Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene

Der Vorschlag einer Autorengruppe um Helmut Hildebrandt

Dr. Robert Paquet

Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG, hat zusammen mit 18 Koautoren einen Vorschlag für die Neuorientierung des deutschen Gesundheitssystems vorgelegt: „Integrierte Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene“[1]. Im ersten Teil wird vor allem eine Kritik geliefert: Seit 20 Jahren habe die Einführung von (wettbewerblichen) Selektivverträgen die Idee der Integrierten Versorgung (IV) nicht wesentlich vorangebracht. Im zweiten Teil wird aus einem Perspektivwechsel auf die regionale Ebene der Vorschlag für einen neuen Anlauf unternommen. Die Autoren sind sich der Herausforderung bewusst: Ihr Ansatz würde „das Gesundheitswesen in Deutschland gravierend verändern“ (Langfassung, LF, Einleitung).

Beachtlich ist das Konzept, weil es im Hintergrund der gesundheitspolitischen Konzeption der GRÜNEN steht (LF Fußnote 1) und insbesondere dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag zu den Gesundheitsregionen (BT-Drs. 19/21881) zugrunde liegt[2]. Auch im Grundsatzprogramm-Entwurf für den digitalen Parteitag der GRÜNEN vom 20. bis 22.11. wird der Aufbau von „Gesundheitsregionen“ angestrebt, „die eine bestmögliche Verknüpfung der verschiedenen Versorgungsangebote vor Ort erlauben.“[3] Da mit einer Regierungsbeteiligung der GRÜNEN in der nächsten Wahlperiode zu rechnen ist, dürfte das Konzept der Gesundheitsregionen im kommenden Koalitionsvertrag eine prominente Rolle spielen. Die Ausarbeitung wirft damit auch ein Schlaglicht auf die konzeptionelle Stagnation und Ideenlosigkeit der anderen Parteien in diesem Politikfeld. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Regionalkonzept ist daher geboten.

 

Ausgangspunkt und Kontext

Um es gleich vorweg zu nehmen. Das Konzept lässt entscheidende Fragen offen, zeigt aber auch die Verarmung der gesundheitspolitischen Diskussion in den letzten Jahren. Die gute Konjunktur verführte dazu, immer mehr Geld in bestimmte Leistungsbereiche zu pumpen (Heilmittelerbringer, Pflegepersonal, Krankenhausstrukturen etc.). Grundsätzliche Struktur- und Effizienzfragen sind dagegen in den Hintergrund getreten. Angesichts der Corona-bedingten wirtschaftlichen Einbrüche und der demographischen Entwicklung tauchen sie jedoch mit Macht wieder auf und schieben sich in den Vordergrund. Das sehen auch die Autoren so. Die anderen Parteien bleiben bei ihren Passepartout-Lösungen: Die LINKE will alles verstaatlichen. Die SPD hofft immer noch auf die Bürgerversicherung. Die FDP erweist sich derzeit leider als gesundheitspolitischer Totalausfall. Die Unionsparteien – und namentlich Minister Spahn – stehen für die „Digitalisierung“ als Ultima Ratio und ein beherztes „weiter so“, ohne strukturpolitische Ambitionen. In letzter Zeit haben sie sich auf Wahlgeschenke und Konfliktvermeidung ausgerichtet (jüngstes Beispiel ist die Apothekengesetzgebung). Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der Autorengruppe sehr ernst zu nehmen (und auch hinreichend konfliktbereit). Er könnte tatsächlich eine neue Phase der Diskussion auslösen, so wie es sich die Autoren erhoffen (LF 56)[4].

Ausgangspunkt der Darstellung ist im ersten Teil die These, die den zentralen Perspektivwechsel des Papiers auslöst, nämlich, dass „Gesundheit … primär ein lokales und regionales Gut (ist). … Die Region als die unterste Einheit für die Entwicklung von Gesundheit und die Sicherung der Versorgung muss deshalb in das Zentrum der Reformen geführt werden.“ (LF 1). Maßstab möglicher Verbesserungen ist damit für die Autoren neben der Patientenorientierung („Prozesskette“ der Behandlung) der regionale Populationsbezug.

Zentral ist dabei die Doppelfrage: „Wie schaffen wir es, ein übergeordnetes ökonomisches Interesse an mehr Gesundheit und Effizienz zu erzeugen? Ein Interesse, das die Prozessqualität und das Versorgungserleben für die Patient*innen insgesamt fördert, den Gesamtprozess der Vermeidung bzw. Linderung und Behandlung von Erkrankungen optimiert sowie Patient*innen bzw. ganze Bevölkerungsgruppen in ihrer Gesundheitskompetenz und ihrem Selbstmanagement fördert?“ Bemerkenswert ist hier, dass für die Beteiligten ein „ökonomisches Interesse“ für die Mitwirkung ausschlaggebend sein soll. Die Autoren wollen also – vernünftigerweise – nicht moralisieren. Kritisch fällt aber auf, dass hier zwei Zuständigkeiten adressiert werden, die man besser trennen sollte: Die medizinische Versorgung von Kranken ist das eine und gehört zu einem im SGB V beschriebenen Kreis von Akteuren. Für Gesundheitskompetenz, Gesundheitsförderung / Prävention und das Selbstmanagement sind dagegen weitestgehend andere Institutionen verantwortlich. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist dabei zwar nach den §§ 20ff. SGB V angesprochen und verpflichtet, aber im Großen und Ganzen überfordert und der falsche Adressat. Hier wäre ein riesiges Aufgabefeld für die Kommunen, auf dem sie sich wirklich nützlich machen könnten, z.B. in ihrer Eigenschaft als Schulträger, als Verantwortliche für Stadtplanung und Jugend- und Altenhilfe etc. Die Vermengung beider Aufgabenkreise im Vorschlag der Autorengruppe trägt erheblich zur Verwirrung und Überkomplexität des Vorschlags bei. Hier sollte man anders sortieren.

