Integrierte Versorgung vor Drohkulisse

Erwiderung auf die Analyse von Dr. h.c. Helmut Hildebrandt

Dr. Robert Paquet

„Gesundheitsregionen – Aufbruch für mehr Verlässlichkeit, Kooperation und regionale Verankerung in unserer Gesundheitsversorgung“ heißt ein Antrag der Grünen-Fraktion vom August 2020. Er findet sich inhaltlich auch im Grundsatzprogramm der Partei wieder. Eine gut abgestimmte integrierte Versorgung muss zur Regel werden – ist das Ziel. Wie das erreicht werden könnte, hat Dr. h.c. Helmut Hildebrandt mit 18 weiteren Autoren in dem Aufsatz „Integrierte Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene“ ausgearbeitet. In einer ersten Analyse hat Dr. Robert Paquet den Inhalt bewertet, Hildebrandt hat darauf reagiert. In dieser Analyse antwortet wiederum Paquet, der die Grünen auffordert, „noch einmal über den politischen Preis dieser Wahl und die inneren Widersprüche des Konzepts nachzudenken. Die anderen Parteien sollten jedenfalls die hier aufgeworfenen Fragen ernst nehmen und nach besseren Lösungen suchen.“ Wir laden gern weitere Autoren ein, sich an diesem Diskurs über die anzustrebende Struktur des Gesundheitswesens auf unserer Plattform zu beteiligen. 

 

Vorbemerkung

Auf einige der Hauptpunkte meiner Kritik geht Helmut Hildebrandt gar nicht ein; ich komme am Schluss darauf zurück. Doch wenden wir uns zunächst den Punkten zu, die er ausführlicher aufgreift und durchaus etwas klarer macht. Trotzdem erweist sich das Konzept auch nach den Erläuterungen als höchst voraussetzungsvoll.

 

Rolle der Gesundheitskonferenzen und Landkreise/Gebietskörperschaften

Wenn es bei den regionalen Gesundheitskonferenzen vor allem darum geht, „Ziele für die Optimierung der Gesundheit und der Versorgung in der jeweiligen Region (zu) formulieren und lokale Interessenten dazu (zu) animieren, sich für „Regionale Verträge der Integrierten Versorgung“ bei den Krankenkassen zu bewerben“, kann ich damit leben. Kritisch sehe ich jedoch, dass die Kommunen unter bestimmten Bedingungen die Krankenkassen zwingen können sollen, Verträge mit Leistungserbringern oder Managementgesellschaften abzuschließen. Damit ginge die autonome Verantwortung der Selbstverwaltung verloren.

Der zentrale Akteur in dem Konzept sind jedoch die regionalen Gesundheitsmanagementgesellschaften (GMG), deren Rolle durch die Replik durchaus plastischer wird: Die Kommunen sollen deren Gründung anregen und ihre Arbeit unterstützten, aber nur unverbindliche Zielvorgaben machen. Die Managementgesellschaften sollen dann die Krankenkassen für Verträge gewinnen, wenn sie plausibel machen können, wie sie Prävention und Versorgung für die Versicherten dieser Kassen im Sinne von mehr Effizienz beeinflussen können. Wenn das alles freiwillig bliebe: Warum nicht?

Nach diesen Verträgen sollen die Kassen die GMGs mittel- und langfristig durch einen Teil ihres Effizienzgewinns finanzieren. Diese haben dadurch ein Interesse, sich auf tatsächlich kostenwirksame Aktivitäten zu konzentrieren. Die Gesundheitskonferenzen sollen die lokalen Managementgesellschaften allerdings kontrollieren, z.B. um Tendenzen zur Unterversorgung bzw. zum Qualitätsdumping vorzubeugen. Dass sie dafür mehr (und schneller) Daten zur lokalen Versorgung und deren Kosten brauchen, liegt auf der Hand.

In der Langfassung wird dieses Konzept des „Public Reporting“ relativ ausführlich dargestellt und soll als politisches Druckmittel für Veränderungen genutzt werden. Diese Überlegung ist aus meiner Sicht zu unterstützten. – Entsprechende Forderungen dazu aus der Versorgungsforschung und von den Krankenkassen gibt es seit langem und in großer Vielfalt. Dass etwa ärztliche Abrechnungsdaten den Krankenkassen frühestens nach zwei weiteren Quartalen zur Verfügung stehen, liegt nicht an technischen Hindernissen, sondern an der Politik. Sie schützt bisher die Leistungserbringer vor allzu direkter Beobachtung und sichert sich damit z.T. auch ein arkanes Herrschaftswissen. Wenn „nationale und landesweite Rahmenfestlegungen und Planungen … damit nicht überflüssig“ werden, ist das realistisch gedacht. Sie müssten aber zum Teil flexibler ausgestaltet werden, um den Managementgesellschaften (und Kassen) vor Ort mehr Handlungsspielräume zu eröffnen. Das ist nur zu wahr.

