05.02.2018
Europa und die Soziale Dimension
Dr. Robert Paquet
Die Neubestimmung der Europapolitik steht nicht erst seit dem Vorstoß des französischen Präsidenten Macron auf der politischen Tagesordnung. Spätestens seit dem Brexit-Votum ist das Thema auch in Deutschland akut und kontrovers. Unsere Volksparteien haben dazu auf ihrem Weg in die Große Koalition ambitionierte und optimistische Akzente gesetzt. Die proeuropäische Euphorie muss aber immer in der kleinen Münze der konkreten Regelungen eingelöst werden. Das betrifft auch die oft ausgeblendete „Soziale Dimension“ der europäischen Einigung. Sie hat jedoch stets eine wichtige Rolle gespielt, jedenfalls seit den Regelungen zur innereuropäischen Migration von Arbeitskräften. An zwei konkreten Beispielen aus diesem Bereich kann gezeigt werden, dass die europapolitischen Hoffnungen des „Sondierungspapiers“ und die restriktive deutsche Praxis im Umgang mit der EU in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen.
Zur Einstimmung soll ein Blick auf das Sondierungspapier der mutmaßlichen Partner einer Großen Koalition dienen. Europa war ja das Herzensthema des SPD-Vorsitzenden Martin Schulz, und die SPD beansprucht, dass dieser Textteil wesentlich aus ihrer Feder stammt. Dass das Thema aufgegriffen wird, ist uneingeschränkt zu loben, denn für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Problemen gibt es echten Bedarf. Leider zeigt sich, dass das europapolitische Konzept der GroKo-Sondierer mehr Fragen aufwirft als es löst. Wenn die herbeigeredete Euphorie verflogen ist, wird die Bevölkerung wieder nach dem konkreten Nutzen und den Beschwernissen fragen, die sie von Europa hat. Das Dilemma wiederholt sich dann auf allen Ebenen. Zwei aktuelle Initiativen der EU (Reflexionspapier der Kommission zur Sozialen Dimension und ihr Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Berufe-Regulierung) illustrieren, wohin man kommt, wenn man gleichzeitig Gas gibt und auf der Bremse steht.
Sondierungspapier
Für den „europapolitischen Aufbruch“ wird im ersten Satz die EU als „historisch einzigartiges Friedens- und Erfolgsprojekt“ gerühmt. Gerade das hat die frühere Verfassungsrichterin Gertrud Lübbe-Wolff am 6. Januar in der FAZ als „politischen Kitsch“ gekennzeichnet, der zur Begründung einer Vertiefung der Union nicht tauge, sondern in die Irre führt. (Der Friede sei vielmehr Resultat der Ost-West-Konfrontation und in Westeuropa einer pax americana im Rahmen der NATO u.s.w.). Das gilt auch für eine andere Behauptung im Sondierungspapier: „Nur gemeinsam können wir unsere Werte und unser solidarisches Gesellschaftsmodell, das sich mit der Sozialen Marktwirtschaft verbindet, verteidigen.“ Die darin unterstellte Gemeinsamkeit stellt sich nämlich schnell als Wunschtraum heraus, wenn man etwa die politischen „Werte“ in einigen osteuropäischen EU-Mitgliedern anschaut, die „Solidarität“ am Scheitern einer „europäischen Flüchtlingspolitik“ misst und die Sehnsucht nach der Sozialen Marktwirtschaft im Lichte der Arbeitnehmerrechte in Rumänien und Bulgarien betrachtet.
Unabhängig von solchen wohlwollenden, doch naiven Sätzen stehen einige konkretere Vorhaben im relativ langen „Europakapitel“. Der schwerwiegendste Punkt ist: Man will das „Europäische Parlament stärken“ und dafür (offenbar ohne Vorleistung) deutsche Souveränitätsrechte abgeben. Das scheint zunächst einmal nur auf mehr Geld für die EU hinauszulaufen:
- Ausbau des europäische Investitionsprogramm EFSI,
- Jugendarbeitslosigkeit mit mehr Mitteln der EU bekämpfen,
- Soziale Grundrechte, insbesondere das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU wollen wir mit einem Sozialpakt stärken und …. eine bessere Koordinierung der Arbeitsmarktpolitik.
- Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln.