Gemessen am Populationsbezug ist dann klar, dass die bisherigen punktuellen Ansätze zur IV dem Kriterium von „gemeinsam erzeugte(r) und koordiniert erreichte(r) Qualität der Behandlungsergebnisse und de(m) erzielte(n) Gesundheitsstatus von Populationen“ nicht genügen können (LF 3). „Erfolgsbremsen“ sind unter diesem Gesichtspunkt nicht nur der „zu hohe Aufwand für den Leistungserbringer“ im Vergleich zur „normalen“ Regelversorgung, die „Komplexität der Erfolgsmessung“ und der Wettbewerb der Kassen und der Leistungserbringer zwischen und innerhalb der Sektoren (LF 4ff.). Sondern auch ein Problem z.B. innerhalb einer Praxis, eines Krankenhauses oder einer Apotheke: „Wenn z. B. 30 % der Patient*innen nach einem selektivvertraglichen und 70 % innerhalb einer Einrichtung nach dem klassischen Regelversorgungsmodell behandelt werden, da nur Krankenkassen mit einem 30-prozentigen Marktanteil den Selektivvertrag abgeschlossen haben, entsteht ein doppelter Aufwand an Verfahrensanweisungen, Trainings für das jeweilige Vorgehen, EDV-Umstellungen u.v.a.m.“ (LF 7).

Nach dieser weitgehend zutreffenden Problembeschreibung konstatieren die Autoren einen „Trend zu weiterer Fragmentierung statt zu realer Integration“, was etwa für die ASV oder die ambulante Behandlung durch Krankenhäuser gilt. Resignierend stellen sie fest: „Im Ergebnis kommen viele Initiator*innen, die neue Lösungen entwickeln wollen, zu dem Schluss, dass es einfacher und erfolgversprechender ist, an den alten Modellen der Vergütung festzuhalten. Statt auf Koordination setzen sie dann auf die Strategie sektorspezifischer Optimierung.“ (LF 8). Indikationsspezifische „Add-On-Vergütungen“ seien keine Lösung; „größere Lösungen, die quer über alle Indikationen und auf Populationen in bestimmten Landkreisen oder Stadtbezirken ausgerichtet sind und der Logik einer geteilten Integrationsdividende folgen“, würden durch die geltenden (gesetzlichen und aufsichtsrechtlichen) Rahmenbedingungen „erschwert“. (LF 9). Die bisherigen politischen „Lösungsversuche“ hätten nur sehr begrenzte Erfolge (LF 10): 1. Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Sektorenübergreifende Versorgung“ („Fortschrittsbericht … ernüchternd“); 2. Gesundheitskonferenzen („relativ begrenzte Erfolge“); 3. Innovationsfonds (läuft auf die „Überführung von positiv evaluierten Versorgungslösungen in die Regelversorgung“ hinaus und bestätigt die „eingefahrenen sektoralen Vergütungsmechanismen, die ihrerseits wiederum die Ursache für so viele Fehlanreize sind“) (LF 10–13).

Danach werden die „konzeptionellen Entwürfe verschiedener Stiftungen“ auf mögliche Reformideen abgeklopft (Heinrich-Böll-Stiftung, Bertelsmann, Bosch und Stiftung Münch). Auch Konzepte aus dem vergleichbaren Ausland werden herangezogen. Im Ergebnis kommen die Autoren jedoch zu dem Schluss: Man brauche „neue institutionelle Zusammenschlüsse von Leistungserbringern oder auch neue regionale Unternehmensformen als handlungsfähige Einheiten …, die auch fähig und bereit sind, ideelle und wirtschaftliche Verantwortung mitzutragen“. Im Sinne des Populationsbezugs scheint dafür eine „gezielte Dezentralisierungsstrategie … gerade in nationalen Gesundheitssystemen erforderlich“ (LF 17). Bemerkenswert ist hier eine keineswegs beiläufige Feststellung: „Interessanterweise zeichnen sich hier insbesondere Länder aus, deren Gesundheitssystem staatlich organisiert ist.“ (LF 16). Im Ergebnis wissen die Autoren also, dass man für ihren neuen Ansatz „nichts weniger als eine Umorientierung der grundlegenden Geschäftsmodelle im Gesundheitswesen brauch(t)“ (LF 19).

Nach der Kritik im ersten Teil sind die Erwartungen hoch gespannt. Geboten wird ein „mehrschichtiger Lösungsentwurf“, der „erhebliche Veränderungen in der Bundes- und Ländergesetzgebung“ erfordert und „das Gesundheitswesen in Deutschland gravierend verändern würde“ (LF Einleitung). Dabei ist es – vor allem wegen der Einmengung der Präventions-/Gesundheitsförderungsaspekte, weitschweifiger Erörterungen der Zusammensetzung von Gesundheitskonferenzen und von Fragen der Datenbeschaffung etc. – nicht ganz einfach, den Kern des Vorschlags herauszudestillieren. Im Folgenden ein Versuch, das Konzept zu verstehen.

 

Wie geht das Konzept?

Initiiert werden soll die integrierte Versorgung auf Kreisebene durch kommunale Gesundheitskonferenzen, die die Gebietskörperschaften organisieren. Beteiligt werden sollen daran nicht nur die „klassischen „Bänke“ der Gesundheitsakteur*innen“, sondern auch Versicherten- und Patientenvertreter und weitere Akteur*innen aus, z. B. „Sport- und Sozialverbänden, Bildungsträgern, Selbsthilfeorganisationen etc.“ (LF 26). Die Konferenz soll Defizite in der Region bei Prävention und Versorgung feststellen und Verbesserungsziele im Sinne einer umfassenden IV formulieren. Die Kommune bzw. der Landkreis sollen ihre Infrastruktur (Geschäftsstelle etc.) bereitstellen. Entscheidend sei (im Gegensatz zu den bisherigen Erfahrungen mit eher folgenlosen Gesprächsrunden), dass sie zwei zusätzliche Kompetenzen erhält: Einerseits soll sie umfassende Daten im Sinne eines „Community Health Assessments“ anfordern können, mit deren Hilfe im Zeitvergleich der Erfolg der angestoßenen IV-Entwicklung öffentlich dargestellt und bewertet werden kann. Andererseits soll sie das Recht erhalten, „die relevanten Krankenkassen der lokalen Bevölkerung und die Gesundheitsakteur*innen der Region bzw. entsprechende Managementgesellschaften zu Verträgen aufzufordern“. „Sie dürfen außerdem Vertreter der Krankenkassen und der anderen Verhandlungspartner zur Darstellung ihrer Zielkonzepte und zu Berichten über den jeweiligen Verhandlungsstand verpflichten und darüber hinaus eine Empfehlung abgeben, welches Konzept und welcher Vertragspartner für eine regionale, am Gemeinwesen orientierte Verantwortungsübernahme bevorzugt wird. Für die abgeschlossenen Verträge dürfen sie regelmäßig öffentliche Berichterstattung über die Ergebnisse und die erreichte Qualität der Angebote und Versorgungsleistungen abfordern, ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit damit öffentlich machen und dem jeweils lokalen Parlament vorstellen.“ (LF 28).

