US-Non-Profit-Modell – ein Rezept für geringere Preise und gegen Arzneimittellieferengpässe

Studie zeigt: Civica nutzt erfolgreich einen Sicherheitsbestand



Die Diskussion um Arzneimittellieferengpässe ist nicht nur in Deutschland in vollem Gange. Im Trendbeitrag „Civica senkt Generikapreise drastisch“ ist im Observer Gesundheit ein innovatives Non-Profit-Geschäftsmodell (Civica Rx) aus den USA-vorgestellt worden. Civica Rx wurde ins Leben gerufen, um der vorherrschenden Arzneimittelknappheit und den steigenden Generikapreisen in den USA zu begegnen. Was ist aus dem Non-Profit-Geschäftsmodell geworden? Eine Antwort auf diese Frage liefert die Studie von Dredge und Scholtes [1]. Basierend auf aktuellen Zahlen haben die Wissenschaftler analysiert, wie sich der Arzneimittelzugang und die Preise auf dem US-Markt entwickelt haben. Wie sehen die aussagekräftigen Studienergebnisse [1] aus?  

Das Problem der Arzneimittelknappheit in den USA scheint sich zunehmend zu verschärfen. Seit Anfang 2018 wurden zum Ende jedes Quartals mindestens 200 Arzneimittelenpässe vermeldet. In den ersten beiden Quartalen 2023 waren sogar mehr als 300 Arzneimittel von Lieferschwierigkeiten betroffen. [2] Ein Bericht des US-Senats beschreibt, dass neue Arzneimittelengpässe zwischen 2021 und 2022 um fast 30 % zugenommen haben, mit einem 5-Jahres-Rekordhoch von 295 Arzneimittelengpässen Ende des Jahres 2022 [3].

Neben dem nachweislichen Arzneimittelmangel kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu – steigende Arzneimittelpreise. In den USA greift der Staat nicht ein, wenn es um die Preisbildung von rezeptpflichtigen Arzneimitteln geht. Der Preis für ein Medikament wird durch den Markt gesteuert. Dieses Privileg hatten einige Unternehmen in den vergangenen Jahren jedoch auf die Spitze getrieben. Beispielsweise betrug der Durchschnittspreis für eine Packung mit fünf Pen-Patronen Insulin für Nichtversicherte im Jahr 2022 über $ 500, wobei der Preistrend in den letzten 20 Jahren einen dramatischen Anstieg verzeichnete. [4] Das Ergebnis ist, dass 25 % der Amerikaner, die auf Insulin angewiesen sind, aufgrund der Kosten gezwungen waren, ihre Arzneimittel selbstständig zu rationieren. [5]

Medikamente sind also oft entweder zu teuer oder nicht erhältlich. Dieses Marktversagen war der Anreiz dafür, dass 2018 das Unternehmen Civica Rx gegründet wurde, der erste Non-profit-Pharma-Produzent in den USA. [6]

 

Das Civica Rx-Geschäftmodell

Das Civica Rx-Geschäftsmodell strebt an, die Engpässe bei der Arzneimittelversorgung von Krankenhäusern zu beheben und den Preiserhöhungen entgegenzuwirken. So sollen qualitativ hochwertige generische Arzneimittel für alle zugänglich und erschwinglich sein. Für Krankenhäuser ist das Civica-Geschäftsmodell unter anderem deshalb interessant, weil sie Großabnehmer von Arzneimitteln sind und sie bei Preisanstiegen vor wirtschaftliche Herausforderungen gestellt werden.

Das Konzept des Geschäftsmodells besteht darin, die großen Arzneimittelhersteller zu umgehen und Generika, die die Mitgliedskrankenhäuser benötigen, selbst herzustellen oder an Subunternehmen zur Produktion zu vergeben. Im Jahr 2021 gab es 1.400 Mitgliedskrankenhäuser, dass umfasst etwa 30 % aller stationären Krankenhauskapazitäten in den USA. [6] Bis Juli 2023 wurden bereits insgesamt mehr als 56 Millionen Patientendosen von Civica-Medikamenten verabreicht. [1]

Das Civica-Unternehmen wurde als gemeinnützige Wohlfahrtsorganisation gegründet. Das Geld für den Betrieb des Unternehmens kommt von den Kunden (den Krankenhäusern) und Wohlfahrtsorganisationen, nicht von Banken oder Investoren, die auf Rendite angewiesen sind. [6] Das Geschäftsmodell, das Civica Rx anwendet, nennt sich auch „Health Care Utility“ (HCU).