Insoweit ist es konsequent zu formulieren: „Wir sind auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit“, ganz abgesehen davon, dass mit dem Brexit ohnehin höhere EU-Beiträge auf Deutschland zukommen werden. Wenn es aber heißt: „Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionrecht verankert sein sollte“, werden deutsche Rechte aufgegeben. Es geht nicht – wie der Text suggeriert – um eine endlich erstrebenswerte bessere „parlamentarische Kontrolle“, sondern im Gegenteil, um die Preisgabe einer effektiven Kontrolle durch den Deutschen Bundestag in diesen Fragen, (auf die ja sonst viel Wert gelegt wird, etwa bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr). In jedem Sozialkunde-Lehrbuch kann man dazu nachlesen, dass gerade das Budgetrecht, das hier in wesentlichen Teilen nach Straßburg hinübergereicht werden soll, das vornehmste Recht des Parlamentes sei. …
Dass mit diesen Zugeständnissen der Weg in die Transferunion beschritten wird, kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wenn die Absicht bekundet wird: „Insgesamt lassen wir uns davon leiten, dass die EU für Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ebenso wie für ihre Bürgerinnen und Bürger stehen muss. Das Prinzip der wechselseitigen Solidarität muss auch für den EU-Haushalt gelten.“ Wenn die dann pflichtschuldig nachgeschobene „Risiko und Haftungsverantwortung“ der Mitgliedstaaten so praktiziert wird wie bisher im Falle Griechenlands, brauchen sich die Koalitionäre keine Gedanken mehr zu machen, wie die deutschen Steuermehreinnahmen verwendet werden sollen. Ob das die Wähler der Unionsparteien und der SPD so gemeint haben?
Nichts gegen das Europäische Parlament. Es wird aber – nicht nur bei den GroKo-Koalitionären – wenig darüber nachgedacht, welcher Begriff von Demokratie und Parlamentarismus ihm zugrunde liegt: So haben z.B. die kleinen Staaten eine Mindestzahl von sechs Mandaten; das gilt schon für den kleinsten EU-Staat Malta (mit 430.000 Einwohnern, bei dem man bekanntlich die Staatsbürgerschaft kaufen kann), Zypern (mit 1,1 Mio. Einwohnern) und Estland (1,3 Mio.). Deutschland stellt zwar mit 96 die größte Zahl an Parlamentsmitgliedern (bei über 82 Millionen Einwohnern). Die Proportionen zeigen jedoch, dass die Repräsentation auf einen Staatenbund zugeschnitten ist und nicht auf die der Bevölkerung. Außerdem sollte bei aller Begeisterung für Europäische Demokratie beachtet werden, dass schon jetzt ein Fünftel der Euro-Parlamentarier entschiedene Gegner der Union sind und lieber heute als morgen die EU verlassen würden. Bei der nächsten Europawahl dürfte diese Gruppe noch um die deutsche Variante (AfD) bereichert werden.
Die Stärkung der EU ist sicher in vieler Hinsicht sinnvoll, und einiges davon steht auch im Sondierungspapier: Koordinierung der Steuerpolitik, Außengrenzen der EU wirksamer schützen, kohärente Afrika-Strategie, gemeinsame Klimapolitik etc. Die angesprochenen, weit darüber hinausschießenden Absichten haben aber offensichtlich den Charakter von Übersprungshandlungen. Weil schon die positive Darstellung bzw. Rechtfertigung der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand so schwer ist, phantasiert man ein Stadium dieses politischen Gebildes herbei, das so weit entfernt und unrealistisch ist, dass man getrost alle Wünsche und Problemlösungen darauf projizieren kann.
Dabei beruht die Gemeinschaft zur Zeit vor allem auf dem Binnenmarkt und hat hier auch ihre größten Erfolge. Man könnte beispielsweise an den Brexit-Verhandlungen lernen, wie wertvoll die meisten Binnenmarkt-Elemente von anderen eingeschätzt werden. Von hier aus müsste realistischerweise auch der Gedanke der „Wertegemeinschaft“ ansetzen und begründet werden: Der Binnenmarkt stärkt nämlich vor allem Freiheiten und setzt sie gleichzeitig voraus. Er sichert z.B. Mindeststandards der Beschäftigung, der sozialen Sicherung und des Verbraucherschutzes, er wendet sich gegen Diskriminierung (und für die Gleichheit der Geschlechter, der Nationalitäten und Rassen) etc. Den Politikern der GroKo-Parteien gelingt es jedoch nicht einmal, ihren Anhängern die vier Grundfreiheiten (und die notwendige Weiterentwicklung der EU – mit Augenmaß – auf dieser Basis) positiv zu erklären.
