24.09.2019
Evidenzbasierte Medizin als Spielball der Politik: Die Endrunde
Sven Wunderlich
Die Bewertung von Innovationen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) scheint schicksalhaft mit dem Thema Fettabsaugung (Liposuktion bei Lipödem) verknüpft zu sein. Am selben Tag, an dem der G-BA die vom Ministerium gewünschte Einführung der Liposuktion im Plenum beschlossen hat, wurden die Änderungsanträge der Regierungsfraktionen zum Implantateregister-Errichtungsgesetz (EIRD) bekannt, die am 26.09.2019 in zweiter und dritter Lesung im Deutschen Bundestag beraten werden sollen.
Zur Historie: Im Januar hatte Gesundheitsminister Spahn das angebliche Versagen des G-BA bei der Einführung der Liposuktion als Kassenleistung zum Anlass für einen Vorstoß genommen, die Kompetenz für die Aufnahme neuer Leistungen in die vertragsärztliche Versorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) künftig dem Bundesministerium für Gesundheit zu übertragen. Der G-BA versuchte, diese drohende Entmachtung abzuwenden: durch die Zusage an den Minister, die Liposuktion nun doch selbst zur Kassenleistung zu machen. Schon mit Vorlage des Kabinettsentwurfs zum EIRD wurde allerdings deutlich, dass dieser Kotau den Minister nicht davon abhalten würde, die Innovationsbewertung im G-BA unter seine Kontrolle zu bringen.
Entgegenkommen des G-BA beim Lipödem hat nichts genutzt
Der Kabinettsentwurf zum EIRD sah zwar nicht mehr vor, dem Ministerium selbst die Kompetenz zu übertragen, neue Leistungen in den Katalog der GKV aufzunehmen.[i] Über eine Verordnungsermächtigung zu den Bewertungskriterien für Innovationen und die Etablierung einer Fachaufsicht über den G-BA sollte dieses Ziel jedoch auf indirektem Weg erreicht werden. Bei der Anhörung dieses Gesetzentwurfs im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 24.06.2019 unterstützte kein einziger der geladenen Expertinnen und Experten diese Vorschläge. Die Lektüre des veröffentlichten Anhörungsprotokolls kann man eigentlich nur als schallende Ohrfeige für die Pläne des Ministeriums verstehen.[ii] So trug Frau Dr. Dagmar Lühmann als stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes für evidenzbasierte Medizin vor, aus den vorgeschlagenen Regelungen sei nicht erkennbar, dass der Schutz der Versicherten vor ungeprüften schädlichen oder unnützen Methoden verbessert werde.[iii] Ein Abgeordneter zitierte die Stellungnahme des Bundesrates, wonach die Verordnungsermächtigung des BMG die unabhängige allein auf die Erkenntnis der evidenzbasierten Medizin beruhende Bewertung medizinischer Behandlungsmethoden gefährde[iv]. Prof. Hecken gab für den G-BA zu Protokoll, hier werde der Versuch unternommen, evidenzbasierte Medizin durch eminenzbasierte Medizin zu ersetzen.[v] Herr Prof. Dr. Andreas Markewitz, der Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), ließ alle professorale Zurückhaltung fahren und sagte zu den vorgeschlagenen Regelungen bei den Erprobungsstudien: “Das mit dem möglichst viel und möglichst schnell ist aus Sicht der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften ziemlicher Kappes, weil das den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin aus zahlreichen Gründen, die hier alle genannt worden sind, nicht genügt“.[vi] Infolge dieser Anhörung kam denn auch ein inoffizielles Papier von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Umlauf, in dem wesentliche Änderungen am Kabinettsentwurf angekündigt wurden.[vii] Die in aller Deutlichkeit vorgetragenen Argumente der Vertreter der Wissenschaft hatten die Abgeordneten der Regierungsfraktionen offensichtlich sehr nachdenklich gemacht; den Gesundheitsminister aber anscheinend nicht.
