Gesundheitskiosk – die neue Säule im Gesundheitswesen?

Eine Publikation will das Konzept vorstellen und offene Fragen klären

Dr. Robert Paquet

Reklame für den Gesundheitskiosk wird immer mit seinen Zielen gemacht: Abbau von Ungleichheiten im Gesundheitswesen und die Beseitigung bestehender Zugangsschwellen für benachteiligte Personengruppen zu den Versorgungsangeboten. Wer könnte da schon dagegen sein?

 Für die allgemeine öffentliche Diskussion reicht das als Legitimation meist aus. Es wird nicht weiter gefragt, ob uns das vorgesehene Konzept diesen Zielen tatsächlich näherbringt. Ob die institutionelle Zuordnung der Aufgaben sachgerecht ist. Ob Organisation, Finanzierung und angedachte Allokationsmechanismen sinnvoll und durchdacht sind. Ob es damit Doppelzuständigkeiten gibt etc. Nun ist vor kurzem ein Büchlein[1] herausgekommen, das für die Gesundheitskioske wirbt und Auskunft zu den angesprochenen Fragen verspricht. Sehen wir, welche Antworten wir darin finden.

 

Broschüre in der Reihe „essentials“ äußerst übersichtlich

Seit einigen Jahren gibt es beim Springer Verlag die Reihe „essentials“, die das wissenschaftliche Programm ergänzen soll. „Essentials liefern aktuelles Wissen in konzentrierter Form. Die Essenz dessen, worauf es als ‚State-of-the-Art‘ in der gegenwärtigen Fachdiskussion oder in der Praxis ankommt. Essentials informieren schnell, unkompliziert und verständlich … als Einblick, um zum Thema mitreden zu können.“ So heißt es in der Selbstbeschreibung der Reihe vom Verlag. Die neun Kapitel der 51-seitigen Broschüre sind denn auch äußerst übersichtlich. Sie werden in unterschiedlicher Kombination von den Autoren präsentiert. Im ersten Kapitel wird als „Ausgangslage“ beschrieben, dass es „ganze Communities“, gebe, die im Gesundheitswesen benachteiligt seien. Vor diesem Hintergrund sei es „zwingend notwendig, diverse Communities bei der Durchsetzung ihrer Bedürfnisse und Ansprüche und damit letztlich beim Zugang zu gesundheitlichen Leistungen im Gesundheitssystem zu unterstützen …“ (S. 2). Hervorgehoben wird die Rolle der Kommune, deren Rolle als Akteur im Gesundheitswesen „seit Jahren gestärkt“ werde. Das habe strategische Bedeutung.

Im zweiten Kapitel berichtet Helmut Hildebrandt über die Geschichte: „Vom InnoFonds Projekt zum Gesetzentwurf“. Er gibt eine knappe Beschreibung des Hamburger Modellprojekts Billstedt/Horn als Prototyp für den Gesundheitskiosk. Kurz zitiert er aus dem Evaluationsbericht, der bescheinige, dass die Ziele des Projekts „überwiegend erreicht wurden“. Räumt aber auch ein, dass der Bericht eine gewisse Schwäche der Evaluation eingesteht: „Ein längerer Zeithorizont (3 bis 5 Jahre) sowie eine höhere Einschreibungsrate könnten hier zu aussagekräftigeren und belastbareren Ergebnissen führen.“ (S. 7) Über die Koalitionsvereinbarung der Ampel sei das Konzept im politischen Raum angekommen und schließlich im Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GSVG) gelandet.

 

Nichts Neues über das „Personal im Gesundheitskiosk“

Im dritten Kapitel erhofft man sich etwas mehr Aufschluss über das „Angebotsspektrum eines Gesundheitskiosks“. Man erfährt: „Zentrale Aufgabe des Gesundheitskiosks ist, Hilfe zur Orientierung im Gesundheitssystem zu geben sowie die Vermittlung in verschiedene Angebote.“ (S. 13) Die Breite der beanspruchten Zuständigkeiten reicht von der Sozial- bis zur Familienhilfe, berührt die schulische Elternarbeit und die Schuldnerberatung bis hin zur eigentlichen Lotsenrolle innerhalb des medizinischen Versorgungssystems. Aufgeblasen wird das Kapitel durch glossarmäßige Erläuterungen zur „Community Health“ und „Patient Journey“ etc.[2]