Dredge und Scholtes definieren das HCU-Modell wie folgt: „HCU ist eine sich selbst tragende Nichtaktiengesellschaft mit sozialem Auftrag, die von Einrichtungen des Gesundheitswesens gegründet wurde, um wichtige Produkte und Dienstleistungen zu den niedrigsten nachhaltigen Kosten anzubieten und dabei ein zielgerichtetes, transparentes und skalierbares Geschäftsmodell zu verwenden“ [7, 1]. Die Kernelemente des HCU-Modells sind in der Abbildung 1 dargestellt.

 

Abbildung 1: Elemente des Health Care Utility – Modells

Abbildung Scholtes Civica

Quelle: in Anlehnung an Dredge und Scholtes [1], deutsche Übersetzung.

 

Studiendesign

Ende 2019 lieferte Civica die ersten generischen Arzneimittel an die Mitgliedskrankenhäuser aus. Dredge und Scholtes [1] analysieren rückblickend, welche ersten Effekte sich durch die Einführung des innovativen Non-Profit-Modells ergeben. Veränderten sich die Generikapreise? Verbesserte sich der Arzneimittelzugang?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde auf Daten von SSM Health [8] zugegriffen, einem integrierten Gesundheitssystem mit mehr als 40.000 Mitarbeitern im Mittleren Westen der USA, das zu den ursprünglichen Gründern von Civica gehört. SSM Health ist Gründungsmitglied und Abnehmer von Arzneimitteln von Civica Rx, aber bezieht, wie alle Mitglieder, dieselben Arzneimittel auch von anderen Großhändlern.

Es wurden jene Arzneimittel in die Analyse eingeschlossen, die von Civica hergestellt wurden mit einer ausreichenden Datenverfügbarkeit. Insgesamt sind 14 Arzneimittel in der Analyse berücksichtigt worden, aus denen sich 20 Arzneimittelprodukte (z. B. bedingt durch Wirkungsstärke) ableiten lassen. Für Civica Rx waren Daten von 2020 bis 2022 verfügbar, da die erste Civica-Auslieferung Ende 2019 erstmalig stattfand. Daten zu den Nicht-Civica-Arzneimittel-Großhändlern (im folgenden Großhändler) waren für die Jahre 2016 bis 2022 verfügbar. Somit konnten Dredge und Scholtes [1] die Entwicklung der generischen Arzneimittelpreise sowie des Arzneimittelzugangs über einen langen Zeitraum gegenüberstellen (d.h. Civica Rx versus Großhändler).

 

Studienergebnisse

Die 20 eingeschlossenen Arzneimittelprodukte wurden von insgesamt 63 Herstellern produziert (d. h. Civica Rx und 62 andere Hersteller), wobei nicht alle Hersteller (außer Civica) jedes Arzneimittelprodukt produzierten. Die 62 Hersteller bieten die Arzneimittelprodukte über den Großhändler dem SSM Health an. Civica hingegen liefert die Arzneimittelprodukte direkt an SSM Health.

Die Nachfrage von SSM Health nach den 20 Arzneimittelprodukten stieg kontinuierlich an (siehe Abbildung 2). Ein sprunghafter Anstieg war von 2019 (8,8 Millionen Einheiten) auf 2020 (12,3 Millionen Einheiten) durch die Covid-19-Pandemie zu beobachten. Bis 2022 stieg die SSM Health Nachfrage weiter auf 15,5 Millionen Einheiten an.

 

Abbildung 2: Gesamtnachfrage von SSM Health für die 20 betrachteten Arzneimittelprodukte

Abbildung 2 Scholtes Civica

Quelle: in Anlehnung an Dredge und Scholtes [1], deutsche Übersetzung.

 

Ergebnis 1: Civica verbessert den Zugang zu Generika gegenüber dem Großhändler-Modell

Um die Entwicklung des Arzneimittelzugangs zu vergleichen (d.h. Großhändler-Modell versus Civica-Modell), wurden die Auftragserfüllungsraten gegenübergestellt.

Ein Großhändler erhält in regelmäßigen Abständen eine Bestellung aus dem Gesundheitssystem (d.h. z.B. SSM Health). Wird ein Bestellungsauftrag vom Großhändler nicht voll erfüllt, nimmt die Großhändler-Auftragserfüllungsrate einen Wert von unter 100 % an.

Im Gegensatz zu den Großhändlern hat Civica einen 5-Jahres-Vertrag mit den angeschlossenen Gesundheitssystemen (z. B. SSM Health) über eine vorher festgelegte Menge (gewöhnlich 50 % des voraussichtlichen Bedarfs des Gesundheitssystems zu einem vorher festgelegten Preis). Dieses jährliche vertraglich vereinbarte Volumen wird als „Minimal realisierbares Volumen“ [Minimum Viable Volume (MVV)] bezeichnet. Die Civica-Auftragserfüllungsrate nimmt einen Wert von unter 100 % an, wenn Bestellungen bis zur Höhe des MVV nicht realisiert werden.