Weil in der Konferenz eine Vielfalt (und auch ggf. Widersprüchlichkeit) der Interessen vermutet wird, soll der Auftrag an die Kassen durch die demokratisch legitimierten Gremien (Kreistag) bzw. Institutionen (Gebietskörperschaften) erteilt werden. Die Konferenz wendet sich an die „demokratisch legitimierte Einheit, die dann die eigentliche Entscheidungsträgerin ist“ (LF 25). Wieweit diese „Einheit“ dann von den in der Konferenz geäußerten Wünschen und Vorstellungen abweichen kann oder darf und wie sie den Auftrag an die Kassen (und die lokalen Leistungserbringer) zu Vertragsabschlüssen tatsächlich vollzieht, wird nicht weiter ausgeführt.

Die Kassen sollen dann „Standardisierte Basisverträge Regionale Integrierte Versorgung (Basis-RIV)“ abschließen, die „sich auf einen Großteil bzw. die gesamte Bevölkerung einer Region (beziehen)“ (LF 29). Nach dem Vorbild der amerikanischen Accountable Care Organizations (ACOs)[5] sollen dafür „zwei bis drei standardisierte Vertragsvarianten“ entwickelt werden, wohl weil die Transparenz nicht durch eine zu große Vielfalt beeinträchtigt werden soll. Auch der eigentliche Inhalt dieser Verträge wird nicht näher beschrieben. Es geht aber wohl um die „Integration“ nicht nur von ambulanter und stationärer Versorgung, sondern weit darüber hinaus; Prävention, Gesundheitsförderung, Rehabilitation und Pflege etc. sollen einbezogen werden. An anderer Stelle wird jedoch eingeräumt, dass die Vertragspartner auch von den Standardvarianten abweichen können (LF 29).

Dazu müsste der Gesetzgeber – im Gegensatz zu den heutigen 140a-Verträgen – festlegen, dass es den lokalen Leistungserbringern freisteht, mitzumachen. Auch die „Abrechnungsmodi“ müssten nicht zwingend verändert werden; man könnte sich auf „zusätzliche Vergütungen für bestimmte qualitative Anforderungen“ beschränken (LF 30). Auch für die Versicherten soll „die freie Arzt-, Krankenhaus und Pflegewahl“ erhalten bleiben. Sie „entscheiden frei, ob sie sich von Gesundheitsanbietern mit und ohne Netzwerkvertrag oder außerhalb der Gesundheitsregion behandeln lassen wollen. … Eine Einschreibung (via Teilnahmeerklärung) von Versicherten in die Verträge mit den Krankenkassen halten wir nicht für erforderlich, Versicherte sollten auch hier völlige Freiheitsrechte behalten.“ „Zwingend“ sei aber, dass „die regionalen Gesundheitsverbünde bzw. ihre Managementgesellschaften für jeweils alle Versicherten der jeweiligen Krankenkassen … ökonomisch und in den Qualitätsergebnissen verantwortlich“ seien (ebenda).

Dabei wird nicht aufgeklärt, wie bei völliger Unverbindlichkeit der Verträge sowohl für die Leistungserbringer wie für die Versicherten eine „Verantwortung“ für irgendwelche Ergebnisse wahrgenommen werden kann. Hier hoffen die Autoren wohl auf den öffentlichen Druck durch Public Reporting: „Die lokalen Gesundheitsverbünde bzw. ihre Managementgesellschaften sind zur öffentlichen Berichterstattung über ihre Gesundheitsergebnisse und zur Beteiligung an standardisierter, regional vergleichender Berichterstattung verpflichtet.“ (ebenda)

Der zentrale Anreiz zum Abschluss solcher Verträge soll durch einen „„Zukunftsfonds Innovative Gesundheitsregionen“ gesetzt werden, der als „ausgegliederter Arm des Gesundheitsfonds“ organisiert werden soll. Hier wird vorgeschlagen, dass die Kassen für ihre Versicherten in der Region einen Aufschlag auf ihre RSA-Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten (drei Jahre 3% und drei Jahre 1%). „Die darauffolgenden vier Jahre erhalten keinen Aufschlag, und für die Jahre 11 bis 20 werden die Zuweisungen für insgesamt 10 Jahre um 2 % abgesenkt.“ Mit dieser Systematik soll langfristig Kostenneutralität erreicht werden. Der Aufschlag kann für ein motivierendes Zusatzhonorar der Leistungserbringer und für die Deckung der Managementkosten eingesetzt werden. Nach zehn Jahren – so ist die Idee – sollen sich die Effizienzgewinne so weit entwickelt haben, dass die Versorgung tatsächlich deutlich kostengünstiger wird als der Abschlag von 2 Prozent.

Mit den Verträgen sollen „Gesundheitsverbünde“ (der Leistungserbringer, aber wohl nicht nur) gebildet werden. „Managementgesellschaften“ sollen sie koordinieren und die Effizienzpotentiale aufzeigen und deren Ausschöpfung initiieren. Das Anreizschema soll sicherstellen, dass die „Integrationsdividende“ für Kassen und Leistungserbringer dauerhaft größer ist als die Kosten der „normalen“ Regelversorgung (LF 34). Aus den Einsparungen der Kassen könnte eine „Qualitätsbonifizierung“ an die Leistungserbringer vergeben werden. „Die Vergütung der in dieser Region erbrachten gesundheitlichen Leistungen kann wie bisher auf der Grundlage des EBM und des DRG-Systems erfolgen. Es sind prinzipiell aber auch eigene sektoral und oder transsektoral differenzierte Vergütungsregelungen in der Region denkbar, die andere oder zusätzliche Anreize setzen und auch ohne Budgetierungen auskommen …“ (LF 35). Nach einer „vereinfachten Modellrechnung“, die sich am Projekt „Gesundes Kinzigtal“ orientiert, erwarten die Autoren einen sicheren Effizienzgewinn.