 

Rolle regionaler Gesundheitsmanagementgesellschaften

Nach der Replik (und der Lektüre des Regionalkonzepts für den Werra-Meißner-Kreis[1]) kann man sich besser vorstellen, was diese Gesellschaften machen sollen. Es spricht einerseits etwas dafür, dass sie nicht als weisungsgebundene Einrichtungen der Krankenkassen agieren, die dem Verdacht ausgesetzt wären, vor allem das Ziel der Kostendämpfung zu verfolgen. Andererseits spricht etwas dafür, diese Gesellschaften nicht als Einrichtungen der Kommunen zu betreiben. Denn sie würden ebenfalls Vorurteilen begegnen, wären zum Teil an die kommunalen Tarife gebunden oder müssten das öffentliche Vergaberecht beachten etc. Ohnehin wäre die Aufgabe nicht trivial, kompetentes Personal für diese Gesellschaften zu akquirieren.

Sie allerdings als privatwirtschaftliche Unternehmen, mit der Absicht der Gewinnerzielung zu konzipieren, dürfte nicht einfach zu vermitteln sein. Nicht nur deshalb, weil ihre Aufgaben von weiten Teilen der Bevölkerung als Teil der Daseinsfürsorge begriffen und daher den Gebietskörperschaften unmittelbar zugerechnet werden. Jedenfalls dürfte die Erwartung eher auf Gemeinnützigkeit als auf Gewinnerzielung gerichtet sein. Die Gesellschaften müssten somit eine heikle Balance einhalten: Einerseits genügend Gewinn zu machen, um sich selbst zu refinanzieren. Andererseits jedoch – trotz des erklärten Ziels, in der Versorgung Einsparungen zu erzeugen – das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Gemeinwohl-Orientierung nicht zu verlieren. Eine solche Konstellation ist nur dann gegeben, wenn es bei fast allen Beteiligten vor Ort einen großen Vertrauensvorschuss in das Konzept und die handelnden Akteure gibt. Eine weitere Grundvoraussetzung wäre, dass die mittragenden Kreise und Kommunen bereit sind, längerfristig durchzuhalten, ggf. auch bei wechselnden Mehrheiten in den parlamentarischen Gremien vor Ort. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass sich z.B. die in den 80er und 90er Jahren sehr engagierte Healthy-Cities-Bewegung langfristig als wenig wirksam erwiesen hat.

Die konkreten Aufgaben der Gesellschaften: Einsatz für Gesundheitsförderung und Prävention sowie die Beeinflussung der Behandlungsroutinen der Leistungserbringer (durch die Organisation von Ärztenetzwerken und Fallkonferenzen, die Entwicklung von gemeinsamen Leitlinien, durch die Diskussion schwieriger Medikation etc.). Dazu muss man zunächst feststellen, dass es dabei um Aufgaben geht, die grundsätzlich im bestehenden System schon zugeordnet sind, aber von den zuständigen Institutionen oft nicht (ausreichend) wahrgenommen werden. Vor dem Hintergrund dieser frustrierenden Situation ist die Suche nach einem neuen Ansatz verständlich. Wie die Managementgesellschaft aber tatsächlich wirken soll, vor allem durch Überredung und „Nudging“, kommt mir nach wie vor seltsam vor. Auch wie und mit welchen Mitteln sie „investieren“ soll, außer vielleicht in die Organisation von Ärztezirkeln bzw. Selbsthilfegruppen, bleibt nebulös. Wenn aber wirklich in die Leistungsprozesse eingegriffen (oder auch nur auf sie eingewirkt) werden soll, geht es um mehr: Diese Prozesse sind oft öffentlich-rechtlich reguliert. Hier bedürfte es wahrscheinlich mehr Flexibilität und großzügigerer Ausnahmeregelungen (auch von den oft bürokratischen Verfahrensvorschriften und Richtlinien des G-BA) als in der Neufassung des § 140a enthalten sind[2].