Abbildung 3 zeigt, dass die Civica-Auftragserfüllungsraten gegenüber den der Großhändler höher ausfallen. Eine statistische Auswertung von Dredge und Scholtes [1] zeigt, dass die Erfüllung von Civicas vertraglich garantierten Volumen bei 96 % und die Erfüllungsrate der Großhandelsaufträge bei 86 % liegt. Die Daten liefern also den statistisch belastbaren Beweis: Civica übertrifft das Großhändler-Modell in Bezug auf die Zuverlässigkeit.

In Abbildung 3 ist auffällig, dass die Civica-Auftragserfüllungsrate über 100 % liegt. Was hat es damit auf sich? Obwohl der Civica-MVV-Vertrag als Untergrenze für den garantierten Arzneimittelzugang dient, ist er nicht als Obergrenze zu verstehen. Wenn Arzneimittellieferengpässe bestehen, treten die Civica-Mitgliedssysteme, wie SSM Health, an Civica heran, um über ihr MVV hinaus zu bestellen. Wann immer es möglich ist, versucht Civica, diese über die vertraglich vereinbarten Mengen hinausgehenden Bestellungen zu seinem Standard-Festpreis zu erfüllen, indem es seinen Sicherheitsbestand nutzt. Der Sicherheitsbestand fungiert als Zwischenpuffer während eines kritischen Arzneimittelmangels. Civica prüft und analysiert vor der Verwendung des Sicherheitsbestandes den Grund für die Arzneimittelengpässe. Vor diesem Hintergrund erhielt SSM Health während des Beobachtungszeitraums 2020-2022 für alle 20 Produkte insgesamt 43 % mehr Produkteinheiten als das vertraglich vereinbarte „minimal realisierbare Volumen“ (MVV), ohne Preissteigerungen während der Engpassphasen ausgesetzt zu sein. 

 

Abbildung 3: Auftragserfüllungsraten im Zeitverlauf

 

Abbildung 3 Scholtes Civica

Quelle: In Anlehnung an Dredge und Scholtes [1], deutsche Übersetzung.

 

Ergebnis 2: Civica ist die kostengünstigere Option als der Großhandel

Innerhalb mehrerer statistischer Analysen für die Jahre 2020 bis 2022 konnten Dredge und Scholtes [1] feststellen, dass die Großhandelspreise im Durchschnitt 35 % bis 46 % über dem Civica-Preis für dasselbe Produkt in demselben Jahr lagen.

Angesichts der erheblichen allgemeinen Preisschwankungen bei den Großhändlern, sowohl nach oben als auch nach unten, wäre zu erwarten, dass die Apotheken- und Lieferkettenteams von SSM Health sorgfältig darauf hinarbeiten, mehr zu kaufen, wenn die Preise niedrig sind, und weniger, wenn die Preise hoch sind. Bei Civica-Arzneimittel ist dieses Verhalten nicht zu befürchten, da hier ein jährlicher stabiler vereinbarter Preis gilt.

Um diesen Sachverhalt zu berücksichtigen, haben Dredge und Scholtes [1] eine Analyse durchgeführt, bei der die jährlichen aggregierten Kosten für alle beim Großhändler und bei Civica tatsächlich gekauften Produkte direkt miteinander verglichen wurden (siehe Abbildung 4). Die Kosten der Civica-Produkte lagen in dem Zeitraum, in dem sowohl Civica als auch der Großhändler die Produkte lieferten, immer noch 2,7 % unter dem mengengewichteten Jahresdurchschnittspreis des Großhändlers. Dies deutet darauf hin, dass SSM Health seine Bestellungen optimierte, indem es mehr Volumen beim Großhändler kaufte, wenn die Kosten niedrig waren, wodurch der Gesamtkostenvorteil von Civica auf insgesamt nur 2,7 % sank. 

 

Abbildung 4: Produktkosten pro Einheit im Zeitverlauf

 

Abbildung 4 Scholtes Civica

Quelle: In Anlehnung an Dredge und Scholtes [1], deutsche Übersetzung.