Wie bereits erwähnt, soll sich das System der alternativen Regelversorgung, die die herkömmliche Versorgung allmählich „überformen“ soll, durch politische Zielvorgaben und „Public Performance Reporting“ entwickeln und ausbreiten (LF 35ff.). „Der Gesetzgeber bekennt sich explizit zum Ziel einer integrierten populationsorientierten Versorgung – etwa mit der Vorgabe in einem regierungsamtlichen Aktionsplan, dass bis zum Jahr 2025 10 % und bis zum Jahr 2030 25 % der deutschen Bevölkerung von entsprechenden regionalen populations- und outcomeorientierten Verträgen nach §140a SGB V profitieren, bei der Erhaltung ihrer Gesundheit unterstützt und über alle Sektoren hinweg gut versorgt werden sollen.“ Die Aufsicht soll über die Einhaltung der Qualitätsstandards wachen und Risikoselektion und Rationierung verhindern. Außerdem soll das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) die „Leistungsergebnisse der Krankenkassen“ vergleichend auswerten und „hinsichtlich der positiven Veränderung der Morbidität und hinsichtlich Patient Reported Experiences und Patient Reported Outcomes ihrer Versicherten“ darstellen. Das „würde einen starken Anreiz für die Krankenkassen auslösen, sich für die Multiplikation von sektorübergreifenden Versorgungsformen einzusetzen und damit in derartige Vertragsformen und in die Ergebnisqualität zu investieren.“ Dafür müsste die Datenbasis, die es aus dem Risikostrukturausgleich bereits beim BAS gibt, genutzt und deutlich erweitert werden.

 

Fragen und Probleme

Man muss den Autoren zu Gute halten, dass sie selbst viele Fragen, die sich bei ihrem Konzept stellen, noch für ungeklärt halten. Positiv ist sicher auch der Versuch, unter Beibehaltung privatwirtschaftlicher bzw. unternehmensförmiger Leistungserbringer (z.B. Krankenhäuser) ein neues „Geschäftsmodell“ zu entwickeln. Verstaatlichung ist keine Lösung, und die bisherigen Versuche, den Wettbewerb der Kassen als Hebel für „nachhaltige“ (also nicht nur punktuelle) Verbesserungen der Versorgung zu nutzen, können als gescheitert gelten. Auch das Instrument der (für den Wettbewerb konzipierten) Selektivverträge nach § 140a SGB V hat nicht wirklich eine Wende als „Innovationsmotor“ gebracht. Mehr als „ergänzende Selektivität“ (neues Leitbild), also Trippelschrittchen zu Verbesserungen und als Hilfskonstruktion für die Innovationsfonds-Projekte ist mit ihnen nicht zu erreichen[6]. – Daher sollten sich die Autoren – so viel nur nebenbei – auch nicht darauf beziehen. Was man für ihr Konzept braucht, ist eine völlig andere Vertragsgrundlage. Die Vertragsform nach § 140a taugt nicht für populationsorientierte Ansätze. – Insgesamt drängen sich aber viele weitere Fragen auf.

 

Regionen – aber welche und was können sie?

Warum sollen ausgerechnet die Kommunen und Landkreise die neuen innovativen Reform-Motoren sein, deren gesundheitspolitische Überforderung sich doch gerade jetzt in der Corona-Krise zeigt? Was befähigt sie plötzlich dazu, die Steuerung des gesamten Gesundheitswesens zu übernehmen? Selbst im Bereich der Gesundheitsförderung, wo sie beispielsweise (mit dem Geld der Krankenkassen nach § 20a SGB V) etwas Relevantes tun könnten, ist von einer zielgerichteten Politik der Setting-Orientierung bisher so gut wie nichts zu hören. – Die Kommunen und Landkreise müssten erst einmal Schritt für Schritt ihre Institutionen ertüchtigen und ihre Kompetenzen entwickeln (Personal!).

Der Pakt für den ÖGD markiert zwar gerade ein Umschwenken: Die jahrzehntelange Vernachlässigung der Gesundheitsämter soll jetzt beschleunigt korrigiert werden. Dazu werden mehrere Milliarden Euro eingesetzt. Um aber aus Behörden, deren Unterhalt und Führung von den Gebietskörperschaften jahrzehntelang eher als Last empfunden wurde, leistungsfähige und mit fachlicher Autorität agierende Institutionen zu machen, wird es lange dauern. Das muss auch mit einem Personalaustausch einhergehen, der nur möglich wird, wenn Bezahlung, Arbeitsformen und Aufgabenstellung attraktiver werden. Nur als Hinweis auf die Dauer solcher Wandlungsprozesse: Seit dem Gesundheitsreformgesetz von 1989 hat es rund dreißig Jahre gedauert, bis der Medizinische Dienst – vom ungeliebten Kontrollorgan der Krankenkassen („Fachärzte für Schriftverkehr“) – inzwischen ein interessanter Arbeitgeber und eine auch von außen fachlich anerkannte Institution geworden ist.