Diese Bedenken sollen indes nicht heißen, dass im Sinne des Konzepts von Helmut Hildebrandt und seiner Ko-Autoren gar nichts geht. Immerhin gibt es das Kinzigtal, das Projekt im Werra-Meißner-Kreis und ein paar andere tatsächlich. Gerade die beweisen aber vor allem eines: Dass die Umsetzung dieses Konzepts auf einer hohen Konsensbereitschaft der örtlichen Akteure beruht. Das spricht nicht gegen seine Vervielfältigung; vielleicht entspricht es sogar dem gemeinschafts-suchenden Zeitgeist. Es spricht aber entschieden gegen seine verpflichtende Einführung dort, wo seine gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Das dürfte aber auf absehbare Zeit nur in wenigen Regionen der Fall sein.

So könnten Prävention und Versorgung zusammengehen, wenn auch unter besonderen Bedingungen. Vielleicht war diese Vorstellung bei der Einführung der §§ 20 ff. des SGB V auch mal vorhanden. Heute müsste man aber die Mehrheit der Kassen vor Ort dazu bewegen, gemeinsam in diesem Sinne zu handeln (trotz Wettbewerb) und sie außerdem dazu berechtigen, mehr zu tun als gegenwärtig vorgeschrieben und zugelassen[3]. – Dann wäre auch verständlich, dass die „Verträge“ (d.h. die „teilstandardisierten Vertragsvorbilder“) nur sehr spröde beschrieben werden: Wenn es nur um die Verträge der Kassen mit den Managementgesellschaften geht, nach denen letztere für die kostendämpfenden Effekte belohnt werden sollen, also zur Mechanik der Refinanzierung, könnten sie knapp und „standardisiert“ sein. Das wären aber keine Selektivverträge nach § 140a, denn diese sind mit Leistungserbringern (oder auch GMGs) abzuschließen, aber auch nur, so weit es um Versorgungsleistungen geht.

 

„Freiwilligkeit“ oder „Verbindlichkeit“

H. Hildebrandt wendet sich gegen meine Vorstellung von vertraglichen Versorgungmodellen mit Einschreibung und Wahltarifen. Er unterstreicht demgegenüber die „Freiheit“ der Patienten und Leistungserbringer im Sinne von „Unverbindlichkeit“ als entscheidendem Vorteil des Regionalmodells. Das kann und wird m.E. gesellschaftlich nicht funktionieren. Ich will dagegen Vertragsfreiheit für Versicherte und Leistungserbringer. Das heißt Freiwilligkeit zum Abschluss von Bindungen, d.h. von Verträgen (mit den Kassen), in denen bestimmte Ziele und entsprechende Regeln vereinbart werden sollen. Das dient der Transparenz. Versicherte sollen sich einschreiben, aber wissen, worauf sie sich einlassen. Man kann auch großzügige Ausstiegs- oder Kündigungsregeln vereinbaren. Aber nur ein relativ geschlossenes System der Beteiligten kann zeigen, ob veränderte Regelungen (die erwünschen) Effekte haben (auch wegen der Empirie mit Daten). Verträge haben aber gewisse Verbindlichkeiten zur Folge: Leistungen (und auch Verhaltensänderungen) müssen normalerweise bezahlt bzw. belohnt werden. Ohne finanzielle Preismechanismen geht es m.E. nicht. „Verbindlichkeit“ steht somit für wechselseitige Verpflichtung. Das ist die Idee der Selektivverträge, die nicht umsonst in der Logik des SGB V zu Wahltarifen im Sinne des § 53 Abs. 3 führen. Erst recht, wenn sie regional besondere Regelungen treffen sollten. Es geht bei ihnen ja um die Abweichung/Ergänzung/Ablösung der Kollektiverträge (Gesamtverträge) auf Landesebene und ggf. von bundesweiten Regelungen.

H. Hildebrandt macht mir nun aber klar, dass es um Verträge der Kassen mit Leistungserbringern gar nicht geht, sondern in erster Linie um „community building“, („Nudging“-Optionen etc.). Ich erlaube mir, nach wie vor, an dem Erfolg (und der ethischen Unbedenklichkeit) solcher persuasiven Sozialtechniken zu zweifeln. So weit auch „extrinsische wirtschaftliche“ Anreize gemeint sind, führt das wieder auf die Frage zurück, welche Verträge die Managementgesellschaften (und auf welcher Rechtsgrundlage) mit den Leistungserbringern schließen sollen bzw. dürfen. Auch an den „hohen Grad der Gemeinwohlorientierung“ der „Unternehmen und Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen“ glaube ich nur, so weit er mit deren eigenen Interessen übereinstimmt (die freilich nicht nur auf Geld, sondern auch z.B. auf Status, soziale Anerkennung etc. gerichtet sind).

