22.02.2021
Fast ein Jahr Corona – Erfahrungen und Anmerkungen der ambulanten Pflege
Thomas Meißner, Vorstand Anbieterverband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG)
Die Corona-Pandemie hat die ambulante Pflege auch mit der 2. Welle voll im Griff. Auch wenn jetzt mehr Routine eingekehrt ist und einiges sich eingespielt hat. Viele Fragen stellen sich im Nachhinein. Was hat Corona mit der ambulanten Versorgung gemacht? Was wurde durch die Pandemie mehr als deutlich, woran wir arbeiten müssen? Welche Defizite waren spürbar? Was bedeutet der Virus für die Arbeit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Haben wir etwas aus dieser Krise gelernt? Es geht vor allem um die Frage nach den Strukturen. Waren und sind wir künftig auf solche Krisenfälle, wie wir sie mit der Corona-Pandemie haben, vorbereitet? Vor allem hierauf soll eine Antwort gegeben werden. Denn nur dann, wenn alle an einem Strang ziehen, können Krisen bewältigt werden. Gerade hier gab es ein großes Manko.
Festzuhalten bleibt: Die Herausforderungen der Corona-Pandemie waren und sind für die ambulante Pflege nichts Neues. Die Profession Pflege ist auch auf die mit Hygiene zu bewältigenden Aufgaben gut vorbereitet. Wenn sie denn alle hierfür notwendigen Hilfsmittel zur Verfügung hat. Das war der Knackpunkt. Schutzmaterialien haben an allen Ecken und Enden gefehlt. Die Situation war doppelt prekär: für die Mitarbeiter, wie auch für die Patienten.
Ämter, Behörden, Kassen sind abgetaucht
Heute, viele Monate nach dem Ausbruch der Pandemie, sind alle namhaften und beteiligten Institutionen, Verwaltungen und Behörden endlich an Bord. Die meisten davon reden jetzt sehr konkret über das, was sie noch im März und weit bis in den Mai selbst nicht wussten oder lieber auch nicht wissen wollten. Sie sprechen über Anforderungsprofile, Notwendigkeiten, Zusammenhänge und Verpflichtungen für die ambulante Pflege.
Viele Ämter, Behörden, Abteilungen der Ministerien, Kassen, Sozialhilfeträger und Institutionen waren im letzten Jahr über viele Monate und Wochen abgetaucht und kamen der neuen Arbeitsbezeichnung „Homeoffice“ nach. Sie waren im Untergrund, immer gut geschützt mit all dem Schutzmaterial, welches in der direkten Pflege nicht vorhanden war. Heute postulieren sie ihren Beitrag, natürlich ihren positiven, bei der Bewältigung der Gesamtaufgabe COVID-19. Das klingt dann manchmal nach Münchhausen. Der ambulanten Pflege ist jedoch nicht zum Lachen zu mute. Denn diese sah sich plötzlich mit dem Sicherstellungsauftrag, der den Kassen selbst obliegt, konfrontiert. Auf dessen Erfüllung haben die Kassen immer wieder hingewiesen. Ohne, dass diese selbst dafür sorgen, dass dem auch tatsächlich immer nachgekommen werden konnte.
Spagat geglückt?
Vom ersten Tag der Corona-Pandemie an ging es um eine wesentliche Abwägung, es ging um einen Spagat, es ging um die Entscheidung zwischen dem absolut notwendigen Schutz des Personals und die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, also die Aufrechterhaltung der Kapazitäten durch ambulante Pflegedienste.
Noch einmal sei heute daran erinnert, dass es bereits im Februar 2020 kaum noch Masken und andere Schutzmaterialien gab. Nicht nur das Klopapier und die Küchenrollen, auch Desinfektionsmittel für Hände und Flächen und weitere wichtige Utensilien waren plötzlich bundesweit nicht mehr zu bekommen.