Was bewegt regionale Gesundheitskonferenzen und kommunale Parlamente: Wir brauchen einen Urologen in der Nähe. Die hausärztliche Versorgung in der nördlichen Hälfte des Kreises ist notleidend. Wie erreichen wir, dass unser Kreiskrankenhaus rentabel wird und erhalten werden kann? – Das sind doch die typischen Fragen auf der regionalen Ebene. Vom Bedürfnis nach Abbau von Überversorgung oder einer regionalen Kostensenkung wurde dagegen von den lokalen Akteuren noch nichts gehört. Was haben diese voraussehbaren Themen bzw. Anliegen der Landkreise etc. mit dem Anspruch der Effizienzorientierung der vorgesehenen Standardverträge zu tun? Wie passt das zusammen? Wie können die auf der lokalen Ebene völlig ungebrochenen Einzel- und Sonderinteressen in ein ausgewogenes Gesamtmodell integriert werden? – Zumal ja offenbar das bundesweite Regelwerk der GKV erhalten bleiben und nicht jeder Kreis sein eigenes SGB machen soll. Wären die Kreistage und kommunalen Parlamente befähigt (und legitimiert), hier die Verantwortung für eine komplexe Gesamtversorgung der Bevölkerung wahrzunehmen?

Grundsätzlich muss aber auch gefragt werden, ob das Ansetzen auf der Kreisebene nicht einen fundamentalen Rückschritt in vormoderne Verhältnisse bedeutet. Die Wohnbevölkerung eines Kreises arbeitet nur zum Teil in der Region und nimmt die medizinischen Angebote oft in der Nähe des Arbeitsplatzes in Anspruch. Schüler gehen im Nachbarkreis zur Schule, und in einer Studentenstadt wie z.B. Münster ist ein Großteil der dort lebenden Studenten nicht mit erstem Wohnsitz gemeldet. Nur so viel als Hinweise auf Mobilitätsprobleme. Von der überregionalen Versorgungsfunktion der leistungsfähigeren Kliniken und spezialisierten Facharztpraxen ganz abgesehen.

Das führt zwingend zu der Überlegung, dass Landkreise in der überwiegenden Zahl der deutschen Regionen überhaupt nichts mit sinnvollen Grenzen von gesundheitlichen Versorgungsregionen zu tun haben. Zum Beispiel besteht der (nach medizinischem Angebot und Nachfrage einheitliche) Rhein-Main-Ballungsraum mindestens aus fünf Großstädten und ca. zehn Landkreisen in zwei Bundesländern. Oder das medizinische Angebot im Großraum Ludwigshafen-Mannheim-Heidelberg steht für drei Bundesländer und einen riesigen Einzugsbereich. Will man sich vorstellen, der Stadtrat von Mannheim „integriert“ das Uniklinikum Heidelberg-Mannheim mit den Fachärzten vor Ort, oder der Kreistag des Landkreises Bergstraße stimmt für Weinheim die ärztliche Versorgung mit den südlich gelegenen Großstädten ab?

 

Fragwürdige Beispiele

Auch die zwei (!) Beispiele, die herangezogen werden um zu beweisen, dass das Konzept funktionieren kann, sind nicht überzeugend. Die amerikanischen Accountable Care Organizations (ACO) spielen ihre Rolle in einem gegenüber dem deutschen völlig andersartigen Gesundheitssystem. Der entscheidende Punkt dürfte dabei sein, dass die Patienten, die dort einbezogen werden, als Versicherte der staatlichen Versorgung (Medicaid/Medicare) oder einer Gruppenversicherung für Betriebsmitarbeiter gar keine echte Alternative haben, als sich dem Versorgungsmanagement dieser Organisationen zu unterwerfen. Die Möglichkeit einer individuellen privaten Krankenversicherung ist für die meisten Amerikaner finanziell nicht verkraftbar, und im staatlichen System gibt es keine „freie Kassenwahl“. Insoweit sind ihre Möglichkeiten der Inanspruchnahme auf die Leistungserbringer beschränkt, die Verträge mit der ACO haben und nach deren Regelwerk behandeln. Weil die ACOs in bestimmten Regionen relativ große Nachfrage bündeln, können sie mit dem Ziel der Effizienzsteigerung Druck auf die ansässigen Leistungserbringer ausüben. Das System beruht somit auf mehrfachen Verbindlichkeiten: Bindung an einen Versicherer, Bindung an bestimmte ausgewählte Leistungserbringer und deren Bindung an ein mit der ACO ausgehandeltes Leistungsregime. – Die Autorengruppe will in ihrem Konzept in dieser Hinsicht jedoch alles offen lassen. Die Versicherten sollen sich in die neuen Modelle nicht „einschreiben“ müssen, sondern behalten die freie Arzt- und Krankenhauswahl. Von der freien Wahl einer Kasse, die solche Vertragsmodelle im Angebot hat, ganz zu schweigen.

Das zweite Beispiel ist das Modellprojekt „Gesundes Kinzigtal“. Es ist ein seit über 15 Jahren von der AOK Baden-Württemberg gepäppeltes Kooperationsmodell von rund 50 Ärzten mit einigen örtlichen Kliniken[7], das an der Versorgung einer Bevölkerung von etwa 70.000 Einwohnern beteiligt ist (von denen nur rund 35.000 Mitglieder der Vertragspartner-Kassen sind). Von den eingebauten Aspekten der Prävention und Gesundheitsförderung einmal abgesehen. Ob damit das Kinzigtal das bundesdeutsche Gesundheitssystem als Mikrokosmos zutreffend abbildet, muss unter Berücksichtigung der vielen Sonderbedingungen bezweifelt werden. Insbesondere die (in Deutschland überwiegend) hochurbanisierten Verdichtungsregionen (in denen der Integrationsbedarf gerade dringlich ist), haben völlig andere Bedingungen. Die Einspar-Erfolge der Kinzigtal-Evaluation als Beweis für die Triftigkeit des vorgeschlagenen Regional-Ansatzes anzuführen, ist daher schon ziemlich mutig.

 

Inhalt der Verträge und Rolle der Managementgesellschaften

Was soll eigentlich der Inhalt der (Standard-)Verträge sein? Aus welchen Regularien soll der Spareffekt kommen, der ja außerdem die Aufwendungen für die bessere Qualität der Versorgung, die zusätzliche Gesundheitsförderung und die Verbesserung der Gesundheitskompetenz decken soll? Dazu wird nichts Näheres erklärt.