Wie die von Sabine Richard zitierte Idee, Empfehlungen des 90a-Gremiums verbindlich für dreiseitige Verträge (zur integrierten Versorgung) zu machen, mit den regionalen Managementgesellschaften zusammenhängt, kann ich nicht nachvollziehen.

Beruhigend ist, dass auch H. Hildebrandt sieht, dass sich die „klassischen Konfliktthemen und die Kämpfe der Berufsgruppen untereinander natürlich nicht durch die Generierung von regionalen Gesundheitsmanagementgesellschaften in „Wohlgefallen“ auflösen“. Dass sich Konflikte auf der lokalen Ebene ggf. leichter überbrücken lassen, mag da und dort gelten. Ich erlaube mir jedoch den Hinweis: Manchmal ist genau das Gegenteil der Fall. Es gibt „Erbfeindschaften“ benachbarter Krankenhäuser etc. Das wäre kein Grund, lokale Kooperationen nicht zu nutzen, wo es geht. Natürlich! Aber ein guter Grund dagegen, das Regionalmodell zu verallgemeinern. Der „nationale Aktionsplan“ will bis zum Jahr 2030 zwar „nur“ 25 Prozent der Bevölkerung einbeziehen. Für die „Drohkulisse“ in den teilnehmenden Landkreisen wird das Vorgehen jedoch aggressiver beschrieben: Wenn nach „zwei bis drei Jahre“ nicht „mindestens 75 % der GKV-Versicherten“ einbezogen worden sind, gibt es die Möglichkeit der Ersatzvornahme durch die Gebietskörperschaften (zu finanziellen Lasten der Krankenkassen).

Die beiden angeführten Beispiele (der Hinweis auf die „Blankverordnung“ kam ja von mir) sind Wasser auf meine Mühle: Sowohl beim Direktzugang zur Physiotherapie als auch beim Impfen durch Apotheker sind die Dinge eben nicht mit lokaler „Kärrnerarbeit“ und Vereinbarungen in Bewegung zu bringen. Bei beidem ging und geht es nur mit Gesetzesänderungen (SGB V und Berufsrecht etc.). Das sieht dann ganz danach aus, dass wirklich effektive Änderungen nicht ohne Abweichungen von gesetzlichen Regelungen geht (wie es u.a. in 140a-Verträgen vorgesehen ist). Kommen hier die Kassen schließlich doch noch mit gewissen Aufgaben ins Spiel?

 

Diskussion über Nutzen statt über Zuständigkeiten

H. Hildebrandt spricht meinen Vorschlag zur Teilung der Zuständigkeiten von Kassen (für die Finanzierung der Leistungen) und Kommunen (für Gesundheitskompetenz und Prävention[4]) kritisch an: Dass Kommunen dabei bisher weitgehend versagen, liegt nicht nur an fehlendem Willen und mangelnden Kompetenzen, sondern sie haben auch kein (ökonomisches) Motiv. Hier mag das Engagement der Managementgesellschaften (vielleicht mit einer gemeinsamen Anschubfinanzierung durch Kommunen und Kassen) ein sinnvoller Ansatzpunkt sein.

Dass Kassen im Wettbewerbssystem die ihnen zugeschriebenen Präventionsaufgaben bisher vor allem im Sinne der Individualprävention betreiben und die Populationsorientierung verfehlen, liegt auf der Hand. Das liegt aber an einer Fehlkonstruktion im Gesetz. Wie in meiner Kritik ja angesprochen, müssten die populationsorientierten Aufgaben entweder den Kommunen übertragen werden (mit Finanzausstattung und Überprüfung der Erfüllung) oder sie müssten den Kassen als Aufgaben zum einheitlichen und gemeinsamen Vollzug gestellt werden. Ob den Managementgesellschaften die „gesamthaften Optimierung“ der Prozesskette (von der Prävention bis zur Palliativversorgung) gelingt, und sie nicht an der „Überkomplexität“ scheitern, bliebe abzuwarten. Vor allem die systematische Einführung von Case-Management, insbesondere für bestimmte chronische Erkrankungen) wäre wichtig. Das „sich kümmern“ kostet aber erst einmal Geld und hat potentielle Einspareffekte erst in vielen Jahren. Die sind bekanntlich umso schwerer nachzuweisen, je länger die Zeit dauert.

