08.11.2018
Eine detaillierte Personalplanung in der Pflege kann Leben retten
Studie: Mit Abgleich von Arbeitsbelastungen lässt sich Sterblichkeit von Patienten voraussagen
Bessere Personalausstattung und Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege sollen auch Pflege und Betreuung der Patienten sowie der Pflegebedürftigen zum Positiven verändern – das verspricht sich die Bundesregierung vom derzeit diskutierten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Aus gutem Grund: Die Auswirkungen von zu hoher Arbeitsbelastung sind immens. Neben der allgemeinen Arbeitsunzufriedenheit und den Gesundheitsbeeinträchtigungen der Pflegekräfte leiden auch Patienten. So erweist sich der Personalstand bei patientenrelevanten Maßen, wie der Anzahl an Komplikationen oder der Mortalität, als ein entscheidender Faktor.
Während ein weitgehender Konsens darüber herrscht, dass ein genereller Zusammenhang zwischen der Arbeitsbelastung, dem Personalstand und patientenrelevanten Maßen besteht, ist sich die Wissenschaft uneins, inwiefern die verschiedenen Faktoren den Personalbedarf bedingen. Insbesondere wird bei der Personalplanung zunehmend das reine Anzahlverhältnis von Pflegekräften zu Patienten als ein sinnvoller Indikator für die Arbeitslast in Frage gestellt, sollte dieses das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit der jeweiligen Patienten unberücksichtigt lassen.[1] Aus diesem Gedanken heraus dienen Patientenklassifikationssysteme dazu, den Bedarf an Pflegeressourcen basierend auf den identifizierten sowie quantifizierten individuellen Patientenpflegebedürfnissen zu bestimmen. Zurzeit bedienen sich Experten verschiedenster Patientenklassifikationssysteme, die sich hinsichtlich der Beschreibung und Definition der Pflegearbeit sowie der Bewertungsmaße der Arbeitslast unterscheiden. Dabei fehlt bei vielen dieser Systeme die wissenschaftliche Evidenz, d. h. es mangelt ihnen an Validitäts- und Reliabilitätsmessungen sowie empirischen Nachweisen in Bezug auf die Beziehung zu pflegesensitiven Faktoren.
Eine vor kurzem erschienene Studie[2] aus Finnland liefert zum Thema der Pflegepersonalplanung relevante Erkenntnisse. Dabei liegt der Fokus der Studie auf einem spezifischen Patientenklassifikationssystem, dem „RAFAELA Nursing Intensity and Staffing system“, und dessen Eignung, patientenrelevante Ergebnismaße, im Spezifischen die Krankenhausmortalität, hervorzusagen. Während verschiedene frühere Studien[3], vorrangig im Rahmen von Dissertationen, bereits die Umsetzung, Zuverlässigkeit sowie interne Validität von RAFAELA untersucht haben, lassen die Ergebnissee der neuen Studie eine Aussage in Bezug auf die prädiktive Validität auf Patientenergebnisse zu.
Um die Voraussagekraft von einem (mittels RAFAELA identifizierten) optimalen Personalstand auf die Patientenergebnisse, im Spezifischen die Mortalitätsrate eines Krankenhauses, zu untersuchen, bezieht die Studie Daten von zwei finnischen Krankenhäusern[4] aus den Jahren 2012 und 2013. Insgesamt basiert die retrospektive Querschnittsanalyse dabei auf insgesamt 732 vollständigen Datensätzen auf monatlicher Abteilungsebene: 469 Berichte von 23 der insgesamt 30 stationären Abteilungen des Krankenhauses A und 263 monatliche Berichte aller 11 stationären Abteilungen des Krankenhauses B.
Was zeichnet das RAFAELA-System aus?
RAFAELA unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den meisten Patientenklassifikationssystemen und basiert dabei auf der zugrundeliegenden Annahme, dass die Art und Weise des Pflegeaufwands zwischen verschiedenen Abteilungen variiert und die Pflegearbeitsbelastung demnach abteilungsspezifisch ist. Anstatt das Maß der Arbeitslast anhand aller potenziellen Pflegebedürfnisse der Patienten zu bestimmen, werden nur die Pflegebedürfnisse, die von Pflegekräften tatsächlich pro Tag erfüllt worden sind, berücksichtigt. Im Spezifischen stufen die Pflegekräfte hierbei retrospektiv die erbrachten Pflegeleistungen bei jedem Patienten anhand von Pflegeintensitätspunkten ein, wobei sie für jede der sechs Pflegeunterkategorien[5] zwischen einem (niedrige Pflegeintensität) und vier (hohe Pflegeintensität) Punkten vergeben können. Die tägliche Arbeitslast pro Kraft ergibt sich dann aus den summierten Pflegeintensitätspunkten pro Abteilung durch die Anzahl an Pflegekräften, die die Patienten an dem jeweiligen Tag in der Abteilung gepflegt haben.
