22.03.2022
Mentalitätswandel erforderlich
Stärkung der Patienten: Koalitionsvertrag ohne Perspektive
Dr. Robert Paquet
Was der Koalitionsvertrag der Ampel zu den „Rechten der Patientinnen und Patienten“ sagt, bleibt weit hinter dem Stand der Diskussion zurück. Der Schwerpunkt liegt bei institutionellen Veränderungen. Dabei ist die stellvertretende Artikulation und Wahrnehmung von Patienteninteressen bereits weit verbreitet. Ihre positive Wirkung für die Patienten bleibt jedoch begrenzt. Eigentliches Ziel müsste die Stärkung der Patienten im Sinne von mehr Selbstbewusstsein und Gesundheitskompetenz sein, direkt in der Behandlungssituation und im Versorgungsgeschehen. Je mehr das gelingt, umso mehr könnte das um sich greifende Beirats- und Beauftragtenwesen in den Hintergrund treten. In dieser Richtung wird allerdings immer noch zu wenig getan.
I. Koalitionsvertrag
Unter der Überschrift „Rechte von Patientinnen und Patienten“ finden sich im Koalitionsvertrag neun Zeilen (Rd.-Ziffern 2907ff.). Dass die Unabhängige Patientenberatung (UPD) (§ 65b SGB V) „in eine dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur unter Beteiligung der maßgeblichen Patientenorganisationen“ überführt werden soll, ist dabei eigentlich ein Allparteienkonsens. Die Überführung in ein Stiftungsmodell o.ä. war bereits in der vergangenen Wahlperiode angedacht, konnte allerdings wegen des nötigen Vorlaufs einer Stiftungsgründung nicht mehr umgesetzt werden. Dabei wird die UPD gewöhnlich erst in Anspruch genommen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, d.h. Patient und Arzt sich nicht verstehen, die Kommunikation mit den Leistungserbringern (oder den Krankenkassen) gestört ist oder sich ein sonstiger Konflikt anbahnt. Im Sinne einer „präventiven“ Stärkung der Patienten wird die UPD normalerweise nicht genutzt und auch nicht verstanden.
Der zweite Punkt im K-Vertrag betrifft den G-BA: „Mit einer Reform des G-BA beschleunigen wir die Entscheidungen der Selbstverwaltung, stärken die Patientenvertretung und räumen der Pflege und anderen Gesundheitsberufen weitere Mitsprachemöglichkeiten ein, sobald sie betroffen sind.“ Die naheliegende Umsetzung wäre die Stimmberechtigung der Patientenvertreter im G-BA. Bekanntlich sind deren Organisationen jedoch keineswegs geschlossen für diese Veränderung. Sie würde erneut die alten Fragen nach der Legitimation der Patientenvertretung im G-BA und z.B. auch zu Haftungsfragen aufwerfen. Wenn zusätzlich auch die Pflegeberufe Stimmrechte bekommen sollen, wird das erstgenannte Ziel einer Beschleunigung der G-BA-Entscheidungen völlig illusorisch. Abgesehen davon, dass es keine Vorstellungen über die Verteilung der Stimmrechte gibt, müsste für die Beteiligung der „Pflege und (der) anderen Gesundheitsberufe“ erst eine zwangsverbandliche Grundlage geschaffen werden, von der aus überhaupt erst legitimierte Vertreter entsandt werden könnten. Aus diesem Grund gibt es an anderer Stelle des Koalitionsvertrages ein Erkundungsprojekt (Rd.-Ziffer 2757ff.): „Mit einer bundesweiten Befragung aller professionell Pflegenden wollen wir Erkenntnisse darüber erlangen, wie die Selbstverwaltung der Pflege in Zukunft organisiert werden kann. Wir stärken den Deutschen Pflegerat als Stimme der Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss und anderen Gremien und unterstützen ihn finanziell bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben.“ Ziel dieser Recherche ist offenbar, die Legitimation zur Einführung der bundesweiten Verkammerung der Pflegeberufe zu gewinnen. Die Pros und Cons dazu sind bekannt. Das gut gemeinte Vorhaben mit den weiteren Stimmrechten ist folglich kompliziert und lässt sich nicht so ohne weiteres umsetzen.