Hier liegt nämlich das Problem der Deutschen mit der EU. Der freie Warenverkehr wird wohl noch am meisten geschätzt (wobei gerade die Deutschen von dem z.T. krassen Lohn- und Sozialgefälle innerhalb der EU profitieren). Schon die Freizügigkeit kommt nur noch gut weg, wenn Urlaubsreisende keine Passkontrollen mehr über sich ergehen lassen müssen. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern (z.B. polnische und rumänische Pflegekräfte in deutschen Pflegediensten) wird dagegen schon skeptisch betrachtet wegen Lohn- und Qualifikations-Dumping etc.. Die Dienstleistungsfreiheit ist in der Bewertung heikel, denn sie gefährdet – in den Augen vieler, u.a. der hiesigen Gewerkschaften – die öffentlichen Aufträge deutscher Firmen (während der Dienstleistungsexport deutscher Architektur- und Ingenieurbüros als selbstverständlich hingenommen wird). Am schlimmsten steht es mit dem freien Kapitalverkehr, weil der per se als unmoralisch gilt. Und so weiter.
Auf diesem Gebiet läge also die echte Herausforderung einer (Neu-)Begründung des Europa-Gedankens in der deutschen Bevölkerung. Das wäre wahrlich nicht zu bescheiden, sondern als Aufgabe groß genug. Die damit zwangsläufig verbundenen Weiterentwicklungen auch des Gemeinschaftsrechts haben es nämlich in sich. Der „Aufbruch für Europa“ sollte sich besser darauf konzentrieren, statt sich in Utopien (wie den „Vereinigten Staaten von Europa“) zu ergehen.
Die beiden folgenden Beispiele sind aktuell und zeigen im Einzelfall, wie schwierig es jeweils ist, konkrete Schritte zur Vertiefung der Europäischen Einigung zu gehen. Denn bei der Einschränkung nationaler Regelungskompetenzen (und erst recht bei der Akzeptanz von Standards, die hinter den meist angeblich „besten“ deutschen zurückbleiben), geht es ans „Eingemachte“.
Reflexionspapier der Kommission zur Sozialen Dimension
Der Bundesrat hat am 15.12.2017 das „Reflexionspapier der Kommission zur sozialen Dimension Europas COM(2017) 206 final“ (BR-Drucksache: 353/17) beraten. Mit diesem Papier konkretisiert die Kommission die im Weißbuch zur Zukunft der EU skizzierten Szenarien für den Bereich der Sozialpolitik, um darüber eine breite Debatte anzustoßen. Auf dem Sozialgipfel im November 2017 in Göteborg wurden bereits erste Schlüsse zum Reflexionspapier gezogen.
Immerhin stellt die Kommission in der Einleitung fest, dass das Vertrauen der europäischen Völker „in die Fähigkeit Europas, die Zukunft zu gestalten und gerechte und prosperierende Gesellschaften hervorzubringen, erschüttert“ sei. Zwar fänden sich hier „die Gesellschaften mit der ausgewogensten Wohlstandsverteilung weltweit“. Dies sei „eine Realität, die in der gesamten Union hoch geschätzt“ werde. Es herrschten jedoch „unterschiedliche Ansichten darüber, ob „Europa“ die Ursache von Problemen ist oder deren Lösung. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass der Begriff „soziales Europa“ für die verschiedenen Teile der Gesellschaft eine unterschiedliche Bedeutung und Tragweite hat. Für manche ist der Begriff „soziales Europa“ eine leere Worthülse: Sie sehen die EU als Katalysator für globale Marktkräfte und Vehikel kommerzieller Interessen und befürchten, der unbegrenzte Binnenmarkt könne zu „Sozialdumping“ führen. Andere bestreiten die Notwendigkeit einer sozialen Dimension der Europäischen Union und sind der Ansicht, dass soziale Fragen ausschließlich Angelegenheit der nationalen und regionalen Regierungen sein sollten. Die Sozialpolitik der EU und die Mindeststandards werden sogar als Mittel gesehen, den Wettbewerb auszuschalten.“ (S. 4)
Vor diesem Hintergrund wird die erwähnte Wohlstandsposition eindringlich – positiv und in vielen Facetten – dargestellt. Die Lebensqualität sei weltweit mit am höchsten. Man habe viel erreicht bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Geschlechtergleichstellung sowie bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Durchlässigkeit der Bildungssysteme („Bologna-Prozess“) sei ein Vorteil etc.