Um darüber hinaus ein optimales Niveau an Arbeitsbelastung für die verschiedenen Abteilungen eines Krankenhauses zu identifizieren, nehmen alle Pflegekräfte jedes zweite Jahr an einer Fragebogenerhebung im Rahmen des RAFAELA teil[6]. Dabei gibt jede Fachkraft nach jeder Schicht über einen mehrwöchigen Zeitraum an, ob die gegebenen Personalressourcen für das Maß der Pflegebedürftigkeit der Patienten und der Pflegeintensität passend waren und eine gute Pflegequalität gewährleisten konnten.
Welche Einblicke in Bezug auf die Arbeitslast lassen die Studienergebnisse zu?
Auf Basis des durch das RAFAELA-System identifizierten Optimums an Arbeitslast in der Pflege konnte für die Krankenhausdaten der Studie zwischen einer „Unterlastung“, also einer (über den Monat ermittelten) durchschnittlichen Arbeitsbelastung pro Tag, die unterhalb des Optimums liegt, und einer „Überlastung“, die demnach oberhalb des Optimums liegt, differenziert werden. Zusammengefasst entsprach die durchschnittliche Arbeitsbelastung der beiden Studienkrankenhäuser in 68,6 % dem Optimum. In 21,6 % der Fälle lag sie oberhalb und in 9,8 % der Fälle unterhalb des Optimums. Dabei variieren die Werte sowohl signifikant zwischen den beiden Krankenhäusern, als auch innerhalb eines Krankenhauses zwischen den verschiedenen Abteilungen. Während bspw. in der Pädiatrie bei Krankenhaus B die Arbeitslast in knapp 35 % der Fälle über dem optimalen Level liegt, ist dies bei Krankenhaus A nur in knapp 15 % der Fall. Im Gegensatz dazu liegt die tägliche Arbeitslast in der onkologischen Abteilung in Krankenhaus B überwiegend unter dem optimalen Level (83 %), in Krankenhaus A entspricht sie hingegen überwiegend dem optimalen Level (88 %).
Bezieht man die abteilungsspezifischen Mortalitätsraten in die Analyse ein, kann mittels einer statistischen Schätzung ein steigender Trend zwischen der Arbeitslast und der Mortalität gezeigt werden. In Zahlen ausgedrückt, liegt der geschätzte Mittelwert an Todesfällen je Abteilung pro Monat bei 0,57, wenn die Arbeitsbelastung unterhalb des optimalen Levels liegt, bei 1,33, wenn sie dem optimalen Level entspricht, und bei 2,68, wenn sie oberhalb des optimalen Levels liegt.
Demnach kommt es in Zeiten, in denen sich das Angebot an Pflegeleistungen mit der Nachfrage deckt, im Vergleich zu Zeiten einer Überlastung der Pflegekräfte, sprich Unterbesetzung, zu einer statistisch signifikant geringeren Mortalität. Im Vergleich zu Zeiten einer Unterlastung der Pflegekräfte, sprich Überbesetzung, kommt es allerdings hingegen zu einer höheren Mortalität.
Was bedeutet dies für die Personalplanung?
Summa summarum verdeutlichen die Studienergebnisse insbesondere, dass die Personalplanung eine komplexe Aufgabe darstellt und simple Maße, wie das Verhältnis von Pflegekräften zu Patienten, nicht ausreichen, um die Arbeitsbelastung umfassend zu bewerten.
Würde man sich im Rahmen der Personalplanung nur auf dieses Verhältnismaß bei der Bewertung der Arbeitsbelastung stützen, sähe das Gesamtbild für die Daten der Studie anders aus. Sowohl die Anzahl an Patienten und Pflegekräften sowie die monatlichen Mortalitätsraten fallen für beide Krankenhäuser ähnlich aus. Maße, die demnach nur die reine Anzahl an Arbeitskräften, Patienten und Todesfällen – ohne Bezug zur optimalen Pflegeintensität – auf Krankenhausebene miteinbeziehen, können somit irrtümliche Schlussfolgerungen zur Folge haben. Auch zwischen der Mortalität und dem reinen Maß der täglichen Arbeitslast (ohne Relation zu dem optimalen Wert der Arbeitslast einer Abteilung) konnten keine statistischen Zusammenhänge festgestellt werden. Eine Personalplanung auf Basis einfacher, nicht validierter Kennzahlen hätte demnach in der Konsequenz nicht das Potenzial, vermeidbare Mortalität zu reduzieren.
