Gesundheitspolitik auf dem Weg in die „höfische Gesellschaft“?

Dr. Robert Paquet

Ein gutes Jahr nach der Regierungsbildung zeichnet sich in der Gesundheitspolitik ein neues Muster ab. Minister Spahn regiert mit sehr persönlichen Akzenten und zieht alle Handlungsfäden an sich. Das verändert auch das Verhalten der Akteure in der Selbstverwaltung und der Lobbyszene. Nur noch das Zentralgestirn ist entscheidend. Von seinen Strahlen hängen Wohl und Wehe ab. In diesem Politikfeld zeigt sich eine Tendenz zur „höfischen Gesellschaft“[1].

Minister haben Macht. Das gilt auch in demokratischen Gesellschaften. Dabei ist bezeichnend, wie sie ihre Macht einsetzen. Das ist eine Frage des Stils und der Selbstinszenierung, aber auch der (möglichen) Gegenkräfte. Hier unterscheidet sich Minister Spahn sehr deutlich von seinem Vorgänger Hermann Gröhe, der möglichst unspektakulär den damaligen Koalitionsvertrag umsetzen wollte. Minister Spahn dagegen nimmt sich die Freiheit, über den aktuellen Vertrag hinauszugehen, seine Umsetzung zu verweigern, wo es gegen seine Überzeugungen geht (Beispiel Arzneimittel-Versandhandel), und auch sehr eigenwillige Interpretationen vorzunehmen.

 

Der Minister bestimmt den Takt

Das führt bei den Klienten-Gruppen seines Wirkungsfeldes zu Verhaltensänderungen. Halb gezwungen, halb aus Einsicht: Der Minister jedenfalls bestimmt den Takt. Das ist sein Privileg. Er ist der Chef. Alle beziehen sich auf ihn. Das ist der Zug in die höfische Gesellschaft. Schon in beiläufigen Beobachtungen der jüngsten Zeit verdichten sich die Zeichen.

  • Episode eins: Psychotherapieplätze sind knapp, die Wartezeiten aber lang. Die Digitalisierung könnte vielleicht helfen, das Problem zu lösen. Ein junges Start-up-Unternehmen hat daher psychotherapeutische Online-Kurse entwickelt, die insbesondere Menschen unterstützen sollen, die nach einer stationären Depressionsbehandlung keine ambulante Anschlusstherapie finden. Die Kurse sind professionell entwickelt worden und kombinieren die Online-Aktivitäten mit psychologischer Beratung am Telefon. Die bisherige Evaluation zeigt eine Symptomreduktion, die mit der herkömmlichen Therapie vergleichbar ist. Die Nutzer sind sehr zufrieden.Von Anfang an wollte das Unternehmen die Krankenkassen für die Finanzierung gewinnen. Aber das Bundesversicherungsamt (BVA) hat Probleme gemacht: Die Kurse seien doch kein Medikament und auch kein Medizinprodukt. Daher sei die Finanzierung durch die Kassen nicht zulässig. Da habe man sich direkt an den Minister gewandt: Spahn und sein Digital-Abteilungsleiter Ludewig hätten das Problem dann abgeräumt und für die Anerkennung der Kurse gesorgt. Die Pressearbeit sei für den Erfolg des Ansatzes sehr wichtig gewesen.Das BVA wendet geltendes Recht an. Der Minister dehnt es aus. Die Handlungsweise passt zur Imagepflege und den persönlichen Motiven, sich als Digitalisierer darzustellen. Bekanntlich präsentiert er seinem Ministerium pro Woche drei Unternehmen aus der Internet-Szene, um den Beamten vorzuführen, wo vorne ist.
  • Episode zwei: Der Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes (GKV-SV), Uwe Klemens, ärgerte sich schon Ende Januar über den Vorstoß des Ministers, die Stimmenmehrheit in der gematik an sich zu ziehen. Wo gebe es denn sowas, dass eine Gesellschaft mit einem öffentlichen Mehrheitsgesellschafter komplett von der GKV finanziert werde. Im März komme der Minister nun endlich einmal zum Verwaltungsrat des GKV-SV. Da werde man ihm ordentlich die Meinung sagen. Vorher sei ja Spahn schon bei allen anderen gewesen.Bemerkenswert ist daran erstens, dass nach Plan zu diesem Zeitpunkt das TSVG im Bundestag bereits in zweiter/dritter Lesung verabschiedet sein wird. Und zweitens, dass der GKV-Spitzenverband nicht wirklich darüber nachdenkt, warum der Minister mit allen anderen verhandelt, sich aber ziemlich sicher sein kann, dass die Krankenkassen derzeit kein relevanter Machtfaktor mehr in seinem Spiel sind.Stattdessen hat Spahn zwölf Mal mit den Apothekern um das Versandhandelsverbot gefeilscht bzw. in sein Ministerium feilschen lassen. Und hat z.B. den Ärzten bei der KBV erklärt, warum die Sprechstundenregelung nicht verhandelbar sei (wegen des Koalitionspartners) und er selbst ja erstmals bereit sei, die Budgetierung zu lockern und so weiter. Der Minister weiß genau, in welcher Absicht und bei wem er auftaucht. Zielgruppe und Reihenfolge seiner Auftritte sind mit Bedacht gewählt. Wer zu spät an die Reihe kommt, den hat das Leben schon bestraft.