Die Europäische Union dürfe daher nicht immer nur „angesichts der zahlreichen Krisen als ‚Feuerwehr‘“ agieren (S. 7). Auch die Soziale Dimension müsse eigeständig weiterentwickelt werden und trage zur „finanziellen Tragfähigkeit unserer Sozialsysteme“ bei. Das gelte insbesondere angesichts des demographischen Wandels: „Durch legale Migration kann die EU die Kompetenzen gewinnen, die nötig sind, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen und zur Nachhaltigkeit der Sozialsysteme beizutragen.“ (S. 16).
In der Gesellschaft gebe es „neue soziale Probleme wie Stress und Depressionen, Fettleibigkeit, umweltbedingte Krankheiten und Technologiesucht … . Diese kommen zu bestehenden Problemen wie sozialer Vereinsamung, psychischen Krankheiten, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Kriminalität und Unsicherheit hinzu.“ (S. 21) „Trotz vieler laufender Reformen sind die bestehenden Wohlfahrtsstaaten nicht immer gut darauf vorbereitet, diese neuen und oft beispiellosen Herausforderungen zu bewältigen.“ (S. 22) In diesem Zusammenhang wird Dänemark gelobt, das z.B. mit dem Modell für „lebenslanges Lernen“ („persönliches Aktivitätskonto“) fortschrittliche Perspektiven entwickelt habe.
Das Reflexionspapier konkretisiert sodann drei Szenarien für die sozialpolitische Zukunft der EU:
- Im Szenario 1 „Begrenzung der sozialen Dimension auf den freien Personenverkehr“ behielte die EU lediglich die Vorschriften zur Förderung des freien grenzüberschreitenden Personenverkehrs bei. Es gäbe keine EU-Mindestnormen mehr, zum Beispiel für die Sicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Arbeits- und Ruhezeiten, die Gleichstellung oder Elternzeit. Auch würde die EU die Mitgliedstaaten nicht länger beim Erfahrungsaustausch in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Kultur und Sport unterstützen. Der soziale Dialog auf EU-Ebene würde auf binnenmarktrelevante Bereiche und Themen beschränkt. Von der EU unterstützte Sozialprogramme müssten weitgehend oder ausschließlich aus nationalen Geldern finanziert werden. Der Globalisierungsfonds und Programme wie „Erasmus+“ und „Kreatives Europa“ würden voraussichtlich entfallen. Die Kommission warnt zu diesem Szenario u.a.: „Die Kluft zwischen den nationalen Arbeitsmärkten würde weiter wachsen. Anstelle einer Annäherung bestünde zunehmend das Risiko, dass die Arbeitskosten auseinanderlaufen und es zu einem ‚Wettlauf nach unten‘ kommt.“ (S. 32).
- Bei Verwirklichung des Szenarios 2 „Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr“ könnten unterschiedliche Gruppen von Mitgliedstaaten im sozialen Bereich gemeinsame Schwerpunkte setzen. Eine Gruppe von mindestens 9 Mitgliedstaaten könne Rechtsakte verabschieden, die nur für diese verbindlich seien. Hierfür böte das im EU-Vertrag vorgesehene Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“ eine Möglichkeit. Gemeinsame Standards könnten sich auf die Arbeitsmärkte, die Wettbewerbsfähigkeit, die Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Verwaltung sowie auf bestimmte Aspekte der Steuerpolitik konzentrieren. Verfügbare Mittel auf EU-Ebene könnten zur Förderung gemeinsamer Aktionen eingesetzt werden. Auch könnten die beteiligten Länder zweckgebundene Fonds einrichten. Weitere Mitgliedstaaten könnten sich solchen Initiativen nachträglich anschließen. Es sei „anerkanntermaßen besser, vorbeugend Anpassungen vorzunehmen“. Dies bedeute jedoch „nicht, dass die Sozialmodelle und Wohlfahrtssysteme dieser Länder identisch werden“ müssten. (ebenda).
