringen (Wissenschaftler Christian Drosten u.a.). Die Einbindung der Selbstverwaltung in das akute Pandemie-Management wirkt dagegen eher pflichtschuldig; nur selten findet sich einer der Spitzenfunktionäre auf einem der Außenplätze bei den regelmäßigen Pressekonferenzen mit dem Minister. Der machtpolitische Grundsatz „Krisen sind Zeiten der Exekutive“ gilt somit nicht nur für die Parlamente in Bund und Ländern, sondern auch für die etablierten Strukturen der Selbstverwaltung. Ihnen ist seitens der Regierenden eher die Rolle als Zuschauer zugedacht.

Ob dies dauerhaft Konsequenzen für die Governance des Gesundheitswesens haben wird, lässt sich heute noch nicht absehen. Perspektivisch liegt die Entscheidung bei der nächsten Bundesregierung. Der Bundestag entscheidet, ob und inwieweit der Bundesgesundheitsminister mit Verordnungen an Parlament und Selbstverwaltung vorbei regieren kann. Und es wird (wieder) sehr von der Person des Ministers selbst abhängen, welche Rolle er oder sie der Selbstverwaltung zuschreibt. Die Governance des Gesundheitswesens ist heute nicht mehr gesetzt, sondern hat sich zu einer Variable der Machtpolitik entwickelt. Mit den Erfahrungen aus der Corona-Krise dürften die Karten bald neu gemischt werden.

 

Fina Geschonneck
Redaktionsleiterin Observer Gesundheit, Redakteurin Observer Datenbank

Sebastian Hofmann
Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit

Prof. Dr. Andreas Lehr
Inhaber und Geschäftsführer Agentur für Gesundheitspolitische Information, Honorarprofessor WiSo-Fakultät, Universität Köln

Sabine Rieser
Freie Journalistin für Gesundheitspolitik
Autorin Observer Datenbank und Observer Gesundheit

 

Diese Analyse schließt an Publikationen an, die die Autoren über die Gesundheitspolitik dieser Legislaturperiode bis zur Corona-Zäsur bereits im Observer Gesundheit veröffentlicht haben: 

Fina Geschonneck: „Vom Koalitionsvertrag zur Spahn-Bilanz“, 17. September 2019

Sabine Rieser: „Gesundheitsberufe in der 19. Legislaturperiode – eine vergleichende Analyse (I)“, 10. Februar 2020

Sabine Rieser: „Gesundheitsberufe in der 19. Legislaturperiode – eine vergleichende Analyse (II)“, 17. Februar 2020

Fina Geschonneck, Sebastian Hofmann, Andreas Lehr, Ines Niehaus: „Maßnahmenanalyse der Regulierung der 19. Legislaturperiode im Bereich Gesundheit und Pflege“, 8. April 2020

 


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