Zur Überschreitung von Landkreisgrenzen will ich nur anmerken: Wenn die Gesundheitsmanagementgesellschaft des einen Kreises tatsächlich empfehlen würde, „eher das im Nachbarkreis stehende größere Krankenhaus zu nutzen als die qualitativ geringer besetzte Klinik im eigenen Kreis“. Dann möchte ich gerne sehen, ob sie noch die Unterstützung des Landrats und der lokalen Zeitung hat. – Die „Transformation“ eines Krankenhauses ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die Umwandlung z.B. in ein „integriertes Versorgungszentrum“[5] stößt bei den „Klinikträgern“ bekanntlich meist auf wenig Gegenliebe.

 

Der politische Plan – changierend

Was H. Hildebrandt und mich gemeinsam umtreibt, ist die Stagnation der ordnungspolitischen Diskussion und die Ideenlosigkeit der aktuellen Gesundheitspolitik. Auch dass die Kassen bisher mit Selektivverträgen nicht viel am Hut haben und weitgehend in der Lethargie der Kollektivverträge verharren, ist für beide Diskutanten frustrierend. Diese Erstarrung liegt nicht nur an der restriktiven Aufsicht und an dem „Gruppenegoismus“ verstockter Vertragspartner etc. Es liegt auch an den Kassen selbst. Die Frage ist: Wie bringt man da Bewegung rein? Die regionale Ebene wäre dafür kein falscher Ansatzpunkt, wenngleich den Ländern und den AOKen dabei meist nur die föderalen Grenzen einfallen (die mit „Versorgung“ wenig zu tun haben). Wie kann man Anreize setzen, dass z.B. Kassen mehr gemeinsame Vertrags-Projekte zur integrierten Versorgung angehen? Auch die Populationsorientierung könnte ein neuer Angelpunkt für die konzeptionelle Debatte sein.

Das Modell des Vertragswettbewerbs der Kassen hat sich dagegen als Motor für die Integrierte Versorgung nicht bewährt. Auch das sehen beide Diskutanten so. Allein schon deshalb, weil die Politik die kassenspezifische Ausdifferenzierung der Versorgung (bei aller zeitweiligen Wettbewerbs-Rhetorik) nicht wirklich will.

Wenn versorgungspolitische Fortschritte anders möglich wären, wäre für mich der Kassenwettbewerb der geringere Wert. Man müsste dann aber auch klar aussprechen, dass er bei einer „einheitlichen und gemeinsamen“ Regionalpolitik der Kassen keine wichtige Rolle mehr spielt. Die Tendenz ginge zu regionalen Einheitskassen und einem Wettbewerb der Regionen. (Den die Politiker vielleicht eher ertragen könnten als unterschiedliche Vertragsangebote konkurrierender Kassen).

Dann wäre da noch der „regierungsamtliche Aktionsplan“, der die Kassen bis zum Jahr 2025 zwingen soll, für 10 % (und bis zum Jahr 2030 für 25 %) der deutschen Bevölkerung „regionale populations- und out-comeorientierte Verträge nach § 140a“ abzuschließen. Damit ist H. Hildebrandt auf der Suche nach einem „langfristigeren Rahmen-Management“, das „eine entscheidende Voraussetzung für das Mikromanagement-Feuerwerk“ in den Landkreisen schaffen könnte.

Das Ziel mit dem Mikromanagement ist ja gut. Die Autorengruppe will aber mehr: Der „regierungsamtliche Aktionsplan“ soll mit massiven finanziellen Konsequenzen für die Kassen durchgedrückt werden (mit dem langfristigen RSA-Zu- und Abschlagsmodell). Die Kassen stünden also unter starkem Druck mitzumachen.