- Gemäß Szenario 3 „Die EU-27 vertiefen die soziale Dimension Europas gemeinsam“ verbliebe der Handlungsschwerpunkt im sozialen Bereich bei den nationalen und lokalen Behörden; die EU würde jedoch Möglichkeiten der weiteren Unterstützung der Mitgliedstaaten prüfen und dabei alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen. Die Mitgliedstaaten würden sich auf bestimmte Bereiche einigen, in denen sie alle gemeinsam voranschreiten. Rechtsvorschriften würden nicht nur Mindeststandards festlegen; sie könnten auch in ausgewählten Bereichen die Bürgerrechte in der gesamten Union vollständig harmonisieren, insbesondere um Konvergenz bei den sozialpolitischen Ergebnissen zu erreichen. So könnten für wichtige Parameter verbindliche Richtwerte in Bezug auf eine wirkungsvolle Beschäftigungspolitik sowie leistungsfähige Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme entwickelt werden. Die EU könnte ihre Unterstützung für Projekte im sozialen Bereich von der Zusage abhängig machen, dass solche Richtwerte erreicht oder bestimmte Reformen eingeleitet werden. Zudem könnten europäische Agenturen eingerichtet werden, die über Durchsetzungsbefugnisse verfügen, um die Arbeit der Durchsetzungsbehörden der Mitgliedstaaten zu koordinieren und zu ergänzen.
Dabei drängt die Kommission (im Subtext) natürlich auf Szenario Nr.3. Als Beispiele (positiver) „konkreter Auswirkungen“ werden u.a. genannt:
„- Abschlusszeugnisse werden in allen Mitgliedstaaten gegenseitig anerkannt.
– Tarifverträge für europäische Lkw-Fahrer werden von den europäischen Sozialpartnern koordiniert oder sogar gemeinsam ausgehandelt und gelten einheitlich im gesamten Binnenmarkt.
– Alle EU-Bürgerinnen und -Bürger erhalten eine individuelle Sozialversicherungsnummer, die in jedem Land gültig ist. Anträge, Kontrollen und Zahlungen erfolgen online und völlig unabhängig von Landesgrenzen.
– Das Ruhestandsalter ist in ganz Europa gleich und an die Lebenserwartung angepasst. In einigen Ländern kann dies eine längere Lebensarbeitszeit bedeuten, aber die Renten sind gesichert.
– Die Unternehmen können nicht nur von der nationalen, sondern auch von einer europäischen Arbeitsaufsicht kontrolliert werden.“ (S.35)
Man kann sich unschwer vorstellen, dass z.B. die deutschen Gewerkschaften hier schon mal dagegen wären. Leider sind sie international so gut wie nicht handlungsfähig. Außerdem könnten sie kaum einem Tarifvertrag zustimmen, der aktuelle deutsche Standards unterschreiten würde etc. Diese Ambivalenz gilt auch für andere Institutionen. Warum sollten deutsche Arbeitgeber die französischen Regelungen zur Lebensarbeitszeit goutieren, ganz abgesehen davon, dass die Franzosen gerade dabei sind diese zu ändern. Dabei gilt allgemein: Wenn man in Deutschland die Europäische Union lobt, läuft das im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik regelmäßig auf die Betonung der nationalen Zuständigkeiten hinaus. Was die Behandlung im Bundesrat einmal mehr bestätigt hat.
Das Bundesrats-Plenum ist in seiner Stellungnahme den Empfehlungen seiner Ausschüsse gefolgt (BR-Drucksache: 343/17 (Beschluss)). Zur Sozialen Dimension wurde u.a. folgendes beschlossen:
„34. Der Bundesrat weist auf die unterschiedlichen Sozialmodelle in der EU und die differenziert ausgestalteten Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Bereich hin. Bei einem Ausbau der sozialen Dimension müssen die bestehende Kompetenzordnung, die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten sowie die nationalen Bedürfnisse, Leistungsfähigkeiten und Traditionen berücksichtigt werden.
- Der Bundesrat weist auf die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in der Sozialpolitik als bedeutendem Bereich der nationalen Souveränität hin. Dies gebietet Zurückhaltung hinsichtlich neuer Legislativakte auf EU-Ebene.