Überhaupt interessiert sich die Politik im K-Vertrag mehr um die (professionell) Pflegenden als für die Patienten. Dahinter – und hinter der Einordnung unter der Überschrift Patientenrechte – könnte die Vorstellung stehen, dass „die Pflege“ stellvertretend bzw. advokatorisch auch die Interessen der Patienten wahrnimmt. Vielleicht mehr als die Ärzte. Damit würde bei den Koalitionären weiter ein paternalistisches Verständnis von Patientenvertretung dominieren, nur dass jetzt der Pflege zugeschrieben wird, was früher einmal für die Ärzte unterstellt wurde. Dabei lehrt die Geschichte des Gesundheitswesens erstens, dass jede Gruppe vor allem für sich selber sorgt, und zweitens die Heuchelei, dass sie dabei regelmäßig und in erster Linie die Interessen der Patienten zu vertreten vorgibt.
Weiter heißt es: „Bei Behandlungsfehlern stärken wir die Stellung der Patientinnen und Patienten im bestehenden Haftungssystem. Ein Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen wird eingeführt.“ Hier wird an das Patientenrechtegesetz vom 20. Februar 2013 angeknüpft, ohne dass klar wird, welche Verbesserungen vorgesehen sind. Schon bei der damals ausführlich diskutierten (und schließlich unterbliebenen) Einführung eines Härtefallfonds war das Bedenken entscheidend, dass er die individuelle Sorgfalts- und Haftungsverpflichtung der Behandler schwächen könnte. Die geradezu entgegengesetzte Idee einer generellen Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern hätte ebenfalls kontraproduktive Wirkungen: Wie in den USA würde sie die Versicherungsprämien der Ärzte und Krankenhäuser explodieren lassen (und die Bürokratie zu innovativen bzw. riskanten Therapieverfahren vermehren).
Einen etwas anderen Charakter hat allerdings die Ankündigung, das im Rahmen des Innovationsfonds geförderte Konzept der „Patientenlotsen“ in die „Regelversorgung“ zu überführen. Dabei sind die Vorstellungen, wie man das Modell – übrigens auch in Konkurrenz zum Hausarzt als „Lotse“ – überhaupt skalieren will, recht unklar. Woher will man so viele und entsprechend qualifizierte Menschen für diese Aufgabe finden, wenn sie zum Regel-Anspruch in der GKV werden soll? Trotzdem ist das Vorhaben positiv zu bewerten, weil es über institutionelle Arrangements hinausweist und die einzelnen Patienten in ihrer konkreten Behandlungssituation unterstützen kann.
Vor diesem Hintergrund soll im Sinne einer Bestandsaufnahme ein Überblick gegeben werden, welche – vorwiegend auf der institutionellen Ebene verorteten – Einrichtungen bzw. Regelungen es zur Vertretung der Patienteninteressen bereits gibt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben.
II. Bestandsaufnahme bestehender Regelungen
1. Selbsthilfe
Nach § 20h SGB V fördern die Krankenkassen die Selbsthilfe. Dabei sollen nach Abs. 1 auch die Selbsthilfekontaktstellen gefördert werden. Nach Abs. 2 werden die „maßgeblichen Spitzenorganisationen“ der Selbsthilfe an der Bestimmung der Grundsätze für die Verteilung der Fördermittel beteiligt. In Abs. 3 werden Mindestaufwendungen der Kassen für die kassenspezifische und kassenartenübergreifende Förderung festgelegt. Analoge Regelungen zur Förderung der Selbsthilfe gelten in der Pflegeversicherung (§§ 45c und 45d SGB XI).
Dazu ist festzustellen, dass die Selbsthilfe die Patienten direkt unterstützt und ihnen einen unmittelbaren Nutzen bringen kann.
2. G-BA und andere Gremien
Nach § 140f SGB V werden Patientenvertreter in vielfältiger Weise an den Entscheidungsprozessen der GKV beteiligt. Von zentraler Bedeutung ist seit 2004 die Beteiligung der Vertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nach Abs. 2. Durch die Gesetzgebung wurde diese Beteiligung bis heute immer weiter ausgebaut, z.B. durch diverse Antragsrechte und das Recht zur Anwesenheit bei der Beschlussfassung.
