Triage-Gesetzentwurf: Diskriminierung vermeiden!

Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe

Es waren erschreckende Bilder, die man in dieser Form für Europa nicht erwartet hätte: Intensivstationen und Krankenhäuser waren überfüllt, in den Gängen unzählige Betten mit schwer kranken Patientinnen. Transporte von Intensivpatienten in Nachbarländer und viele Tote. Plötzlich wurde spürbar, dass die Ressourcen moderner Medizin endlich sein können, und die Frage, wer eine Behandlung bekommt, plötzlich entscheidend wird.

In dieser Situation haben Ärzteverbände wie die Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften oder auch die deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin Leitlinien für die Verteilung von Behandlungsmöglichkeiten verfasst. In Deutschland hat dies eine breite Diskussion von Menschen mit Behinderung ausgelöst, ob ihnen das, was sie schon an anderer Stelle erleben, in einer solchen Zeit zum Verhängnis wird: Ärztinnen und Ärzte kennen sich mit ihren Beeinträchtigungen und Begleiterkrankungen nicht aus, unterstellen im Allgemeinen eine schlechte Lebensqualität und bieten schon frühzeitig Begrenzungen der Behandlung an. Dabei unterschätzen sie regelhaft die verbleibende Lebensdauer und bei akuten Erkrankungen die konkrete Überlebenswahrscheinlichkeit, so dass viele Menschen mit Behinderung ihre eigene Prognose überlebt haben.

Letztlich haben Menschen mit Behinderung Klage erhoben, da sie sich, auch aufgrund der Leitlinien, nicht hinreichend vor Diskriminierung bei der Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten geschützt sahen. Im Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass der Staat verpflichtet ist, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird. Und dass die Betroffenen in einer Situation, in der sich selbst nicht schützen können, derzeit vor erkennbaren Risiken für Gesundheit und Leben nicht wirksam geschützt seien. Nach langen Diskussionen hat das Bundesgesundheitsministerium Mitte Juni einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes das Verfahren zur Zuteilung von pandemiebedingt knappen Behandlungsmöglichkeiten regeln soll.

 

Kriterium der Dringlichkeit fehlt

Wie ist dieser Entwurf nun einzuschätzen? Zunächst ist es gut, dass der Gesetzgeber eine Regelung schafft und auf die besonderen Diskriminierungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung eingeht. Für die Entscheidung soll die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit herangezogen werden. Behinderungen oder Vorerkrankungen dürfen in die Entscheidung nicht einfließen.

Irritierend ist, dass das Kriterium der Dringlichkeit fehlt, dass zum Beispiel im Transplantationsgesetz neben der Erfolgswahrscheinlichkeit als zweites Kriterium entscheidend für die Zuteilung ist. Dieses Kriterium sollte auf jeden Fall ergänzt werden.

Weiterhin ist bei dem Verfahren geregelt, dass Zuteilungsentscheidungen von zwei praktizierenden Ärzt:innen mit intensivmedizinischer Erfahrung getroffen werden müssen, wobei diese unabhängig voneinander die Patient:innen beurteilen sollen. Eine:r der beiden Ärzte:innen soll nicht in die Behandlung einbezogen sein, wobei die Beurteilung auch mithilfe telemedizinischer Verfahren stattfinden kann. Ist ein Mensch mit Behinderung oder Vorerkrankung von der Zuteilungsentscheidung betroffen, soll dafür eine dritte fachkundige Person einbezogen werden. Dies kann allerdings unterbleiben, wenn die Entscheidung dringlich ist. Das ist nicht nachvollziehbar.

 

Mehraugenprinzip bei Dringlichkeit erforderlich

Richtig sind ein Mehraugenprinzip und die Hinzuziehung einer für die Beeinträchtigung fachkundigen Person. Dies kann die Beurteilung deutlich verbessern und helfen Diskriminierungen zu vermeiden. Nicht akzeptabel ist, dass die Hinzuziehung wegen Dringlichkeit unterbleiben kann – denn Dringlichkeit ist doch gerade die Ausgangssituation jeder Zuteilungsentscheidung.

Die Ausgangslage für die Anwendung des Gesetzes ist eine Mangelsituation, in der auch eine Verlegung von Patient:innen nicht mehr in Betracht kommt. Deshalb muss die Frage beantwortet werden, wie festgestellt werden soll, dass die Regelung der Zuteilungsentscheidung angewendet werden muss. Dies kann sicherlich nicht auf der einzelnen Station oder am einzelnen Fall entschieden werden. Dabei sind alle Beteiligten einig, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um das Auftreten einer solchen Knappheit zu verhindern. Beispielhaft ist die Verlegung im Kleeblattsystem zwischen den Bundesländern bereits im Winter 2021, oder auch die Verlegung von Patient:innen aus Bayern nach Bergamo. Wichtig wäre deshalb die Etablierung eines Verfahrens, mit dem die Knappheitssituation festgestellt und der Anwendungsfall des Gesetzes klargemacht wird.

Dafür wäre eine systematische Beobachtung der Kapazitäten erforderlich. Die bereits beschlossene Meldepflicht für freie Intensivbetten ist dafür eine wichtige Voraussetzung.

Darüber hinaus müssten sich alle Krankenhäuser, die Intensivkapazitäten zur Verfügung stellen können, Verfahren zur konkreten Umsetzung überlegen und niederlegen. Hierzu könnte gehören, Ärzt:innen mit spezifischer Expertise für Menschen mit Behinderung im Sinne eines Netzwerkes vorab anzusprechen und eine Zusammenarbeit zu vereinbaren. Daneben ist es auch denkbar, dass bei Menschen mit Behinderung, wie dies auch in anderen Fällen der Behandlung üblich ist, der vorbehandelnde Arzt kontaktiert wird, der über die Fachkenntnis der Behinderung und die Erfahrung mit dem Verlauf der bisherigen Begleiterkrankungen wichtige Aspekte zur Beurteilung beitragen kann.

 

Ansprechpartner in Krankenhäusern etablieren

Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass der vorliegende Entwurf mit seiner Verfahrensregelung in die richtige Richtung geht, aber gerade durch das Fehlen der Dringlichkeit als Kriterium zur Zuteilungsentscheidung ins Leere laufen kann. Deshalb muss die Dringlichkeit als Kriterium der Zuteilungsentscheidung in das Gesetz aufgenommen werden.

Für die Umsetzung des Gesetzes ist wichtig, dass Krankenhäuser Verfahren entwickeln, damit sie in solchen Extremsituationen vorbereitet sind und entsprechende Ansprechpartner:innen benannt haben. Offen bleibt die Frage der übergreifenden Beobachtung und Steuerung, damit alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, durch Verlegungen Zuteilungsentscheidungen zu vermeiden.


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