Wenn es denn entsprechende Verträge nach einem umgestalteten § 140a gäbe, wäre hier nicht doch eine höhere Verbindlichkeit für die Beteiligten erforderlich (also das Einhalten von Regeln, Einschreibung der Versicherten etc.)? Dann gäbe es immer noch das Problem, welchen Inhalt solche Verträge haben sollen. Davon, dass der Zeitplan etwas überambitioniert ist, gar nicht zu reden. Sollte man daher beim „Rahmen-Management“ nicht lieber bei der Freiwilligkeit bleiben – wo die Situation vor Ort wirklich „reif“ dafür wäre – und die Möglichkeit solche Verträge „nur“ mit Anreizen versehen?[6]

Beim Thema „langfristige Investitionssicherheit“ für Krankenhausbetreiber wäre (neben den Grundproblemen der DRG-Finanzierung und der nicht-funktionierenden dualen Finanzierung) ein zielführender Vorschlag, auf die ohnehin insuffiziente Krankenhausbedarfsplanung künftig zu verzichten und stattdessen den Kassen und Kliniken die Möglichkeit zu geben, langfristige leistungs- und bedarfsorientierte Verträge mit finanziellen Anreizelementen abzuschließen.

 

Rolle der Krankenkassen

H. Hildebrandt betont, „es gehe den Autoren nicht um ein staatliches Gesundheits-Einheitssystem, sondern um ein primär privatwirtschaftlich (vl. zu einem kleineren Teil auch kommunalwirtschaftlich) organisiertes, aber (a) durch die Finanzierungsform und (b) durch die öffentliche regionale Unterstützung und Beobachtung auf eine Maximierung des Gemeinwohls hin orientiertes freiheitliches Gesundheitssystem im regionalen Wettbewerb“. – Da kann das mit dem „regionalen Wettbewerb“ noch stimmen. Der Rest dagegen ist eine Contradictio in adjectum. Wer eine populationsorientierte Vertragspolitik will, muss dann auch sagen, dass die Pluralität der Kassen überflüssig ist, bzw. der Kassenwettbewerb ins Leere läuft. Und es müsste auch klar sein, dass die bundeseinheitlichen Honorierungssysteme für die Leistungserbringer (EBM und DRGs) nicht einfach weiterlaufen können, so wie es in der Langfassung betont wird. Schließlich gilt das auch für den Verteilungsmechanismus der GKV-Einnahmen im bundesweiten RSA-System: Konsequent weitergedacht müsste es dann wirklich regionale Finanzierungs-Teilsysteme geben, also für unterschiedliche Versorgungsaufgaben auf unterschiedlichen Ebenen: „Regionalbudgets“.

Dass es in letzter Konsequenz auf eine regionale Einheitskasse hinausläuft, zeigt auch der Schwellenwert der „Drohkulisse“: Die Ersatzvornahme soll dann einsetzen, wenn nicht „mindestens 75% der GKV-Versichertengemeinschaft“ in einer Region mitmachen. Mit dieser Anforderung zeigt das Modell, dass es nur funktionieren kann (und soll?), wenn praktisch alle Kassen dabei sind. In einer „populationsorientierten“ Vertragswelt könnte es übrigens auch keine „Selektivverträge“ mehr im Sinne von § 140a geben, sondern es ginge auf lokaler Ebene um neue „Kollektivverträge“.

Dann hätte man tatsächlich eine grundlegende „Neuausrichtung“ des deutschen Gesundheitssystems. Leider wird von den Autoren nicht klar genug gesagt, wie weit sie wirklich gehen wollen.

 

Schluss

Eine solche Replik der Replik kann nur fragmentarisch sein. H. Hildebrandts Entgegnung trägt durchaus zur Klärung bestimmter Aspekte des Konzepts bei. Dafür ist ihm zu danken. Das betrifft aber überwiegend die Punkte, die ich gar nicht so kritisch finde. Meine Haupteinwände gegen das Konzept beziehen sich auf den politischen Rahmen. Dabei geht es erstens um die Eignung der „Region“ bzw. der Landkreise als Steuerungsebene und als mächtige Institutionen, die die Krankenkassen unter Druck setzen sollen, sich auf ein bestimmtes Regionalmodell einzulassen. Zweitens wende ich mich gegen die Zwangsmechanismen, denen die Kassen (und mittelbar die Leistungserbringer in den Regionen) ausgesetzt wären, sowie gegen die Idee, Manipulationen am RSA zum Motor für den Abschluss bestimmter Verträge zu machen. Das nach langen Auseinandersetzungen mühsam konsolidierte RSA-System würde damit wieder ins Trudeln geraten (wer aber keine plurale Kassenlandschaft braucht, der muss sich auch nicht sehr für deren internen Risikoausgleich interessieren). Drittens glaube ich nicht an das sichere Eintreffen der ökonomischen Effizienzgewinne („Einsparungen“) bei diesen regionalen Verträgen und überhaupt bei der „integrierten Versorgung“. Viertens empfinde ich es nach wie vor als Widerspruch, wenn einerseits beteuert wird, für alle Versicherten und alle Leistungserbringer soll alles ganz freiwillig bleiben, andererseits aber allein die Kassen streng verpflichtet werden, das Sozialexperiment zu finanzieren. Schließlich bleibt immer noch offen, welche Verträge eine Rolle spielen und wie die Managementgesellschaften auf die Leistungserbringer einwirken sollen. Das „schillert“ alles so; jedenfalls Verträge nach § 140a SGB V sind das nicht, oder diese müssten noch sehr viel weiter entwickelt werden.