Abseits der Pflege – meist schlecht vorbereitet
Festzuhalten bleibt: Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gezeigt, wie schlecht vor allem große Institutionen, Gesundheitsämter, Kranken- und Pflegekassen, Sozialhilfeträger, vor allem aber auch der Katastrophenschutz auf so eine Pandemie vorbereitet waren. Enttäuschend war, wie wenig Verständnis hier teilweise für die Situation vor Ort vorhanden war. Vielleicht auch darin bedingt, dass man selbst keine Lösungen hatte, und auch Angst, dass man selbst in die Verantwortung genommen wird. Verbunden mit: „Hoffentlich kann die ambulante Pflege das!“ Sie konnte nicht nur – sie hatte keine Wahl und musste!!
Lediglich die Landes- und die Bundespolitik sind hier positiv zu erwähnen. Sie haben in den ersten Wochen der Pandemie 2020, direkt mit den Anbietern zusammen fast in täglicher Abstimmung für praktikable Lösungen für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit gesorgt. Nötig dafür waren keine Studien, keine großen Abhandlungen; gefragt waren praxisorientierte Lösungen, Innovation und ein partnerschaftliches Miteinander. Gefragt war ein effektives Handeln zwischen Politik und Leistungsanbietern. Angehörige und Patienten haben in bewundernswerter Weise diesen Prozess mit viel Verständnis mitgestaltet. Bis heute gibt es hier einen guten Dialog.
Gleichfalls positiv war, wie unkompliziert vom GKV-Spitzenverband und der Bundespolitik mit Beteiligung der Leistungserbringerverbände Lösungen gefunden wurden, finanzielle Ausgleiche zu finden – Risiken pragmatisch zu finanzieren. Hier haben die Beteiligten gezeigt, dass es kreative, vor allem aber praxisnahe, wirkungsvolle Instrumente gibt und man sie gemeinsam finden und anwenden kann, wenn man will. Die jetzt angekündigten „Neuerungen“ des ‚Rettungsschirmes Pflege´, gehen dagegen leider in die falsche Richtung. Misstrauen, statt Vertrauen! Kommt der Alltag von vor Corona so schnell zurück? Haben wir so wenig gelernt? Welche entscheidende Beiträge kamen aus dem Homeoffice?
Ambulante Pflege hat geliefert
Wie hat die Bewältigung des ersten Jahres der Corona-Pandemie die ambulante Pflege verändert? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ambulanten Diensten – und insgesamt der Profession Pflege – haben tagtäglich den „Tanz auf dem Vulkan“ bewältigt, am Anfang ohne wirkliche Schutzmaßnahmen, mit viel Kreativität, vor allem aber mit Engagement und selbstlosem Einsatz für die „Sache“. Dagegen war – um dies nochmals zu betonen – das Risiko für die bereits angesprochenen Institutionen um ein Vielfaches geringer. Diese nutzen den Schutzschild des Homeoffice.
Die ambulante Pflege hat gezeigt, wie bewundernswert leistungsfähig sie ist. Mit der Hilfe von Kreativität und dem gegenseitigen Zusammenhalt ihrer Mitarbeiter wurde die Versorgungssicherheit aufrechterhalten. Auch die Solidarität der Einrichtungen untereinander im Austausch von Schutzmaterial und die Unterstützung der Berufs- und Arbeitgeberverbände haben enorm dazu beigetragen, dass die ambulante Pflege zum allergrößten Teil funktioniert hat.
Dieser aufopferungsvollen Arbeit auf der einen Seite stand auf Seiten der lokalen Kassen wenig gegenüber. Ein Beispiel. In einem Schreiben der AOK-Nordost vom 28.04.2020 heißt es auf die Mitteilung eines ambulanten Pflegedienstes, dass in einer betreuten Seniorenwohnanlage einige COVID-19-Fälle ausgebrochen sind und die Versorgung nicht sichergestellt werden kann: „Sollte es Ihrem Pflegedienst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht möglich sein, die Versorgung der Patienten sicherzustellen, erinnern wir Sie an die vertraglichen Voraussetzungen.“ Danach folgen Ermahnungen, wie und wo überall die Sicherstellung im Rahmenvertrag und sonst wo geregelt ist. Am Ende des Schreibens heißt es: „Sollte es bei der Überleitung der Patienten zu Schwierigkeiten kommen, bitten wir Sie darum, Ihren Berufsverband um Unterstützung zu bitten.“ So kann gelebte Hilfe auch aussehen. Und so sah sie denn auch seitens der Kassen, zumindest in Berlin aus.