Auch auf Landesebene sind die Patientenorganisationen zu beteiligten. Nach Abs. 3 gilt das für die folgenden Gremien:
- die Landesausschüsse nach § 90 sowie die erweiterten Landesausschüsse nach § 116b Abs. 3,
- die gemeinsamen Landesgremien nach § 90a,
- die Zulassungsausschüsse nach § 96 und die Berufungsausschüsse nach § 97 zu einer Reihe von zentralen Themen.
In der Rechtsverordnung nach § 140g bestimmt das Bundesministerium für Gesundheit (mit Zustimmung des Bundesrates) das Nähere zur Anerkennung der maßgeblichen Organisationen auf Bundesebene. Sie wirken nach dieser Verordnung auch „beratend“ bei „Rahmenempfehlungen, Empfehlungen und Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen“ mit (§ 140f Abs. 4). Das betrifft etwa das Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 und die Bestimmung der Festbetragsgruppen und Festbeträge nach § 36 (Hilfsmittel). Patientenrechte werden hier stellvertretend und institutionell vertreten.
3. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung
Die gegenwärtig machtvollste Instanz der Patientenvertretung ist der Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Nach § 140h SGB V bestellt die Bundesregierung „eine Beauftragte oder einen Beauftragten für die Belange der Patientinnen und Patienten. Der beauftragten Person ist die für die Erfüllung ihrer Aufgabe notwendige Personal- und Sachausstattung zur Verfügung zu stellen. Das Amt endet, außer im Falle der Entlassung, mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestages.“
Die Hauptaufgabe ist politisch. So „beteiligen die Bundesministerien die beauftragte Person bei allen Gesetzes-, Verordnungs- und sonstigen wichtigen Vorhaben, soweit sie Fragen der Rechte und des Schutzes von Patientinnen und Patienten behandeln oder berühren.“
Für die einzelnen Patienten relevant ist die folgende im Gesetz genannte Aufgabe (Abs. 3 Satz 3): „Die beauftragte Person soll die Rechte der Patientinnen und Patienten umfassend, in allgemein verständlicher Sprache und in geeigneter Form zusammenstellen und zur Information der Bevölkerung bereithalten.“ Dieser Auftrag wird bislang eher defizitär erfüllt. Es gibt nur eine Reihe von Info-Faltblättern zu Einzelfragen. Die Aufgabe ist aber vielleicht auch zu umfassend formuliert und im Grunde überhaupt nicht erfüllbar.
Die Wirksamkeit des Patientenbeauftragten hängt sehr vom politischen Gewicht der beauftragten Person ab. Beispielsweise Wolfgang Zöller, Patientenbeauftragter in der 17. Wahlperiode des Bundestages, hatte sich in seiner Amtszeit sehr engagiert für das Patientenrechtegesetz eingesetzt. Karl-Josef Laumann (18. Wahlperiode) hat dieses Thema aufgegriffen und bis zur Verabschiedung des Gesetzes weitergetrieben. Auch im Übrigen haben sich beide immer wieder mit großer öffentlicher Wirkung für Patienteninteressen eingesetzt. Im Kontrast dazu könnte man kaum eine Initiative der Patientenbeauftragten der 19. Wahlperiode, Claudia Schmidtke, benennen.
4. Ombudsmann der privaten Kranken- und Pflegeversicherung
Ein Blick auf den PKV-Ombudsmann lässt die Rolle des Patientenbeauftragten noch klarer hervortreten. Im Gegensatz zu diesem wirkt der PKV-Ombudsmann nicht öffentlich. Die Stelle wurde vom PKV-Verband freiwillig eingerichtet.
Der Ombudsmann ist außergerichtlicher Streitschlichter für die private Kranken- und Pflegeversicherung. Er nimmt zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Versicherten und ihren Versicherungsunternehmen neutral und unabhängig Stellung. Bei der PKV richten sich die „Patienteninteressen“ aus der Rolle des Versicherungsnehmers vor allem gegen die Versicherungen. Im Rahmen des Kostenerstattungssystems hat die Versicherung – im Gegensatz zur GKV – kein Vertragsverhältnis zu den Leistungserbringern. Das PKV-System ist daher nur wenig geeignet, Patienteninteressen in dieser Richtung zu organisieren.