Trotzdem hält H. Hildebrandt in dankenswerter Klarheit an der politischen Zuspitzung des Konzeptes fest[7]. Im vorletzten Abschnitt seiner Replik wird erklärt, angesichts des „Zeitverzugs von aktuell mehr als 20 Jahren“ für Fortschritte bei der Integration der Versorgung dürfe man es nicht mehr bei „freundlichen Incentives … belassen“, sondern müsse eine eindeutige Drohkulisse … schaffen“. Das bezieht sich auf die vorgeschlagene „Ersatzvornahme“ durch die Gebietskörperschaft. Der angesprochene Schwellenwert für die Reichweite der Verträge muss „innerhalb eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren nach der erstmaligen Aufforderung durch die [regionale] Gesundheitskonferenz“ überschritten werden. Wenn nicht, könnte die kommunale Gebietskörperschaft „Direktvereinbarungen mit dem Gesundheitsfonds über den Kopf der Krankenkassen hinweg“ schließen und „die weiterhin gezahlten Aufschläge auf die Zuweisungen (und ebenso die späteren Abschläge) direkt an die Managementgesellschaften/kommunalen Einrichtungen“ weiterleiten.

Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Meine Kritik dazu ist ganz entschieden: Wenn man die Rolle des (potentiellen) Steuermanns bei der Integrierten Versorgung (IV) den Kassen wegnimmt und den Kommunen überträgt, macht man den Bock zum Gärtner. Die Kommunen haben sich bisher – vielleicht bis auf wenige Ausnahmen – nicht für diese Rolle qualifiziert. Man würde damit die bundesweite Einheitlichkeit der Versorgung in sehr hohem Maße preisgeben und stattdessen den regionalen Egoismen überantworten. Außerdem zeigt sich dabei ein Vertrauen in die Aufsicht (BAS), das jedem, der damit Erfahrungen hat, den Atem verschlägt. Bei aller Unzulänglichkeit der Kassen liegt bei ihnen immer noch das größte Potential für Fortschritte bei der IV und beim Case-Management der Patienten. So unfruchtbar, wie oft befürchtet wird, ist die Szene übrigens nicht. Damit die vielen (kleinen) Ansätze mehr Kraft entwickeln, braucht es auch nicht den ganz großen Hebel, sondern es geht um das richtige Stellen vieler kleiner Schrauben[8]. Das wäre – mit der richtigen Zielsetzung – eine gesetzgeberische „Kärrnerarbeit“ ganz eigener Art.

Schließlich drängt sich an dieser Stelle erneut der fundamentaler Widerspruch des Konzepts auf: Für den Erfolg vor Ort ist ein besonderes Vertrauen und der Konsens (fast) aller Beteiligten Bedingung. Daher wäre bei einer (gegen den Willen maßgeblicher Akteure) erzwungenen Einführung, der Misserfolg programmiert.