Genauso unklar bleibt, was die Instrumente und Einflussmöglichkeiten der Managementgesellschaft sein sollen, die ja die Effizienzsteigerung bewirken muss. Löst man irgendetwas Relevantes aus, wenn man das Honorierungssystem im Ganzen bestehen bleiben lässt und sich auf die Bezahlung von ein paar Qualitätsprämien beschränkt? Kann eine Managementgesellschaft etwas im Sinne von Effizienz bewirken, ohne wesentlich in die Honorarsystematik bzw. (vielleicht noch wichtiger) in die Honorarverteilung der Ärzte und in die Finanzierungsproportionen von ambulantem und stationärem Sektor einzugreifen? Und was passiert, wenn sich nach der Rationalität der Managementgesellschaft die Abteilung X oder Y des Kreiskrankenhauses als überflüssig oder qualitativ insuffizient erweist, die Bevölkerung das aber nicht wahrhaben will bzw. keine Konsequenzen daraus zu ziehen bereit ist?

In der Selbstreflexion der Autoren wird die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten der Managementgesellschaft – u.a. im Hinblick auf die Gewinnung weiterer Vertragspartner – durchaus gestellt, aber m.E. nicht befriedigend beantwortet (LF 41). Dort heißt es vor allem, man könne

  • „eine wirkliche Beteiligung an der lokalen Versorgungsorganisation anbieten und mit ihnen das enge und von Misstrauen geprägte Leistungskorsett aufschnüren,
  • über einen Bürokratieabbau und eine erhöhte Berufszufriedenheit die lokalen Player als Partner gewinnen,
  • eine höhere Effizienz der Leistungserbringung und bessere „Back-Office-Unterstützung“ anbieten“.

Reicht das aus? Und bedeutet „wirkliche Beteiligung“ und das „Aufschnüren des Korsetts“ etwa, den Krankenhäusern den allgemeinen Zugang zur ambulanten Versorgung zu eröffnen (über die §§ 115ff. SGB V hinaus)? Wird das dann effizienter? Dürfen Leistungserbringer dann enger (auch wirtschaftlich) zusammenarbeiten, z.B. Orthopäden und Physiotherapeuten, Augenärzte und Optiker oder HNO-Ärzte und Hörgeräte-Akustiker etc., was heute aus durchaus bedenkenswerten Gründen verboten ist. Könnte lokal das Dispensierverbot für die Ärzte aufgehoben werden? Oder reicht der „Bürokratieabbau“ so weit, dass die Richtlinien des G-BA nicht gelten, die ja vor allem mit der Qualitätssicherung begründet werden? Oder können im lokalen Rahmen die engen Grenzen der Delegation ärztlicher Leistungen gelockert werden? Welche Reaktionen der lokal Betroffenen und erst recht von außen würde das denn auslösen und wie wäre die Legitimation des lokalen Vertragsmodells davon betroffen? – Die Dinge sollen ja besonders transparent ablaufen und werden daher mit Sicherheit Gegenstand einer bundesweiten Debatte. Es ist daher schwer vorstellbar, dass sich alle Konfliktthemen, die bundespolitisch bis heute hochbrisant und umstritten sind, plötzlich in vielen Landkreisen – unkommentiert von außen – in Wohlgefallen auflösen. Ein noch ziemlich aktuelles Beispiel dafür, wie heikel sich solche Dinge entwickeln, sind die Modellversuche zur „Blankoverordnung“ im Bereich der Physiotherapie.

 

Beteiligung der Patienten und Leistungserbringer

Warum sollten eigentlich die Versicherten bzw. vor allem die Patienten mitmachen? – Worin liegt ihr Vorteil, wenn es keine Wahltarife (also keine ökonomische Prämie) dafür gibt? Wenn die Beteiligung freiwillig sein soll und man daher auch auf Einschreibungen verzichten zu können glaubt? Wie kann man dann die Patienten motivieren, diejenigen Leistungserbringer in Anspruch zu nehmen, konkret also zu den Ärzten zu wechseln (!), die an dem Projekt teilnehmen? Wenn man das Modell evaluieren will, braucht man außerdem eine personenbezogene Zuordnung bestimmter Patienten zu der neuen „integrierten“ Versorgung. Sonst kann man nichts vergleichen und auch den vermuteten Effizienzgewinn nicht nachweisen.

Wie will man die Versicherten ansprechen und zur (möglichst kontinuierlichen) Beteiligung veranlassen? Ist es aus der Perspektive der Versicherten motivierend, Effizienzgewinne bei der Versorgung herauszustellen, die aber nach einigen Jahren zu merklichen Kostensenkungen führen sollen? Für die man aber die Ärzte und Krankenhäuser erst einmal kurzfristig besser bezahlen will? Ist das für den einzelnen Patienten ein überzeugendes Angebot?[8] – Die Beteuerungen zu diesen Fragen in der Langfassung (S. 40) sind jedenfalls nicht überzeugend.

Auch die Gewinnung der Leistungserbringer, mit denen ja tatsächlich Verträge (nach § 140a SGB V) geschlossen werden sollen, wird nicht einleuchtend dargestellt. Sicher werden alle der abstrakten Forderung zustimmen, dass überflüssige bzw. vermeidbare Leistungen unterbleiben sollen. Wenn ein konkretes einbezogenes Krankenhaus aber einen Vertrag unterzeichnen soll, der ihm zwar für ein paar Jahre einen höheren Erlös bringt, der es aber in den weiteren Jahren dazu zwingt, z.B. in der Geburtshilfe weniger (lukrative) Kaiserschnitte abzurechnen oder sogar Betten abzubauen, wird die Beteiligung höchst fraglich. Auch hier ist die in der Langfassung (S. 40f.) ausgesprochene Hoffnung einer breiten Beteiligung nicht substantiiert. Die Erfahrung, wie zäh die Leistungserbringer auch an fragwürdigen Leistungen festhalten, spricht hier eher für Pessimismus. Es sei denn, wie ebenfalls in der LF ausgeführt, die Mehrheit der Leistungserbringer wird mit massivem öffentlichem Druck zu Verhaltensänderungen gezwungen. Dieser politische Druck fehlt aber ja gerade derzeit[9] und widerspricht fundamental der (tendenziell sympathischen) Konzept-Idee eines allmählichen und freiwilligen Einschleichens der neuen integrierten Versorgung. Die dann über ihr gutes und effizientes Beispiel für sich werben soll (und eben nicht über politischen Druck).