5. Pflegestützpunkte
Die Einrichtung der Pflegestützpunkte stellt eine weitere Institutionalisierung der Berücksichtigung von Patienteninteressen (jenseits der Kranken- und Pflegekassen) dar. Die Stützpunkte wurden durch das Pflegeweiterentwicklungs-Gesetz (PfWG) (BT-Drs. 16/7439 vom 7.12.2007) eingeführt. Ursprünglich wurden sie in § 92c SGB XI verankert; mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz II (PSG II) sachgerecht in den neuen § 7c SGB XI umsortiert. Im Unterschied zu der individuellen Pflegeberatung nach § 7a SGB XI (Case Management) sollen sich die Pflegestützpunkte – nach dem theoretischen Konzept – um die Infrastruktur kümmern. Dabei geht es um Care-Management auf der Systemebene, wobei die Kommunen und Länder, die für die Stützpunkte federführend sind, letztlich das Sagen haben. Auch in diesem Zusammenhang werden Patienteninteressen institutionell verstanden. Das gilt auch für die immer wieder angemahnte Mitwirkung der Kommunen bei der Pflegeinfrastruktur.
6. Patienteninteressen in den Medizinischen Diensten
Mit dem MDK-Reformgesetz vom 14.12.2019 wurde aus den Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 278 SGB V). Bis dahin gab es – kurzzeitig – bei den MDKs die Vertretung von Patienteninteressen in einem „Beirat“, „der den Verwaltungsrat bei seinen Entscheidungen berät und durch Vorschläge und Stellungnahmen unterstützt. Er ist vor allen Entscheidungen des Verwaltungsrates zu hören.“ (§ 279 Abs. 4a SGB V (alt)). Diese Beiräte wurden 2015 mit dem Versorgungsstärkungsgesetz errichtet.
Die bis zu acht Vertreter im Beirat wurden von den Sozial- bzw. Gesundheitsministerien der Länder bestimmt, „und zwar zur einen Hälfte auf Vorschlag der für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen sowie der pflegenden Angehörigen maßgeblichen Organisationen auf Landesebene und zur anderen Hälfte auf Vorschlag der maßgeblichen Verbände der Pflegeberufe auf Landesebene.“ (ebenda).
Mit der Einrichtung der „neuen“ Medizinischen Dienste (MD) wurde die Patientenvertretung in die Verwaltungsräte der Institutionen integriert. Sieben Vertreter (von 23) werden jetzt „von der für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörde des Landes benannt, davon 1. fünf Vertreter auf Vorschlag der Verbände und Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der Patienten, der pflegebedürftigen und behinderten Menschen und der pflegenden Angehörigen sowie der im Bereich der Kranken- und Pflegeversorgung tätigen Verbraucherschutzorganisationen jeweils auf Landesebene sowie 2. zwei Vertreter jeweils zur Hälfte auf Vorschlag der Landespflegekammern oder der maßgeblichen Verbände der Pflegeberufe auf Landesebene und der Landesärztekammern.“ (§ 279 Abs. 5 SGB V).
7. Betroffenenorganisationen in der Pflegeversicherung (u.a. im „Qualitätsausschuss“ nach § 113b SGB XI)
Durch die Pflegestärkungsgesetze (PSG) wurde auch in der Pflegeversicherung eine Betroffenenbeteiligung eingeführt bzw. verstärkt (§ 113b i.V. mit § 118 SGB XI). Bei allen Fragen der Qualitätssicherung, -entwicklung und -darstellung sind nicht nur Vertreter der Verbände der Pflegeberufe heranzuziehen, sondern vor allem die „auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe pflegebedürftiger und behinderter Menschen“. Sie wirken bei den Sitzungen und der Beschlussfassung mit. Das gilt vor allem für den „Qualitätsausschuss“ nach § 113b, der insbesondere das Qualitätsbewertungssystem für stationäre Pflegeanbieter entwickeln soll. Mit dem PSG III wurden die Rechte der Betroffenenorganisationen und der Selbsthilfe im „Qualitätsausschuss“ erweitert: Sie erhielten ein Antragsrecht, das über die bis dahin vorgesehene „Mitberatung“ hinausgeht.
