Deutscher Versorgungsalltag statt kleinster europäischer Nenner

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

Die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Intensivierung der europaweiten HTA-Zusammenarbeit stellen prinzipiell eine erfreuliche Entwicklung dar. Einheitliche Regelungen können zu einer sinnvollen Harmonisierung methodischer Standards beitragen und zudem helfen, Doppelarbeit und Inkonsistenzen zu reduzieren. Einige zentrale Aspekte sind aber bei der gemeinsamen Bewertung zu berücksichtigen.

Neben nationalen rechtlichen Grundlagen sind vor allem die erheblichen Unterschiede der Versorgungskontexte der europäischen Gesundheitssysteme von großer Bedeutung. Diese können nicht nur die nationalen Entscheidungen zur Erstattung und Preisfindung, sondern auch unmittelbar die Nutzenbewertung beeinflussen. Werden relevante nationale Versorgungsaspekte jedoch in einem europäisch erstellten HTA-Bericht nicht ausreichend berücksichtigt, wird das sogenannte „Joint Clinical Assessment“ ohne Nutzen für die Entscheidungsträger bleiben.

 

Versorgungssituation spielt zentrale Rolle in der Nutzenbewertung

Bestehende Unterschiede im Zugang zu neuen (und auch älteren) Diagnose- und Therapieoptionen werden als eines der Hauptargumente für einen europäisch einheitlichen HTA-Prozess angeführt. Während in Deutschland neu zugelassene Arzneimittel mit Markteintritt automatisch verordnungsfähig sind und auch neue Medizinprodukte zunächst uneingeschränkt in der Krankenhausversorgung eingesetzt werden können, vergehen in anderen europäischen Mitgliedsstaaten unter Umständen mehrere Jahre zwischen Zulassung/CE-Zertifizierung und Aufnahme in den Leistungskatalog. Einige Technologien werden aufgrund eines ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses zudem gar nicht erstattet.

Nach Einführung eines EU-HTAs wird diese heterogene Versorgungslage aber u. a. aufgrund einer höchst unterschiedlichen finanziellen Ausstattung der Gesundheitssysteme vorerst bestehen bleiben. Die Unterschiede können jedoch eine wesentliche Einschränkung hinsichtlich der Relevanz gemeinsamer europäischer HTA-Berichte für die einzelnen Entscheidungsträger darstellen. Um von europaweiter Bedeutung zu sein, müsste daher die unterschiedliche Versorgung durch Aufnahme aller relevanten Vergleichstherapien in einem EU-HTA aufgegriffen werden, was mit erheblichem Aufwand für die Abstimmung und die anschließende Nutzenbewertung verbunden sein kann.

Darüber hinaus kann die heterogene Versorgungslage eine erhebliche Herausforderung für die Nutzenbewertung selbst darstellen. Dies ist der Fall, wenn die Bewertung von Nutzen und Schaden einer Intervention unmittelbar durch den Kontext der Erbringung beeinflusst wird. Dies gilt beispielsweise für die Bewertung von Screeningprogrammen und anderen Präventionsmaßnahmen. Exemplarisch sei hier das Screening auf Spinale Muskelatrophie (SMA) angeführt: Die Erstattungssituation von Nusinersen, des ersten in Europa zugelassenen Arzneimittels zur Behandlung der SMA, unterscheidet sich europaweit erheblich[1]. Durch Zulassung einer millionenteuren Gentherapie im selben Indikationsgebiet (Zolgensma®) werden die Diskrepanzen weiter zunehmen. Für die Bewertung des SMA-Screenings ist es aber entscheidend, ob überhaupt eine medikamentöse Behandlung erstattungsfähig ist, ab welchem Alter diese erstattet wird und ob eine Behandlung präsymptomatisch oder erst bei Symptombeginn verfügbar ist.

Das Screening auf Darmkrebs stellt ein weiteres Beispiel dar. Hier unterscheiden sich die Modalitäten der derzeit angebotenen Screening-Programme (organisiert, opportunistisch, Häufigkeit, einbezogene Altersgruppen etc.) sowie die angewendeten Screening-Tests (FOBT, Koloskopie, Sigmoidoskopie, CT-Koloskopie) im europäischen Vergleich. Die EU hat diese Variabilität in einer Analyse nachgewiesen[2]. In der EUnetHTA-Bewertung eines neuen Screening-Tests auf Darmkrebs (genetischer Nachweis von Tumor-DNA im Stuhl) ergaben sich 2019 daher gleich mehrere Komparatoren[3], wodurch jedoch lediglich die Variabilität in Bezug auf die unterschiedlichen Standardtests aufgegriffen wurde.

Ein weiterer Aspekt, der eine einheitliche europäische Bewertung von Nutzen und Schaden erschweren dürfte, ist der Einfluss vorhandener Versorgungsstrukturen auf die Möglichkeit, adäquat auf eventuelle Behandlungsrisiken zu reagieren. Unterschiede in der Notfallversorgung sind für die Nutzenbewertung insbesondere dann relevant, wenn Therapien mit einem hohen Nebenwirkungspotential bewertet werden, wie beispielsweise CAR-T-Zelltherapien. Vor dem Hintergrund einer zu erwartenden steigenden Anzahl komplexer Therapieoptionen ist damit zu rechnen, dass dies für einen relevanten Anteil gemeinsamer Nutzenbewertungen zutrifft. Um die Übertragbarkeit der Rahmenbedingungen der Notfallversorgung und deren Erbringbarkeit im jeweiligen nationalen Kontext einschätzen zu können, sind eine transparente Darstellung der Studienbedingungen sowie Angaben zu möglichen Einflüssen des Nebenwirkungsmanagements auf die Nutzenbewertung im europäischen Bericht erforderlich.