Die Studie bildet mit den Mortalitätsraten zwar nur eins von vielen relevanten Patientenergebnismaßen ab, zeigt aber dennoch, dass bei der Personalplanung komplexere Kennzahlen, wie hier bspw. der Einbezug des optimalen Niveaus an Arbeitsbelastung, notwendig sind. So kann der Abgleich der tatsächlichen Arbeitsbelastung und der (mittels des RAFAELA Patientenklassifikationssystem bestimmten) optimalen Arbeitsbelastung einer Abteilung dazu beitragen, die Krankenhaussterblichkeit vorherzusagen.
Laut den Studienergebnissen scheint allerdings nicht jede Abweichung vom Optimum patientenschädlich zu sein, da die Mortalitätsraten zu Zeiten einer Unterbelastung geringer ausfallen als bei einer optimalen Arbeitsbelastung. An dieser Stelle gilt es anzumerken, dass unklar bleibt, woher dieser Zusammenhang rührt, und die Ermittlung der optimalen Arbeitsbelastung durch das RAFAELA-System nicht zwangsläufig als Goldstandard zu betiteln ist.
Die Studie zeigt dennoch, dass Pflegekräfte mit ihrem Urteilsvermögen in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit der Patienten und der Bestimmung der optimalen Pflegeauslastung eine sinnvolle Ergänzung bei der Patientenklassifikation im Rahmen der Pflegepersonalplanung darstellen können.
Die Unterschiede zwischen den Krankenhäusern aus der Studie sowie insbesondere innerhalb dieser Krankenhäuser verdeutlichen darüber hinaus, dass sich eine krankenhausindividuelle Betrachtung auf Abteilungsebene bei der Personalbedarfsplanung als essentiell erweist: Es gibt keine Einheitslösung.
[1] Z.B. Christine Duffield, Donna Diers, Linda O’Brien-Pallas, Chris Aisbett, Michael Roche, Madeleine King and Kate Aisbett (2011): “Nursing staffing, nursing workload, the work environment and patient outcomes”, Applied Nursing Research.
John M. Welton, Lynn Unruh and Edward J. Halloran (2006): “Nurse staffing, nursing intensity, staff mix, and direct nursing care costs across Massachusetts hospitals”, Journal of Nursing Administration.
[2] Jaana K. Junttila, Aija Koivu, Lisbeth Fagerström, Kaisa Haatainen and Pirkko Nykänen (2018): “Hospital mortality and optimality of nursing workload: A study on the predictive validity of the RAFAELA Nursing Intensity and Staffing system”, International Journal of Nursing Studies.
[3] Lisbeth Fagerström, (1999): “Professional assessment of optimal nursing care intensity level: a new method of assessing personnel resources for nursing care”, Journal of Clinical Nursing.
Marianne Frilund (2013): “A synthesizer of Caring science and nursing intensity. En vårdvetenskaplig syntes mellan vårdandets ethos och vårdintensitet”, Dissertation.
Marianne Frilund and Lisbeth Fagerström (2009): “Validity and reliability testing of the RAFAELA system Oulu patient classification instrument within primary healthcare”, International Journal of Older People Nursing.
Teija Kaustinen (2011): “Oulu patient classification and use of working hours in nursing from the perspective of nursing care quality standards”, Dissertation.
Anna-Kaisa Pusa (2007): “The Right Nurse in the Right Place Nursing Productivity and Utilisation of the RAFAELA Patient Classification System in Nursing Management”, frei zugängliche Dissertation.
Auvo Rauhala (2008): “The validity and feasibility of measurement tools for human resources management in nursing”, frei zugängliche Dissertation.
[4] In den Einzugsbereich von Krankenhaus A fallen 248.000 Einwohner. Zudem dient das Akutkrankenhaus als eines der fünf universitären Krankenhäuser in Finnland für fast 1 Mio. Einwohner, die aufgrund von besonders anspruchsvollen Fällen spezielle medizinische Leistungen fordern, als Anlaufstelle. In den Einzugsbereich von Akutkrankenhaus B mit 16 Spezialisierungsfeldern fallen ca. 167.000 Einwohner.
[5] Es wird zwischen den folgenden sechs Pflegeunterkategorien unterschieden: (1) Planung und Koordination der Pflege; (2) Atmung, Blutzirkulation und Symptome der Krankheit; (3) Ernährung und medizinische Behandlung; (4) persönliche Hygiene und Sekretion; (5) Aktivität, Schlaf und Ruhe; und (6) Lehre, Anleitung in der Pflege und Follow-Up-Pflege und emotional Unterstützung.
[6] Das optimale Level an Pflegeintensität wird auf Basis der Professional Assessment of Optimal Nursing Care Intensity Level (PAONCIL)-Methodik bestimmt. Tiefgreifendere Erläuterungen bspw. in: Lisbeth Fagerström, Auvo Rauhala (2004): „Determining optimal nursing intensity: the RAFAELA method“, Journal of Advanced Nursing.
Redaktion / Mona Groß
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