In § 118 werden die Rechte der Betroffenenvertreter detailliert dargestellt. Nach Abs. 2 wird das BMG ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Voraussetzungen der Anerkennung der Betroffenen-Organisationen festzulegen. In der Pflegebedürftigenbeteiligungsverordnung (PfleBeteiligungsV) werden die Kriterien zur Anerkennung der Organisationen analog zur Patientenbeteiligungs-Verordnung nach § 140g SGB V beschrieben.
8. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
Der Gemeinsame Bundesausschuss hat nach § 139a SGB V das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gegründet. Einerseits soll es im Interesse der Patienten „für alle Bürgerinnen und Bürger verständliche allgemeine Informationen zur Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung sowie zu Diagnostik und Therapie von Krankheiten mit erheblicher epidemiologischer Bedeutung“ bereitstellen (Abs. 3, Ziffer 7.). Andererseits soll es „in allen wichtigen Abschnitten des Bewertungsverfahrens“ nicht nur den Sachverständigen der Wissenschaft und Praxis, sondern auch „den für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch Kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen sowie der oder dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten Gelegenheit zur Stellungnahme … geben.“ (Abs. 5).
9. Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen
Außerdem hat der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 137a SGB V das „fachlich unabhängige, wissenschaftliche Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen“ gegründet. Im Bereich der Qualitätssicherung hat es ähnlich wie beim IQWiG eine Aufgabe, die sich direkt an die Patienten wendet. So soll es nach Abs. 3, Ziffer 7. „Kriterien zur Bewertung von Zertifikaten und Qualitätssiegeln, die in der ambulanten und stationären Versorgung verbreitet sind, … entwickeln und anhand dieser Kriterien über die Aussagekraft dieser Zertifikate und Qualitätssiegel in einer für die Allgemeinheit verständlichen Form … informieren“. Andererseits können auch die „für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen auf Bundesebene“ Aufträge an das Institut zu Fragen der Qualitätssicherung und Transparenz veranlassen (Abs. 4 Satz 1). Schließlich sind diese Organisationen sowie „der oder die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten“ an den Kernaufgaben des Instituts zu beteiligen.
10. Selbstverwaltung der Krankenkassen
Leider tritt hier die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen kaum in Erscheinung. Die Versichertenvertreter sind zwar von ihrem Anspruch her auch Vertreter der Patienteninteressen, nicht nur der Interessen der Versicherten als Beitragszahler. Sicher wird hier vieles im Verborgenen getan. Das betrifft z.B. die Arbeit der Widerspruchsausschüsse. Aber öffentlich sichtbar sind die Versichertenvertreter in ihrer Rolle als Patientenvertreter kaum. Jedenfalls bleiben sie in der öffentlichen (und medialen) Wahrnehmung z.B. weit hinter dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung, den im G-BA beteiligten Patientenorganisationen oder gar der Deutschen Stiftung Patientenschutz mit ihrem überaus agilen Vorstand Eugen Brysch zurück.
Zur Stärkung der Patienten leisten die Krankenkassen allerdings mit ihren vielen Informationsangeboten einen wichtigen Beitrag. Sie stärken damit die Gesundheitskompetenz der Patienten. Das reicht von der Weissen Liste über spezifische Informationsprogramme bis hin zur Stiftung Gesundheitswissen der Privaten Krankenversicherung. Leider werden solche Angebote überwiegend von einer Informationselite genutzt und erreichen breitere Bevölkerungskreise schlecht.
11. Weitere Angebote
Zur Stärkung der Patienteninteressen gibt es darüber hinaus eine ganze Reihe von Einzelinitiativen, z.B. das Projekt PASTA, bei dem der Innovationsfonds die Entwicklung allgemeinverständlicher Patientenbriefe nach einem Klinikaufenthalt als Bestandteil des Entlassmanagements fördert[1]. Oder das vom BMG geförderte Projekt „Was hab‘ ich?“, bei dem Medizinstudenten kostenlos Befunde in eine für Patienten leicht verständliche Sprache übersetzen[2]. Das sind alles wertvolle Mosaiksteine. Sie geben aber noch kein kohärentes Bild.