Für diese Konzentration der Politik auf die Person des Ministers und die Ausrichtung der entsprechenden Lobbykreise sind weitere Entwicklungen der letzten Monate charakteristisch.

Beispiel eins: Der „Deal“ mit den Apothekern. Beim deutschen Apothekertag Anfang Oktober erwarteten alle eine klare Ansage des Ministers, wie das Versprechen des Koalitionsvertrags zum Verbot des Versandhandels umgesetzt werden soll. Stattdessen hat Spahn um das Thema drum herumgeredet und die Apotheker hingehalten und schmoren lassen. Der Minister machte es spannend: Die ursprünglich für den 5. Dezember 2018 vorgesehene Mitgliederversammlung der ABDA wurde auf den 11. verlegt, um „Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine Teilnahme an der Veranstaltung zu ermöglichen“, wie die ABDA euphemistisch formulierte. Bei seinem Auftritt wirft er den Apothekern einen Brocken hin und zwingt sie zur Stellungnahme auf einer weiteren a.o. Vertreterversammlung im Januar. Unter dem Weihnachtsbaum lag damit ein geschickt kombiniertes und verführerisches Maßnahmenbündel. Abzuwägen waren die vergleichsweise abstrakten künftigen Gefahren durch den europäischen Versandhandel gegen die durchschnittlich 19.000 Euro Mehrvergütung pro Apotheke, die man relativ schnell auf die Kralle kriegen würde. Da war die Gegenwartsvorliebe der Apotheker schon bestimmend. Ausschlaggebend für das murrende Einlenken dürfte jedoch letztlich gewesen sein, dass man mit dem Spahn‘schen Angebot einen klaren Gegenkurs erreicht, zu dem im Hintergrund immer noch grummelnden BMWi-Gutachten von 2hm, das damit politisch definitiv neutralisiert werden konnte. – Der Minister macht mit geschickter Taktik mürbe und setzt sich schließlich durch.

 

Die Selbstverwaltung macht sich klein

Beispiel zwei: Die gematik wird „auf Vordermann“ gebracht. Selbst wenn der entsprechende Bericht des Bundesrechnungshofs an den Haushaltsausschuss des Bundestags vom 18. Januar nicht bestellt gewesen sein sollte – der Zeitpunkt konnte nicht günstiger sein. Der Änderungsantrag zum TSVG Nr. 27a vom 29. Januar 2019 war ein Paukenschlag. Das BMG zieht nicht nur künftig in die gematik-Gesellschafterversammlung ein – es sichert sich zugleich einen Stimmanteil von 51 Prozent und nimmt damit das Steuer in die Hand, da künftig die einfache Mehrheit für Entscheidungen ausreichen soll. Die „entschlossene“ Übernahme der gematik durch das BMG erfolgt dabei zu einem Zeitpunkt, zu dem die Etablierung der Telematik-Infrastruktur wirklich vor der Türe steht: Fast die Hälfte der Praxen ist inzwischen ausgestattet; vier Konnektoren sind zugelassen; die Kostenregelung für die Einbeziehung der Krankenhäuser steht etc. Minister Spahn schwingt sich gerade noch rechtzeitig auf das Pferd, um als Sieger durch den Triumphbogen einzureiten. Dabei hatten zwischenzeitlich viele den Knoten aufgedröselt, aber unser Digitalminister fuchtelt mit dem Schwert, und tut jetzt so, als habe er den gordischen Knoten durchgehauen.