Pflegedienste haben die Krise bewältigt
Ambulante Pflegedienste sind vielfach kleine und mittelständische Einrichtungen, die in bemerkenswerter Weise schnell, unkompliziert, vor allem aber zielgenau mit viel Praxisnähe dem eingangs erwähnten Spagat zwischen dem Schutz der Mitarbeiter und der Gewährleistung von Versorgungssicherheit begegnet sind. Ohne das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne diese Kreativität wäre das zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen. Wer heute darüber spricht, warum kleine, mittelständische Unternehmen in der kritischsten Phase keine Pandemiepläne hatten, die passgenau auf alle Fragen und Herausforderungen Lösungen anboten, geht weltfremd und praxisfern durch diese Welt.
Die ambulante Pflege braucht dringend Antworten auf entscheidende Fragen. Die Leistungsanbieter müssen lernen, professionelles Handeln noch klarer und deutlicher nach außen darzustellen. Pflegerisches, medizinisches, vor allem aber unternehmerisches Handeln muss gelernt und weitergebildet werden. Mit diesem Wissen müssen praxistaugliche Lösungen gefunden werden. Entscheidungen während der ersten Phase der Corona-Pandemie, aus dem Bauch, die mit Intuition und Empathie getroffen wurden, brauchen heute und in Zukunft klare Strukturen und Prozesse. Dabei soll die Empathie nicht in den Hintergrund geraten, vielmehr soll sie die neu gewonnenen Erkenntnisse und geschaffenen Strukturen leitend begleiten.
Lehren aus der Corona-Pandemie
Obwohl die ambulante Versorgung seit Jahren nicht auskömmlich finanziert ist, obwohl Kostenträger in Berlin, egal ob Kranken-, Pflegekassen oder Sozialhilfeträger, keine Sonntags-, Feiertags-, Nacht- oder Spätdienstzuschläge in der ambulanten Pflege zahlen, hat es immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegeben, die auch zu ungünstigen Zeiten die Versorgung übernehmen. Das wird auf Dauer nicht weiter gelingen.
Wenn wir in Deutschland nicht schnellstmöglich flächendeckend die ungünstigen Arbeitszeiten, die die Work-Life-Balance wesentlich beeinflussen, mit Zuschlägen von bis zu 150 Prozent entlohnen, werden wir den totalen Zusammenbruch der Versorgung in spürbarer Nähe erleben. Wir müssen finanzielle Anreize schaffen, damit auch bislang ungünstige Arbeitszeiten Attraktivität erhalten. Wir brauchen für diese Zeiten Zuschläge, die so hoch sind, dass „keiner“ mehr von Montag bis Freitag arbeiten möchte. Nur so kann die Abwanderung der Berufsgruppe in die Büros gestoppt – nein – eine gute Alternative in und mit der Versorgung von Menschen geboten werden.
Die Corona-Pandemie hat in vielen Betrieben einen engeren Zusammenhalt, ein neues Wir-Gefühl entwickelt. Diese Kraft des gemeinsamen Handelns darf nicht unendlich strapaziert, vor allem aber nicht ausgenutzt werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten Dienste waren und sind jeden Tag vor Ort. Vor Ort im Hotspot, in Familien mit ungewissen möglichen Infektionsketten. Sie tun trotz der Corona-Gefahren ihren Dienst, sind motiviert, freundlich und erbringen mit viel Empathie und hoher Fachkompetenz ihre täglichen Aufgaben.
Eine der Herausforderung in dieser Corona-Pandemie und darüber hinaus war, dass die meisten Pflegedienste seit Wochen und Monaten keine Kapazitäten oder nur begrenzte für neue Patienten hatten bzw. haben. Mit Beginn der Pandemie sagten plötzlich viele Patienten bzw. Angehörige ab, weil sie zum einen die Angst vor Infektionen hatten, zum anderen wollten sie aber auch die Versorgung selbst übernehmen, da sie bedingt durch Homeoffice zuhause waren und natürlich auch das Geld für die Versorgung brauchten. Auch dies hat für enorme Herausforderungen in den ambulanten Einrichtungen gesorgt.