Dass das Kinzigtal und die ACOs für eine ausreichende (und freiwillige!) Beteiligung der Patienten und Leistungserbringer keine guten Beispiele sind, wurde bereits ausgeführt.

 

Messung der Morbidität und der Kosten

Woher nehmen die Autoren die Sicherheit ihrer Morbiditätsmessung? Wieweit wäre eine Verbesserung auf die ja einbezogene Gesundheitsförderung und Prävention oder auf eine Verbesserung der Effizienz der Behandlung zurückzuführen? Sollen Hochrisikofälle ausgegliedert werden oder nicht? Wie wird – erst recht über längere Zeiträume – der medizinische Fortschritt (z.B. neue Hochkosten-Arzneimittel) berücksichtigt? Etc. Bei Langzeitvergleichen über Jahrzehnte sind das essentielle Fragen. Der unendliche Streit über die Methodik des Morbi-RSA würde sich dann in diesem Bereich wiederholen. Und wie ginge man bei der Erfolgsmessung (über einen längeren Zeitraum) mit der Mobilität der Bevölkerung und mit Kassenwechseln um (wenigstens, so lange wie die Kassen als Vertragspartner und Adressaten der Auf- und Abschläge bei den RSA-Zuweisungen noch eine Rolle spielen)?

Schließlich ist zu fragen, warum es so sicher sein soll, dass die regionalen Modelle nach wenigen Jahren zu echten Kostensenkungen führen. Bessere Versorgung (im Sinne von IV) braucht dauerhaft mehr kommunikativen Aufwand und entsprechende Investitionen in Hard- und Software und vor allem in ärztliche Arbeitszeit. Angesichts der Zunahme der Komplexität des Morbiditätsgeschehens und der medizinischen Möglichkeiten wäre daher eher mit höherem Aufwand als mit Einsparungen zu rechnen.

 

Politische Widersprüche

Abgesehen von den notwendigen Gesetzesänderungen ist schwer erkennbar, wo dieses Konzept politisch anschlussfähig sein könnte. Kommunen und Landräte werden sicher begeistert sein, mehr Einfluss auf die lokalen Versorgungsgegebenheiten nehmen zu können, ohne eigenes Risiko und ohne eigenen Mitteleinsatz[10]. Dafür aber mit Strukturveränderungen ihrer kommunalen Krankenhäuser zu „bezahlen“ und das Management privaten Agenturen zu überlassen, wird ihnen schon weniger gefallen. Dass das über Verträge der Krankenkassen funktionieren soll, liegt bisher im Allgemeinen weit außerhalb ihres Horizonts. Hier wären fundamentale und schnelle Lernprozesse nötig.

Gesundheitspolitiker auf Bundesebene dürften sich dagegen die Frage stellen, die die Autoren in einer selbstkritischen Reflexion selbst beantworten wollen: „Kann es zu einem Flickenteppich von guter und weniger guter Versorgung kommen und wie kompatibel ist das mit dem Gebot der gleichwertigen Lebensverhältnisse?“ – Die Antwort, die sich die Autoren geben, dürfte kaum befriedigen: „Es entstünde damit ein Wettbewerb und ein Lernen untereinander zwischen den Regionen.“ (LF 51) – Das gegenwärtig vorherrschende Politikmodell ist aber gerade umgekehrt, die naturwüchsig entstandenen Unterschiede abzubauen, statt absichtlich neue zu erzeugen. Die Gleichartigkeit der Versorgung ist das Mantra aller Gesundheitspolitiker!

Außerdem fällt es schwer, sich angesichts der hektischen, kleinteiligen und kurzatmigen Gesetzgebung im Gesundheitsbereich[11], vorzustellen, dass das beschriebene Regionale Vertragsmodell zwanzig Jahre mit einem weitgehend unveränderten Rechtsrahmen in Ruhe gelassen wird, um seine Effizienz unter Beweis stellen zu können.

 

Populationsorientierung und Wettbewerb passen nicht zusammen

Außerdem wissen die Autoren selbst, dass die Funktionsfähigkeit des Modells mit Populationsorientierung daran hängt, dass die Versicherten einer Region überwiegend erfasst werden. So argumentieren sie für den Fall, dass „innerhalb eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren nach der erstmaligen Aufforderung durch die Gesundheitskonferenz keine Verträge nach dem Modell der „Gesundheitsregionen der Zukunft“ für mindestens 75 % der GKV-Versichertengemeinschaft ihrer Region abgeschlossen worden sind“, mit einer kommunalen Ersatzvornahme: Das heißt, die Gebietskörperschaften schließen Verträge bzw. „Direktvereinbarungen mit dem Gesundheitsfonds über den Kopf der Krankenkassen hinweg“ und übernehmen die „virtuelle Budgetverantwortung“.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht glaubwürdig, wenn die Autoren noch behaupten, dass „sie weiterhin die wettbewerbliche Gestaltung mit Krankenkassen einer staatlichen Organisation vorziehen – allerdings in Richtung eines Wettbewerbs um Qualität und Outcome“ (LF 24). Der Wettbewerb der Kassen wäre demnach (wenn alle beim gleichen Modell mitmachen (müssen) bzw. im Falle der Ersatzvornahme) stillgestellt bzw. obsolet. Es ginge nur noch um den Wettbewerb der Regionen (durchaus im Sinne des „Wettbewerbsföderalismus“ der bayerischen Gesundheitsministerin Melanie Huml). – Im Grunde zeigt sich daran, dass man Krankenkassen für das Modell überhaupt nicht mehr braucht, jedenfalls nicht als Gestalter der Versorgung durch Verträge. (Die Funktion des Beitragseinzugs könnte die Rentenversicherung ohne weiteres übernehmen und wartet eigentlich nur darauf). Wenn Standardverträge, die den Kern der Gesundheitsversorgung maßgeblich gestalten, für alle größeren Kassen regional in gleicher Form umgesetzt werden sollen, ist auch die Vielfalt der Kassen sinnlos und überflüssig. Die angedrohte kommunale Ersatzvornahme läuft letztlich auf eine andere Konstruktion hinaus: Regionale Einheitskassen als Instrument der kommunalen und Kreis-Parlamente! Oder gilt, dass das alles auch mit einer „Drittel-Quote“ der Beteiligung der „Gesundheitsakteur*innen“ (wer ist das überhaupt?) klappt (LF41)? Was gilt denn nun? Die beim populationsorientierten Ansatz immer wieder durchschimmernde Sehnsucht nach einem staatlich administrierten und auf Effizienz orientierten Gesundheits-Einheitssystem (Vorbild Dänemark?), oder jeder kann machen, was er will? Was auf der Basis einer privatwirtschaftlich organisierten ambulanten und stationären Versorgung logisch wäre?