Beispiel drei: Das Leistungsrecht der GKV wird politisch „befreit“. Exemplarisch bei der Krankheit Lipödem sieht der Minister Klienten-Gruppen, die er gern für sich gewinnen möchte (nach Angaben in der BILD an die drei Millionen betroffene Frauen, aber auch die Kliniken, die mit der Liposuktion das gute Geld der Krankenkassen verdienen wollen). Bei dieser Absicht ist der geltende Regelungskanon für das Leistungsrecht der GKV hinderlich. Ende Januar fährt Spahn mit einem Änderungsvorschlag zum TSVG einen Generalangriff gegen die Verfahrensregeln des G-BA. Wenn aus politischer Perspektive der G-BA nicht schnell genug entscheidet oder nicht das gewünschte Ergebnis produziert, soll es faktisch die Möglichkeit einer „Ministererlaubnis“ geben (so ähnlich wie im Kartellrecht), mit der man das G-BA-Verfahren suspendiert. Eine Art „Bypass“ um die für den G-BA verpflichtenden Kriterien der evidenzbasierten Medizin und der damit verbundenen zeitaufwendigen Verfahrensabläufe. In seiner Reaktion bediente sich der G-BA dann eines „Tricks“: Um die Reste der Selbstverwaltungsautonomie zu retten, wird ein Krankheitsstadium des Lipödems als „seltene Krankheit“ definiert, für deren Behandlung weniger strenge Maßstäbe der Methodenauswahl gelten als im Normalfall. So konnten die Träger des G-BA dem Minister ein Stück weit entgegenkommen. Jedoch mit einem hohen Preis: Die Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin werden relativiert und der „Trick“ dürfte Schule machen. Bekanntlich wird bei der der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel die zunehmende „Ophanisierung“ beklagt, die nur zeigt, dass die Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern das Potential hat, immer mehr Krankheiten als „seltene Krankheiten“ einzuordnen.

Im Ergebnis: Die Selbstverwaltung macht sich mit ihrem Kompromiss vor dem Minister so klein, dass sie die Substanz aushöhlt, um derentwillen das Selbstverwaltungssystem eigentlich eingerichtet wurde.

Beispiel vier: Nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts zeigte sich, dass die Kliniken Zuschläge für die Schlaganfallbehandlung nicht hätten abrechnen dürfen, weil die zugrundeliegenden Zeitvorgaben nicht eingehalten wurden. Die Krankenkassen haben konsequenterweise Klagen zur Rückforderung gegen die Kliniken angekündigt. Im Pflegepersonalstärkungsgesetz sollte diese Klagemöglichkeit daraufhin mit einem in letzter Minute eingebrachten Änderungsantrag ausgebremst werden, mit dem die Verjährungsfrist rückwirkend von vier auf zwei Jahre verkürzt werden sollte. Der Termin des Inkrafttretens wurde auf den Tag der dritten Lesung des Gesetzes festgelegt. Obwohl damit die Absicht verbunden war, es den Kassen unmöglich zu machen, noch Klagen zu erheben, ist es der GKV in einem organisatorischen Kraftakt gelungen, einige zehntausend Klagen einzureichen.