Blick in die Zukunft
Es ist zu hoffen, dass die ab Frühjahr sicher wiedereinsetzenden MDK-Prüfungen nach einem Jahr Corona-Pandemie sich nicht darauf reduziert, exzessiv Pandemie-Konzepte auf eine 100-prozentige-Vollständigkeit zu prüfen und möglicherweise festzustellen, dass einige Dienstversammlungen und Protokolle nicht ordentlich in dieser Zeit geführt wurden. Es war eine richtige und gute Entscheidung, die zusätzliche Belastung – nämlich die Qualitätsprüfung – auszusetzen. Nun ist die Zeit gekommen für partnerschaftliches Miteinander, für einen Austausch, für ein gemeinsames Ringen nach Lösungen und für das Anknüpfen an bewährte und bilateral sinnvolle Strategien. Und diese auch auf den Prüfstand zu stellen. Das gilt beispielsweise für manche Verordnungs- und Genehmigungswege. Hier haben die letzten Monate gezeigt, dass manches auch unbürokratischer geht und gehen muss.
Das Bestreben der Kassen und sonstigen Kostenträger sollte darin bestehen, mehr Vertrauen in die ambulanten Pflegedienste zu haben. Diese haben gezeigt, was sie leisten können. Die aufgekommene einseitige Meinung, die fehlenden Qualitäts-Prüfungen hätten zu einem massiven Qualitätsverlust in den Einrichtungen geführt, war dafür weder hilfreich noch zielführend. Wer ambulante Versorgung langfristig sichern will, muss diese finanziell und strukturell fördern. Es müssen Investitionen in sie getätigt werden.
Aktuell sieht es danach aus, dass seitens der Kostenträger sehr schnell viel vergessen wird. Die Rückkehr zum Status-quo vor der Corona-Pandemie läuft, anstatt die Chancen und Erfahrungen der letzten Monate zu nutzen. Monatelang wird wieder über Rahmenverträge, über Entgeltsteigerung getrennt und abgekoppelt zwischen den einzelnen Sozialsystemen (SGB V, XI und XII) verhandelt. Es gibt keine zu erkennende gemeinsame Intention der Kostenträger zur nachhaltigen Entgelterhöhung und vor allem auch nicht dazu, die bereits erwähnten Zuschläge zu ungünstigen Zeiten zu zahlen; zumindest nicht in Berlin. Ein Bergauf für die ambulanten Pflegedienste ist damit mehr als schwierig.
Mit am deutlichsten hat die Corona-Krise gezeigt, dass wir ohne eine Digitalisierung der Pflege das 21. Jahrhundert nicht bestreiten können. Hier ist die ambulante Pflege im 19. Jahrhundert steckengeblieben; so sind viele Kostenträger bis heute nicht in der Lage, Verordnungen digital zu transportieren und Genehmigungsverfahren zu verkürzen. Auch das Thema digitale Unterschriften und elektronische Dokumentation muss endlich Anerkennung und Einzug finden.
Im papierlosen Arbeiten, in der Schaffung von Schnittstellen, im digitalen Informationsaustausch sowohl im internen als auch im externen Bereich: Hier liegt die Zukunft der Pflege durch Innovation, Entschlackung, vor allem aber Entbürokratisierung. Rechnungsbelege, Leistungsnachweise, sechsfache Unterschriften, das bergeweise Versenden von Papier: dies alles muss endlich der Vergangenheit angehören.
Bewusst geworden ist uns allen auch, dass wir künftig mehr auf Hygiene, auf den Umgang untereinander und auf das Infektionsgeschehen insgesamt achten müssen. Hier liegen auch Chancen, sowohl für die Industrie, für die Wirtschaft, für Gesundheitseinrichtungen und die beteiligten Institutionen und Behörden. Es gilt, die Erfahrungen der bisherigen Corona-Pandemie ehrlich aufzuarbeiten und zu evaluieren. Das ist notwendig, um die durch die Analyse gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen, um die Gesundheits- und Pflegeversorgung in Deutschland weiter auszubauen, sie zu optimieren und nachhaltig weiterzuentwickeln.
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