 

Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

Civica Rx ist der erste Non-Profit-Pharma-Produzent in den USA. Die Studienergebnisse von Dredge und Scholtes [1] liefern die ersten Zahlen, die belegen, dass das Civica Rx-Modell der Arzneimittelknappheit und den hohen Preisanstiegen in den USA begegnen kann. Im ersten Beitrag im Observer Gesundheit zu Civica (siehe Civica senkt Generikapreise drastisch) wurden bereits wichtige Erkenntnisse und zentrale Fragen für Deutschland herauskristallisiert. Als neuer Diskussionspunkt steht die Verwendung des Civica-Sicherheitsbestandes im Raum. Benötigen Mitgliedssysteme (z.B. SSM Health) mehr Arzneimittelprodukte als die vertraglich vereinbarte Mindestenge (MVV), greift Civica im Falle eines (drohenden) kritischen Arzneimittelengpasses auf einen Sicherheitsbestand zurück und liefert zu festen Preisen.

Dieses Vorgehen wird nun auch von deutschen Arzneimittelherstellern im Zuge des Arzneimittellieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) eingefordert. Demnach muss jeder Arzneimittelhersteller, der sich um einen Rabattvertrag bewerben will, Vorräte für sechs Monate vorhalten. Eine ambitionierte Zielsetzung. Bork Bretthauer, Geschäftsführer des Branchenverbandes Pro Generika, diskutiert in seinem  Kommentar „Sechs Monate Lagerhaltung“ im Observer Gesundheit die gesetzgeberische Maßnahme. Deutlich wird, einfacher wird es für die Arzneimittelhersteller in Deutschland nicht. Das Civica-Modell zeigt, dass ein Sicherheitsbestand funktionieren kann. Ob sich die gewünschte Wirkung mit der Lagerhaltungsverpflichtung auch in Deutschland entfaltet, bleibt abzuwarten. 

Civica Rx ist der erste Non-Profit-Pharma-Produzent in den USA. Nun liegen erste belastbare Zahlen auf dem Tisch, die zeigen, dass das Civica Rx-Modell funktionieren kann, um der Arzneimittelknappheit und den hohen Preisanstiegen zu begegnen – auch wenn die Rahmenbedingungen (GKV-Ausschreibungen) nicht vergleichbar sind. Civica übertrifft das Großhändler-Modell in Bezug auf die Zuverlässigkeit und ist die kostengünstigere Variante. Die Vorteile des Civica-Sicherheitsbestandes sollten im Zusammenhang mit der ALBVVG-Lagerhaltungsverpflichtung weiter diskutiert werden.

 

Literatur

[1] Dredge C & Scholtes S. Vaccinating Health Care Supply Chains Against Market Failure: The Case of Civica Rx. NEJM Catal Innov Care Deliv, 2023 (DOI: 10.1056/CAT.23.0167) (Online verfügbar: https://catalyst.nejm.org/doi/full/10.1056/CAT.23.0167)

[2] American Society of Health-System Pharmacists (ASHP). Drug Shortages Statistics: University of Utah Drug Information Service. 2023. Abgerufen am 21. Dezember 2023. https://www.ashp.org/drug shortages/shortage-resources/drug-shortages-statistics.

[3] U.S. Senate Committee on Homeland Security & Governmental Affairs. Short Supply: The Health and National Security Risks of Drug Shortages. HSGAC Majority Staff Report. March 2023. Abgerufen am 10. Mai 2023. https://www.hsgac.senate.gov/wp-content/uploads/2023-03-20-HSGAC-Majority Draft-Drug-Shortages-Report.pdf.

[4] Mark J, Gilbert D. The Top 3 Insulin Makers Recently Announced Price Cuts. Here’s What toKnow. The Washington Post. Updated March 17, 2023. Abgerufen am 21. Dezember 2023. https://www.washingtonpost.com/business/2023/03/01/insulin-prices-eli-lilly/.

[5] Herkert D, Vijayakumar P, Luo J, et al. Cost-related insulin underuse among patients with diabetes. JAMA Intern Med 2019 (DOI: 10.1001/jamainternmed.2018.5008) (Verfügbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6583414)

[6] Dredge C & Scholtes S. The health care utility model: a novel approach to doing business. NEJM Catalyst, 2021 (DOI: 10.1056/CAT.21.0189) (Online verfügbar: https://catalyst.nejm.org/doi/pdf/10.1056/CAT.21.0189)

[7] Dredge, C, Liljenquist, D, and Scholtes, S. Disruptive collaboration: A thesis for pro-competitive collaboration in health care, NEJM Catalyst 2022 (DOI: 10.1056/CAT.22.0057) (Online verfügbar: https://catalyst.nejm.org/doi/full/10.1056/CAT.22.0057)

[8] SSM Health. About SSM Health. Abgerufen am 21. Dezember 2023. Verfügbar unter: https://www.ssmhealth.com/resources/about

 

Dr. Ines Niehaus

 

Lesen Sie auch zum Thema:

„Civica senkt Generikapreise drastisch“, Observer Gesundheit, 28. Juli 2023.


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