- Der Bundesrat betont, dass die zunehmende Digitalisierung und die demografische Entwicklung nachhaltige Auswirkungen auf die zukünftige Gestaltung der Arbeit haben werden. Er ist der Auffassung, dass trotz der Veränderungen ein hohes arbeits- und sozialrechtliches Schutzniveau für alle Beschäftigten sichergestellt werden muss.“
Immerhin gab es dazu einige Reden. Trotzdem war die flaue Stellungnahme des Bundesrats zu erwarten. Es ist zu hoffen, dass sich Deutschland nach der Regierungsbildung auch konkreter mit diesen Alternativen auseinandersetzt. Das sehr Europa-freundliche Kapitel im „Sondierungspapier“ sollte hier gehörigen Druck machen.
Richtlinie zum Verhältnismäßigkeitstest bei Berufe-Regulierung
Spannend wird es beim Europa-Thema meiste erst nach den Sonntagsreden, wenn es um konkrete Maßnahmen, Gesetzentwürfe etc. geht. Ein aktuelles Beispiel ist der Entwurf einer Richtlinie der Europäischen Kommission für die Anwendung eines „Verhältnismäßigkeitstests“ für neue bzw. veränderte Regulierungen „regulierter Berufe“ (COM(2016)0822 – C8-0012/2017 – 2016/0404(COD)). Dabei sind fast alle relevanten Berufe im Gesundheitswesen reguliert. Der Richtlinienvorschlag soll die Freizügigkeit der Berufstätigen in der Gemeinschaft unterstützen und damit die Europäische Dienstleistungsrichtlinie ergänzen.
Mehr als 1.200 zuständige nationale Behörden trugen bereits Informationen in die Datenbank der reglementierten Berufe ein, um für Transparenz bei den Berufsreglementierungen in Europa zu sorgen. Nach dem bisher zweijährigen Prozess der gegenseitigen Evaluierung wurde jedoch deutlich, so erklärt die Kommission, dass die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Reglementierungen vor „Herausforderungen“ stehen. Sechs Mitgliedstaaten hatten ihre jeweiligen Nationalen Aktionspläne nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist vorgelegt. Die Kommission sieht bei einigen Staaten auch Schwächen in den jeweiligen Begründungen. Nun will die Kommission mit einem Kriterienkatalog und dem Vorschlag der Bildung eines Index‘ prüfen lassen, ob die von den Mitgliedstaaten „eingeführten Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die den Zugang zu reglementierten Berufen oder deren Ausübung beschränken, und die Änderungen, die sie an bestehenden Vorschriften vornehmen, notwendig und für die Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sind und nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinausgehen.“ (Artikel 6).
Die Kriterien, die von den Mitgliedstaaten ausführlich dargelegt werden müssten, erstrecken sich z.B. auf
- (c) die Notwendigkeit der Vorschrift und insbesondere, ob bestehende Regelungen spezifischer oder allgemeiner Art, etwa Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Produktsicherheit oder des Verbraucherschutzes, das angestrebte Ziel nicht hinreichend schützen;
- (d) den Zusammenhang zwischen dem Umfang der von einem Beruf erfassten oder einem Beruf vorbehaltenen Tätigkeiten und der erforderlichen Berufsqualifikation;
- (e) den Zusammenhang zwischen der Komplexität der Aufgaben und dem Besitz einer spezifischen Berufsqualifikation …, sowie die Existenz verschiedener Wege zum Erlangen der Berufsqualifikation;
- (f) den Umfang der beruflichen Tätigkeiten, die Inhabern einer bestimmten Berufsqualifikation vorbehalten sind, nämlich ob und warum die bestimmten Berufen vorbehaltenen Tätigkeiten mit anderen Berufen geteilt oder nicht geteilt werden können;
- die wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahme unter besonderer Berücksichtigung der Intensität des Wettbewerbs auf dem Markt und der Qualität der bereitgestellten Dienstleistungen, sowie die Auswirkungen auf den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der Union;
- (j) die Möglichkeit des Rückgriffs auf weniger einschneidende Mittel zur Erreichung des im Allgemeininteresse liegenden Ziels;
- (k) die kumulative Wirkung der Einschränkungen sowohl auf den Zugang zu einem Beruf als auch auf dessen Ausübung, insbesondere wie jede einzelne Anforderung zur Erreichung des im Allgemeininteresse liegenden Ziels beiträgt und ob sie hierfür notwendig ist.“
Unverkennbar sollen mit der Richtlinie der Trend zur Vereinheitlichung der Regelungen verstärkt und der Begründungsaufwand der Mitgliedstaaten für eigene Regelungen bürokratisch massiv erhöht werden. Eigene Regelungen sollen damit künftig weitgehend abgeschreckt werden. Dieses Problem haben die deutschen Ärzte und Zahnärzte frühzeitig erkannt und sich deutlich zu Wort gemeldet: „Die nationalen regulatorischen Modelle können nur im nationalen sozialrechtlichen Kontext des Systems bewertet werden. Sie sind eingebunden in einen breiten gesetzlichen Rahmen. So sind Berufszugang und Berufsausübung in Deutschland eng verwoben mit der berufsständischen Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung ist eines der tragenden Prinzipien des sozialen Sicherungssystems. … Die Selbstverwaltungsorgane entlasten somit den Staat und sind demzufolge gelebte Subsidiarität.“ (Stellungnahem der KBV vom 22.3.2017). Vor diesem Hintergrund haben die Kassenärztliche und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigungen (und die Kammern auf Bundesebene) gefordert, die Gesundheitsberufe ganz vom Geltungsbereich der Richtlinie auszunehmen.