Zum „Personal im Gesundheitskiosk“ (4. Kapitel) erfährt man auch nichts Neues. Das Team soll multidisziplinär sein, mehrsprachig, kultursensibel etc. etc. „Eine wichtige Rolle im Gesundheitskiosk spielen die Gesundheitsberater*innen“. Sie sollen für die Prävention der großen Volkskrankheiten“ sorgen und die bereits Erkrankten bei der Bewältigung ihrer Krankheit unterstützen. Zur „Finanzierung eines Gesundheitskiosks“ erfährt man im fünften Kapitel nicht mehr, als was in dem Gesetzentwurf steht, der den Autoren als Ultima Ratio gilt. Zur Begründung dieser krummen Verteilung von Zuständigkeiten, Verpflichtungen und Zwangsfinanzierung liest man nichts; auch der Gesetzentwurf gibt dazu ja nichts her. Bemerkenswert ist nur, dass die Autoren meinen, dass das „jährliche Finanzvolumen von Gesundheitskiosken eher im Bereich von 600.000 Euro bis 800.000 Euro“ liegen dürfte (als bei den durchschnittlich 400.000 Euro, die der Gesetzentwurf angibt). (S. 29)

Im 6. Kapitel wird erklärt, sinnvoll sei es, als Träger von Gesundheitskiosken eine Betreibergesellschaft einzurichten. Das könne eine GmbH oder auch eine gGmbH etc. sein. So klippschulmäßig geht es weiter. Dabei wird sich diese Frage nach dem Gesetzentwurf künftig gar nicht mehr so stellen, denn die Kommunen und Länder bestimmen ja letztlich, wie sie es haben wollen. Im siebten Kapitel geht es um die Verflechtung des Kiosks „im Sozialraum“. Wir lernen etwas über den Unterschied von Stadt und Land, der für die Angebote eines Kiosks da und dort zu beachten sei. Wichtig ist: „Zur Konzeptionierung eines Gesundheitskiosks ist daher eine Sozialraumanalyse durchzuführen, die zentrale Akteur*innen vor Ort einbeziehen sollte.“

Dabei geht es nicht nur um das regionale medizinische Leistungsangebot, sondern auch um Fragen wie: „Wo halten sich die Menschen im Sozialraum auf? (Schule, Betrieb, Park, religiöse Orte, Friedhof, Sportplatz, Bäcker, Job-Center …)“ (S. 38). Wichtig sei das auch für die Standortwahl eines Gesundheitskiosks. Hier werden außerdem das Quartiersmanagement und die Gemeinwesenarbeit etc. mit einbezogen.

 

Die Erlösungshoffnung ist auch mit dabei

Im achten Kapitel präsentieren Helmut Hildebrandt und Anja Stührenberg (von der in beiden Fällen federführenden OPTIMEDIS AG) exemplarisch die beiden Varianten des Kiosks, einmal im städtischen Raum (Billstedt/Horn) und auf dem Lande (in Thüringen: im Unstrut-Hainich-Kreis). Im Schlusskapitel „Fazit und Ausblick“ stellen die Autoren fest: „Das Versorgungskonzept lebt davon, dass eine gut funktionierende Netzwerkstruktur in den unterschiedlichsten Sozialräumen aufgebaut wird und die beteiligten Netzwerkakteur*innen inmitten der zu erwartenden oder bereits eingetretenen Fachkräfteknappheit damit gleichermaßen entlastet werden.“ (S. 47) Ja, da ist sie wieder: Die Erlösungshoffnung, die noch jedes Reformvorhaben im Gesundheitswesen begleitet hat (Disease-Management-Projekte, MVZ, elektronische Gesundheitskarte, elektronische Patientenakte, Level 1i-Krankenhäuser etc.). Damit werden immer alle Probleme gleichzeitig gelöst: die Integration der Sektoren, mehr Effizienz, glücklichere Leistungserbringer und Patienten.

In diesem Geiste geben die Autoren ihrer Hoffnung Ausdruck: „Gesundheitskioske werden eine Schlüsselrolle spielen in der notwendigen Transformation der heutigen Gesundheitsversorgung … zu regionalen Gesundheitslösungen“, die mehr auf Vorsorge und Gesunderhaltung ausgerichtet sind. Im letzten Satz wird schließlich – wie könnte es auch anders sein – noch die Brücke zu den „Gesundheitsregionenverträgen“ geschlagen (S. 48), die diese Transformation ebenfalls stützen sollen. Spätestens da muss jedem Leser klar werden, dass die Autoren mit lauter Seifenblasen jonglieren, in denen bestenfalls heiße Luft ist. Der Koalitionsvertrag ist voll davon. Das gilt z.B. auch für die Community Health Nurses (S. 19), die es nicht wirklich geben kann, solange das Diagnosemonopol bei den Ärzten verbleibt. Etc.