 

Sozialgerichtsbarkeit wird abgewatscht

Diese „Klageflut“ empfanden der Minister und die Gesundheitspolitiker der Koalition als empörend (und nicht etwa die von ihnen beabsichtigte Behinderung eines rechtsstaatlichen Verfahrens). Wie dem auch sei: Der Minister versammelte am 4. Dezember die beteiligten Verbände (GKV-SV und Deutsche Krankenhausgesellschaft) zu einem „Mediationsgespräch“. Im Ergebnis erklärten sich die Krankenkassen bereit, ihre Klagen zurückzuziehen (und damit auf einige Hundert Millionen Euro Versichertengelder zu verzichten). Mit welchen Maßnahmen den Kassen gedroht wurde, damit sie klein beigeben, ist nicht offiziell bekannt. Bemerkenswert ist aber, wie freihändig hier die Politik – bei einem von ihr selbst geschaffenen Problem – mit der Gewaltenteilung umgeht: bis an die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit, und manche meinen, auch darüber hinaus. Der Minister gibt den Macher und watscht so nebenbei die Sozialgerichtsbarkeit ab.[2] Wenn unabhängige Justiz nicht passt, muss ihre Wirkung abgewürgt werden.

Was folgt daraus: Ein fast unterwürfiges Verhalten der Klientele gegenüber dem Minister. Immerhin geht es um die Organisationen, die für rund fünf Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen stehen, und die Krankenversicherung, die die Versorgung der gesamten Bevölkerung reguliert und finanziert. Wo gibt es noch selbstbewusst auftretende Akteure dieses Systems mit eigenen Machtressourcen und Mobilisierungsfähigkeit, die die idealtypische Voraussetzung eines Selbstverwaltungssystems sind? Stattdessen schauen alle auf den Minister. Nicht als Repräsentanten der Regierung, die vom Parlament getragen wird. Sondern als Person, die ihre eigene Politik macht.

 

Die SPD spielt fast klaglos mit

Der Koalitionspartner spielt dabei fast klaglos mit. Abgesehen davon, dass in der SPD ohnehin nur noch Karl Lauterbach zur Gesundheitspolitik sprachfähig ist. Die Erosion von Kompetenz ist evident, und Lauterbach persönlich wäre ja nur allzu gerne selbst Ministers – gepeinigt von der Frage, ob er dann genauso durchschlagend wirken könnte wie der aktuelle Amtsinhaber.

Die beschriebene Entwicklung hat schon bei Ulla Schmidt begonnen. Da hatte sich jedoch noch was geregt, bei den Ärzten und auch teilweise bei den Krankenkassen. Ihr GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das seinen Namen bekanntlich nur zum Etikettenschwindel trägt, hat jedoch seine Wirkung voll entfaltet. Man braucht gar keine förmliche Verstaatlichung des Gesundheitswesens, wenn es auch so gelingt, alle Akteure auf den Minister und seine Behörde auszurichten. Der politische Entlastungeffekt besteht sogar fort: Wenn etwas schief läuft, hat das BMG immer noch den einen oder anderen Sündenbock. Aber wirkliche Gestaltungskraft geht von einer so „formierten“ Selbstverwaltung nicht mehr aus.[3]

 

[1] Der Soziologe Norbert Elias beschreibt „Die höfische Gesellschaft“ (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 423, erste Auflage 1983) als Ergebnis eines Prozesses, in dem es dem französischen „Sonnenkönig“ Ludwig dem XIV. gelang, die politischen und wirtschaftlichen Ambitionen seiner Pairs und der höheren Ränge des Adels zugunsten der Zentralgewalt auszuschalten. Die domestizierten Adligen seien im Versailler Hofstaat abhängig geworden von einem System der persönlichen Gunstverteilung durch den König (was freilich längerfristig auch den König zum Gefangenen seines Systems werden ließ).

[2] Das Nötige dazu hat der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Dr. Rainer Schlegel, bei der Präsentation des Jahresberichts des BSG am 5. Februar erklärt.

[3] Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhardt brachte in den 60er Jahren das Konzept der „formierten Gesellschaft“ (urspr. von Rüdiger Altmann) in die öffentliche Diskussion. Danach sollten die gesellschaftlichen Gruppen auf ihre Sonderinteressen verzichten und durch eine starke staatliche Autorität auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden.


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