Der einheitliche europäische Rechtsrahmen zur Durchführung von Verhältnismäßigkeitsprüfungen nationaler Berufsreglementierungen sei bereits mit Art. 59 Abs. 3 der Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EU und durch die ständige Rechtsprechung des EuGH gegeben. Die Richtlinie sei damit überflüssig, mindestens unverhältnismäßig. Eine „Empfehlung“ der Kommission hätte (als “milderes Mittel“) auch ausgereicht.
Anfang Dezember 2017 wurde die Beratung des Richtlinienentwurfs im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments abgeschlossen. Eine generelle Bereichsausnahme für Gesundheitsdienstleistungen ließ sich dort nicht durchsetzen. Es gibt jedoch eine Reihe neuer Bestimmungen. So müssen die Mitgliedstaaten im Falle einer berufsrechtlichen Regelung, die die Heilberufe oder die Patientensicherheit betreffen, stets das Ziel eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes berücksichtigen. Für die Gesundheitsberufe wird den Mitgliedstaaten ein größerer Ermessensspielraum bei der Reglementierung ausdrücklich eingeräumt (vor allem Änderungsvorschlag für Artikel 6).
Nicht untypisch dürfte dabei die Beobachtung sein, dass der Text der „Richtlinie“ – so heißen in Europa die Gesetze – schon im Laufe der Ausschussberatungen durch Änderungsvorschläge sein Volumen locker verdoppelt hat. Wie Europaparlament und Kommission weiter damit umgehen, bleibt abzuwarten. Die Ausgestaltung des Binnenmarktes liegt jedoch in der Europäischen Gesetzgebungskompetenz.
Ohne marxistische Basis-Überbau-Theoreme zu bemühen, kann man ganz sachlich feststellen, dass wir nach wie vor in einer Arbeits- und Wirtschaftsgesellschaft leben. Insoweit dürfte es nicht verwunderlich sein, wenn aus den Regelungen zum gemeinsamen Markt immer wieder und immer weitergehende Folgeregelungen erwachsen, die auch in andere gesellschaftliche Regelungsbereiche ausstrahlen. Spätestens an dieser Stelle schlägt oft die Europabegeisterung in Europaverdrossenheit um. Bedauerlicherweise hat das damit zu tun, dass nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung, sondern auch bei vielen Politikern nur wenig verstanden ist, was es mit den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes auf sich hat und wie mächtig sie in das Alltagsleben der meisten Bürger eingreifen. So werden die spanischen Orangen im Supermarkt meist gern genommen. Warum sie dort in Massen angeboten werden, wird jedoch gewöhnlich nicht hinterfragt.
Zurück zum Thema im engeren Sinn: Wenn die Deutschen in den kleinsten Details die Priorität der nationalen Regulierungskompetenz hochhalten und bei Überlegungen zur mittleren Entwicklungsperspektive der „Sozialen Dimension“ Europas auf dem Status quo beharren, aber aus freien Stücken die Transferunion anbieten und grundlegende Souveränitätsrechte des Deutschen Bundestages aufzugeben bereit sind, stimmt etwas nicht. Und zwar nicht nur in Europa, sondern vor allem bei den deutschen Politikern.
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