Auch die proklamierte Absicht, „monopolähnliche Strukturen“ zu vermeiden (ebenda), erweist sich vor diesem Hintergrund als Phantom. Wenn alle wesentlichen Kassen in einer Region zum neuen Standardvertrag verpflichtet werden sollen und können, welche Leistungserbringer könnten dann noch jenseits dieser Konstruktion arbeiten? Außerdem würde dann auch das Anreizsystem ins Leere laufen, wenn alle regionalen Kassen für ihre Versicherten den Aufschlag bekämen. Das System würde auf eine lokale und degressiv gestaltete Budgetierung der Gesamtversorgung hinauslaufen. Wäre das der Sinn der an anderer Stelle erörterten Regionalbudgets (LF 15f.)? – Oder ist das falsch verstanden und es gilt, dass Leistungserbringer und Versicherte weiter völlig frei sind, nach diesen neuen Regeln oder nach dem alten Muster zu agieren? Was denn nun? Bei letzterem wäre nämlich der Regionalvertrag ein Papiertiger? Wie eine Gesamtverantwortung für eine gute Versorgung unter diesen Umständen (von wem auch immer) wahrgenommen werden soll, ist somit schleierhaft.

 

Gesamteinschätzung und Fazit

In der gesundheitspolitischen Programmatik der Grünen gab es immer schon eine große Liebe für basisdemokratische Gesundheitskonferenzen und den Glauben an die erlösende Wirkung von Gesundheitsberichterstattung. Insoweit knüpft das Regionalkonzept an Traditionslinien an. Auch die Fans von „small ist beautyful“ kommen auf ihre Kosten.

Mulmig wird einem aber, wenn man den Zeithorizont registriert, in dem die Autoren die Umsetzbarkeit ihres Konzepts vermuten: Sie „gehen nicht davon aus, dass der Vorschlag innerhalb dieser Legislatur noch beschlossen und umgesetzt werden kann. Dafür bedarf es eines breiteren Diskussionsprozesses, der sicherlich in die nächste Legislatur und damit in das Jahr 2022 hineinreicht.“ (LF 53). Damit haben sie mindestens insoweit recht, als auch unausgegorene Konzepte in Koalitionsverträge eingehen können und einen gewissen Umsetzungsdruck erzeugen. Angesichts der ordnungspolitischen Konzeptionslosigkeit der Unionsparteien keine unwahrscheinliche Vorstellung. Dabei würde das Regionalkonzept bei Landes- und Kommunalpolitikern, die ja zunehmend an solchen Verhandlungen mitwirken, zunächst einmal auf Sympathie stoßen, ohne dass sie sich der damit einhergehenden praktischen Schwierigkeiten bewusst wären.

Insoweit ist es allerhöchste Zeit für eine ernsthafte Diskussion (und sicher auch Weiterentwicklung/Präzisierung) des Konzepts. Angesichts der Sackgasse, in der wir uns gesundheitspolitisch im Hinblick auf die dringend notwendige Weiterentwicklung der Versorgung befinden, ist jeder alternative Versuch erst einmal ernst zu nehmen, auch wenn er sich viele kritische Fragen gefallen lassen muss. Es wäre zu hoffen, dass einige in den nächsten Monaten geklärt werden können.

 

[1] In „Welt der Krankenversicherung“, 1. Teil in Ausgabe 7-8/2020, Seite 172ff.; 2. Teil in Ausgabe 9/2020, Seite 210ff. – Zitiert wird im Folgenden aus der „Langfassung“ (abgekürzt LF mit Seitenzahl), die abrufbar ist unter www.optimedis.de/iv-als-regelversorgung

[2] Vgl. meine Kritik im observer-gesundheit.de vom 9.9.2020: „Ein kurzer Antrag von Bündnis 90 / Die Grünen zur Regionalisierung“.

[3] Ziffer 213 in https://www.gruene.de/grundsatzprogrammprozess

[4] Vor diesem Hintergrund ist auch die bunte Zusammensetzung der Autorengruppe zu verstehen, der viele Personen angehören, die sich lange mit Grundsatzfragen des Gesundheitssystems auseinandergesetzt haben (genannt seien hier nur die drei ehemaligen Mitglieder des Sachverständigenrats Gesundheit, die Professoren Gerd Glaeske, Doris Schaeffer und Matthias Schrappe). Dass es überhaupt mal einen konzeptionellen Aufschlag gibt, war sicher für sie attraktiv. Ansonsten hätte man bei den Personen gerne gewusst, welche Positionen bzw. Vorbehalte sich hinter der Klausel verstecken, die in Fußnote Nr. 1 angeführt ist: „Der Inhalt dieses Beitrages stellt nicht zwingend und in allen Punkten die Meinung jedes Autors bzw. jeder Autorin dar.“

[5] Siehe auch Abschnitt: Regionen – aber welche und was können sie?

[6] Herbert Rebscher (Hg.): „Update: Solidarische Wettbewerbsordnung“, DAK-Schriftenreihe Band 11, 2015.

[7] Nach Auszählung der Website des Projekts.

[8] Patienten finden es erst einmal nicht so prickelnd, wenn an ihrer Versorgung gespart werden soll.

[9] Sonst könnten doch schon jetzt ganz andere politische Veränderungen/Reformen durchgesetzt werden, und man bräuchte das Regionalkonzept der Grünen dafür gar nicht.

[10] „Verantwortung“ sieht anders aus.

[11] Mindestens der letzten drei Legislaturperioden.


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