 

Schwierigkeiten durch mangelnde Übertragbarkeit von Studienergebnissen 

Die Bewertung der Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf den spezifischen deutschen Versorgungskontext ist keineswegs eine Besonderheit eines europäischen HTA-Verfahrens. Vielmehr findet bereits im aktuellen AMNOG-Prozess regelhaft ein Abgleich zwischen den Bedingungen in den klinischen Studien, deren Daten für die Nutzenbewertung eingereicht werden, und dem Versorgungsalltag in Deutschland statt. Dabei kommen IQWiG und G-BA immer wieder zu dem Ergebnis, dass die vom Hersteller eingereichten Studiendaten aufgrund mangelnder Übertragbarkeit zur Bewertung des Zusatznutzens ungeeignet sind. Ein entsprechendes Fazit wurde beispielsweise bei der Nutzenbewertung von Lisdexamfetamindimesilat gezogen, das im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie zur Behandlung von ADHS bei Kindern zugelassen ist[4]. Als Begründung für die fehlende Zuerkennung eines Zusatznutzens von Lisdexamfetamindimesilat führten IQWiG und G-BA an, dass die vom deutschen Zulassungsstatus vorgesehenen nichtmedikamentösen Begleittherapien (psychologische, pädagogische und soziale Maßnahmen) in der herangezogenen Studie nicht abgebildet wurden. Ein anderes Beispiel stellt die vom Gesetzgeber geforderte Berücksichtigung der bevölkerungsbezogenen – hier deutschen – Resistenzsituation bei der Bewertung des Zusatznutzens von Antibiotika da[5]. Auch diese Anforderung lässt sich aufgrund der stark heterogenen Resistenzlage in den einzelnen europäischen Ländern – wie die Daten des European Centre for Disease Prevention and Control regelmäßig zeigen[6] – kaum in einer einheitlichen Bewertung adressieren.

Und auch aus der Zeit vor Inkrafttreten des AMNOG im Jahr 2011 finden sich Beispiele, in denen eine Nutzenbewertung zu einem negativen Ergebnis kam, da sich aus den Studiendaten keine Schlüsse für die Versorgungssituation in Deutschland ziehen ließen: So wurden für die Bewertung von inhalativem Insulin bei Diabetes Mellitus Typ 1 und 2 Daten aus US-amerikanischen Studien vorgelegt, in denen die Patientinnen und Patienten der Kontrollgruppe mit einer von der Praxis in Deutschland abweichenden Applikationsform behandelt wurden[7]. Während die Studienteilnehmer mit der inhalativen Insulinanwendung einen bedeutenden Zugewinn an Lebensqualität gegenüber der Vergleichsmedikation bestehend aus Spritzen zum Selbstaufziehen und -mixen des Insulins verzeichnen konnten, war dieser Vorteil für die hiesigen Diabetespatienten aufgrund der in Deutschland schon damals etablierten Anwendung von Insulinpens nicht gegeben. Zudem blieb mangels Herstellerangaben unklar, ob die von der Zulassung in Europa formulierten Anforderungen an ein begleitendes Schulungsprogramm für die Anwendung der Inhalationsapparatur in den Studien erfüllt wurden.

 

Fazit: Vollständiger Fragenkatalog notwendige aber nicht hinreichende Bedingung

Um für Fragen der Erstattung und Preisfindung auf nationaler Ebene bedeutsam zu sein, muss eine künftige EU-Nutzenbewertung relevante nationale Versorgungsaspekte adäquat berücksichtigen. Erstens muss ein europäischer HTA-Bericht dafür alle relevanten Fragestellungen umfassen – was technisch und methodisch möglich ist, aber ausreichende Bearbeitungszeiten voraussetzt. Zweitens müssen die Berichte Hinweise auf Kontextfaktoren mit unmittelbarer Relevanz für die Bewertung von Nutzen und Schaden beinhalten. Um Anforderungen 1 und 2 erfüllen zu können, ist drittens erforderlich, dass eine vollständige und transparente Datengrundlage für die Nutzenbewertung vom Hersteller zur Verfügung gestellt wird, die auch nationale Besonderheiten berücksichtigt.

 

[1] https://smauk.org.uk/files/files/Research/SMA%20Community%20Update%20January%202019.pdf

[2]
https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/major_chronic_diseases/docs/2017_cancerscreening_2ndreportimplementation_en.pdf

[3] https://eunethta.eu/otja10-final-assessment-report-and-related-documents-are-now-available/

[4] https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/71/

[5] https://www.gesetze-im-internet.de/am-nutzenv/__5.html

[6] https://www.ecdc.europa.eu/en/publications-data/surveillance-antimicrobial-resistance-europe-2018

[7] https://www.iqwig.de/download/A05-22_Rapid_Report_Inhalatives_Insulin_Exubera.pdf

 


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