Zugegeben: Danach bleibt die Frage offen, wie man ohne solche „Drohkulissen“ mehr Schub und Förderung für die integrierte Versorgung und konkrete (regionale) Kooperationsansätze schaffen kann? – Dazu kann es hier nur einige Andeutungen geben: So war die damalige „Anschubfinanzierung“ für die IV (jeweils die Hälfte aus dem ambulanten und dem stationären Budget[9]) ja durchaus erfolgreich. Das könnte man in ein längerfristiges Förderkonzept umbauen. Auch die Finanzierung des Krankenhauszukunftsfonds könnte in modifizierter Form beispielhaft sein: Ein Antrag mit einer glaubwürdigen Selbstverpflichtung müsste dann (bis zu einer gewissen Obergrenze) gefördert werden. (Das im Moment hier geltende Antragsverfahren bei den Ländern ist nicht transparent und wird zur politischen Willkür tendieren; hier könnte man z.B. eine weitere Antragsstufe einbauen, für eine „zweite faire Chance“.) Ein Ansatz könnte auch sein, für die Kassen ein (längerfristig angelegtes) „Innovationsbudget“ zu definieren, das sie für eine Region erhalten, wenn sie sich gemeinsam darum bewerben[10]. Das wäre immer noch eine gute Alternative zum gouvernementalen Modell des Innovationsfonds, das vollständig auf die punktuelle Weiterentwicklung der sog. Regelversorgung ausgerichtet ist. Dabei könnte es – auch aus meiner Sicht – durchaus sinnvoll sein, die Kassen für bestimmte Vorhaben zu gemeinsamem Handeln zu motivieren und sogar zu verpflichten.

Ganz am Ende seiner Replik lädt H. Hildebrandt dazu ein, die Diskussion dieser Überlegungen im Hinblick auf die Wahlprogramme der Parteien für die kommende Bundestagswahl fortzuführen. Dem ist nur zuzustimmen. Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben bereits eine Vorentscheidung für das Regionalmodell getroffen. Ihnen sei geraten, noch einmal über den politischen Preis dieser Wahl und die inneren Widersprüche des Konzepts nachzudenken. Die anderen Parteien sollten jedenfalls die hier aufgeworfenen Fragen ernst nehmen und nach besseren Lösungen suchen.

 

[1] Gesunder Werra-Meißner-Kreis: „Wir schaffen Gesundheit für die Region – Meilensteine 2019/2020“ Stand Juni 2020. (Foliensatz)

[2] Änderungen durch das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG).

[3] Das wäre tatsächlich eine sinnvolle Gemeinschaftsaufgabe der GKV, anstatt die Präventionsangebote als Marketing-Instrumente zu benutzen. Das dagegen gesetzte Konzept der Politik, die BZgA mit dem Geld der Kassen „Setting-Konzepte“ entwickeln zu lassen, hat bisher keine überzeugenden Ergebnisse erbracht.

[4] Nach § 1 SGB V sind die Kassen zwar für allerlei schöne Dinge zuständig: „Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten.“ Das ist aber ein Programmsatz für Sonntagsreden. Nach meiner Meinung sind die Kassen damit überfordert und dafür nicht geeignet. In der Wirklichkeit sind sie doch (bis auf vielleicht kleine BKKs oder die Knappschaft) höchsten noch im finanztechnischen Sinne „Solidargemeinschaften“. Für Gesundheitsförderung haben sie ein zu wenig aktives Verhältnis zu ihren Versicherten. Jedenfalls gibt es bei denen viel weniger Identifikation mit „ihrer“ Kasse als mit der Wohnort-Kommune.

[5] Andreas Schmid et al.: „Intersektorale Gesundheitszentren – Ein innovatives Modell der erweiterten ambulanten Versorgung zur Transformation kleiner ländlicher Krankenhausstandorte“, Gutachten im Auftrag der KBV, Bayreuth, Oktober 2018.

[6] Die Möglichkeit der regionalen Flexibilisierung von SGB- und G-BA-Regelungen wird – jedenfalls ansatzweise – schon jetzt durch § 140a in der Fassung des GPVG eingelöst.

[7] Was ja auch dem Antrag von Bündnis90/DIE GRÜNEN in Bundestags-Drucksache 19/21881 zugrunde liegt: „Gesundheitsregionen – Aufbruch für mehr Verlässlichkeit, Kooperation und regionale Verankerung in unserer Gesundheitsversorgung“.

[8] Vgl. zum Beispiel Ursula Hahn/Clarissa Kurscheid (Hrsg.): „Intersektorale Versorgung – Best Practices – erfolgreiche Versorgungslösungen mit Zukunftspotenzial“, Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden, 2020, und meine Besprechung dazu im OBSERVER Gesundheit am 04.01.2021.

[9] In diesem Sinne durchaus ein „kombiniertes Budget“.

[10] Abgewandelt zu dem damaligen Vorschlag eines „kassenindividuellen Innovationsbudgets“, um die „Innovationsfähigkeit des Systems“ und eine „experimentelle Kultur“ zu fördern.“ Vgl. Herbert Rebscher (Hg.): „Update: Solidarische Wettbewerbsordnung“, DAK-Schriftenreihe Band 11, Hamburg 2015.


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