 

Hinweise über Leistungsangebote der Gesundheitskioske bleiben kläglich

So bleiben auch die Hinweise, was die Gesundheitskioske tatsächlich an gesundheitlichen Leistungen erbringen sollen, kläglich. Viel mehr als das (bekannte) Blutdruck- und Blutzuckermessen sowie „subkutane Spritzen“ im Delegationsverfahren kommt in diesem Text nicht vor. Der Rest sind Aufgaben, die einer funktionierenden Sozialberatung der Kommunen obliegen würden. Oder den Kranken- und Pflegekassen selbst, die nach dem Sozialgesetzbuch zur umfassenden Beratung verpflichtet sind. Es gibt die Pflegestützpunkte, es gibt ein Entlassmanagement, es gibt die Terminservicestellen der KVen etc. Es ist eine völlig hypertrophe Vorstellung, dass die Kioske das (gar nicht so) schlechte Funktionieren aller dieser Einrichtungen kompensieren könnten. Auch wenn die Autoren daraufsetzen, dass die Gesundheitskioske eine neue „Säule im Gesundheitswesen“ werden (S. 21), ist bestenfalls damit zu rechnen, dass ein paar Säulchen entstehen. Deren Unterstützung mag dann für regionale Krankenkassen eine gewisse Marketing-Bedeutung haben.

Zu den seit dem Koalitionsvertrag und der Präsentation der Eckpunkte diskutierten zentralen Fragen bietet der Text dagegen keine (bzw. keine neuen) Argumente: So wäre z.B. zu begründen, warum ausgerechnet die Kommunen mehr koordinierende Verantwortung in der Versorgung übernehmen sollen. Wo sich gerade in der Pandemie gezeigt hat, dass deren Öffentlicher Gesundheitsdienst in einem desaströsen Zustand ist. Oder es wäre zu begründen, warum die Kommunen die Kassen zwingen können sollen, mehrheitlich für Aufgaben zu bezahlen, die sie eigentlich selbst erfüllen müssten. Oder warum (und wo) es sinnvoll ist, 1.000 solcher Kioske einzurichten? Dass die Kommunalisierung die Probleme im Gesundheitswesen löst, können sowieso nur ideologisch bereits Gefestigte glauben. An die wendet sich das Kiosk-Konzept.

 

Informationsgehalt geht nicht über Gesetzentwurf hinaus

Zwei denkbare Lesergruppen kommen in Frage: Für diejenigen, die schon etwas von den Gesundheitskiosken gehört haben, ist der Text überflüssig und geht im Informationsgehalt nicht über den Gesetzentwurf hinaus. Für diejenigen, die sich erstmals über das Thema informieren wollen, sei ebenfalls die Lektüre des Gesetzentwurfs und der Begründung empfohlen. Das bringt allemal mehr als das vorliegende Traktätchen.

 

[1] Heike Köckler, Anne Roll, Michael Wessels, Helmut Hildebrandt: „Gesundheitskiosk – Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven“, Springer Verlag Fachmedien, Wiesbaden 2023. Buchreihe essentials.

[2] Es ist verlegerisch schon eine Dreistigkeit, bei 48 Netto-Textseiten rund neun Seiten mit solchen lexikalischen Belehrungen zu füllen (neben weiteren fünf völlig leeren Seiten). So kann man etwa lernen, was den Unterschied von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ausmacht (S. 26)!

 

Lesen Sie zu diesem Thema auch:

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Anja Klose, „Vorschlag für eine neue Anreizstruktur für Gesundheitskioske“, Observer Gesundheit, 17. Oktober 2022,

Dr. Matthias Gruhl, „1, 2, 3,…, ganz viele Gesundheitskioske“, Observer Gesundheit, 2. September 2022,

Dr. Robert Paquet, „Integrierte Versorgung vor Drohkulisse“, Observer Gesundheit, 19. Januar 2021,

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, „Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene – eine Replik und Diskussion“, Observer Gesundheit, 18. Januar 2021,

Dr. Robert Paquet, „Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene“, Observer Gesundheit, 11.November 2020.

 


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