Am 19. September wurde die Endrunde in dieser Auseinandersetzung eingeläutet. Der G-BA beschloss einstimmig die Einführung der Fettabsaugung bei fortgeschrittenen Stadien des Lipödems zum 01.01.2020 – gegen den Rat einiger Vertreter von Fachgesellschaften, die hervorhoben, dass bei der schlechten Datenlage eine solche Einführung wegen unbekannter Risiken nicht zu rechtfertigen sei. Die am selben Tag veröffentlichten Änderungsanträge der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zum EIRD zeigten dann aber, dass das Gesundheitsministerium am Ziel, die Methodenbewertung im G-BA unter ministerielle Kontrolle zu bringen, unbeirrt festhält. Das Entgegenkommen des G-BA bei der Liposuktion hat anscheinend nichts genützt. Mit den Änderungsanträgen werden zwar die offene Einführung einer Fachaufsicht über den G-BA und einige ohnehin unrealisierbare Vorgaben für die Erprobungsstudien (Teile dessen, was Herr Prof. Markewitz als Kappes bezeichnet hatte) zurückgenommen. Die Kernpunkte der geplanten Reform bleiben allerdings uneingeschränkt erhalten: Dem BMG soll eine Verordnungsermächtigung für die Verfahrensordnung zur Methodenbewertung im G-BA übertragen werden. Damit wird der Verordnungsgeber dem G-BA künftig vorschreiben können, welche Anforderungen für die Nutzennachweise gestellt werden dürfen. Durch ein enges Korsett an Fristvorgaben, die in der Realität kaum einzuhalten sein werden, eröffnet sich das Gesundheitsministerium weitere inhaltliche Eingriffsrechte. Das Ende vom Lied wird sein: Der G-BA bekommt es mal wieder nicht rechtzeitig auf die Reihe. Das Ministerium muss also helfend eingreifen.
Qualitätsgebot gehört der Vergangenheit an
Als wichtigster Punkt kommt schließlich eine komplett neue, bisher nicht diskutierte Regelung hinzu: Künftig wird für alle Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus nur noch gefordert, dass sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten. Derzeit steht im Fünften Sozialgesetzbuch, dass auch Krankenhausleistungen dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen müssen und grundsätzlich dieselben Anforderungen im Hinblick auf ihren Nutzennachweis zu erfüllen haben wie die Leistungen im vertragsärztlichen Sektor. Dieses Qualitätsgebot gehört nach Verabschiedung des Änderungsantrages für die Krankenhausleistungen der Vergangenheit an. Ein Nutzennachweis wird dann für Krankenhausleistungen nicht mehr gefordert, lediglich ein Potential, d. h.: die Leistungen könnten möglicherweise einen Nutzen haben.
Die Folgen dieser Regelung sind aus der Perspektive des Patientenschutzes in hohem Maße beunruhigend. Es werden zwar gleichzeitig die Rahmenbedingungen für klinische Studien am Krankenhaus deutlich verbessert. Künftig müssen sowohl die Kosten für die Leistungen als auch für den wissenschaftlichen Overhead solcher Studien komplett vom Beitragszahler übernommen werden, und die konkreten Umsetzungsvorschriften hierfür werden gestrafft. Gleichzeitig wird allerdings die Motivation von Krankenhäusern und Medizinprodukteindustrie zur Teilnahme an Studien des G-BA praktisch beseitigt, da alle Leistungen mit Potential und ungeklärtem Nutzen ohnehin zeitlich unbefristet bezahlt werden müssen. So können Studien zur Klärung des Nutzens aus Anbietersicht für den deutschen Krankenhausmarkt keine Vorteile bringen, im Gegenteil: Es könnte sich durch solche Studien auch herausstellen, dass die Leistung nutzlos oder sogar schädlich ist. Warum dieses Risiko eingehen, wenn eine positive Bestätigung des Nutzens durch eine aussagekräftige Studie keinen wirtschaftlichen Vorteil bringt?
Politikstil, der auf Einwendungen keine Rücksicht nimmt
Der Verlauf dieses Gesetzgebungsprozesses ist ein Beispiel dafür, wie Wissenschaft, kritische Öffentlichkeit, Ärzteschaft und Kostenträger dem Plan des Ministeriums zur Übernahme der Kontrolle über die Bewertung von Innovationen am Ende nichts entgegenzusetzen haben. Möglich wird das durch einen neuen Politikstil, der auf Einwendungen letztlich keine Rücksicht nimmt und über eine Flutung der Fachpolitiker und der kritischen Öffentlichkeit mit zahllosen parallellaufenden Gesetzesvorhaben eine kritische Diskussion weitgehend unmöglich macht. Bedient werden mit diesem Vorgehen die Gesundheitswirtschaft und insbesondere Krankenhäuser und Medizinprodukteindustrie.
[i] Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung des Implantateregisters Deutschland und zu weiteren Änderungen des Fünften Sozialgesetzbuchs vom 03.04.2019. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/I/Implantateregister-Errichtungsgesetz_Kabinett.pdf
[ii] Deutscher Bundestag. Wortprotokoll 53. Sitzung Ausschuss für Gesundheit am 24. Juni 2019. https://www.bundestag.de/resource/blob/651126/c786eca464748ee3c6d5995367a0499f/Wortprotokoll_Implantateregister-data.pdf
[iii] Ebenda, Seite 8
[iv] Ebenda, Seite 19
[v] Ebenda, Seite 19
[vi] Ebenda, Seite 18
[vii] Das unveröffentlichte Papier liegt der Redaktion vor.
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