Auch die gesundheitsbezogenen Informationsangebote der Stiftungen (z.B. der Bertelsmann Stiftung oder der Robert Bosch Stiftung) tragen sicher zur Verbesserung der Position der Patienten bei. Hinzu kommen Arztbewertungsportale als sinnvolle Informationsquelle[3]. Auf die Risiken und Chancen der Internet Angebote hat allerdings vor kurzem noch einmal die Bertelsmann Stiftung hingewiesen. Die digitale Gesundheitsversorgung könnte durch die Tech-Giganten eine Monopolisierung erfahren. Gerechtigkeit und Solidarität könnten durch die potenzielle Unterwanderung staatlicher Strukturen oder den Aufbau paralleler Strukturen eingeschränkt werden. Damit würde potentiell das emanzipatorische Potenzial solcher Angebote zur Stärkung der Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten konterkariert[4].
Ebenso die Patientenfürsprecher, die in vielen Landeskrankenhausgesetzen verankert sind, tragen zur Stärkung der Patienten bei. Sie sollen Anliegen der Patienten in unbürokratischer Art und Weise vor Ort klären und helfen, unmittelbare Problemsituationen aufzulösen. Auch die Initiativen, die Gesprächsfähigkeit der Ärzte in der Mediziner-Ausbildung stärker zu fördern, werden langfristig zur Stärkung der Patienteninteressen beitragen. Wobei hier eher das Problem in der ärztlichen Gebührenordnung bzw. der Budgetierung liegt, die Anreize zur Fünf-Minuten-Medizin setzt. Auch die (relativ) neue Verpflichtung des G-BA patient-reported-outcomes (PROs) für die Darstellung der Versorgungsqualität zu berücksichtigen, ist ein Fortschritt in der Patientenbeteiligung (§ 137a Abs. 3 Nr. 1.). Auch das Mitberatungs- und Antragsrecht der Patientenorganisationen im Innovationsausschuss gehört dazu (§ 92b Abs. 1 Satz 3).
III. Schlussfolgerungen und Fazit
In der Politik und in ihrem gesetzlichen Output kommt die Vertretung von Patienten-Interessen vor allem politisch und stellvertretend vor. Nötig ist aber ein Perspektivwechsel. Die politisch beabsichtigte „Stärkung der Patienten“ sollte auf die Stärkung der Patienten ausgerichtet werden und weniger auf die Stärkung der Funktionäre. Die Frage ist: Was hilft dem einzelnen Patienten in seiner konkreten Situation gegenüber dem Arzt oder im Krankenhaus? Auch das um sich greifende Beiräte- und Beauftragtenwesen signalisiert, dass es eben gerade im Normalbetrieb bzw. Versorgungsalltag keine Augenhöhe gibt. Wie kann man hier etwas verbessern?
Damit soll die konstruktive Mitarbeit der Patientenorganisationen, etwa im G-BA, nicht geringgeschätzt werden. Bezeichnend ist jedoch, dass die Patientenvertretung dort vor allem mit den Grenzen der medizinisch-wissenschaftlichen Innovation zu tun hat (NUB-Ausschuss, AMNOG, neue Medizinprodukte etc.). Die Aktivitäten des G-BA zur Qualitätssicherung (z.B. Mindestmengen, Personaluntergrenzen etc.) werden dagegen im Versorgungsalltag kaum sichtbar[5]. Eine neue Phase bei der Unterstützung der Patienten könnte jedoch mit der durch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) eingefügten neuen Aufgabe des G-BA nach § 136a Abs. 6 eingeleitet werden. Dort heißt es: „Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in einer Richtlinie erstmals bis zum 31. Dezember 2022 einheitliche Anforderungen für die Information der Öffentlichkeit zum Zweck der Erhöhung der Transparenz und der Qualität der Versorgung durch einrichtungsbezogene risikoadjustierte Vergleiche der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und zugelassenen Krankenhäuser auf der Basis der einrichtungsbezogenen Auswertungen nach Maßgabe des § 299 (Qualitätsdaten) fest. … Die Veröffentlichung der Vergleichsdaten hat einrichtungsbezogen und mindestens jährlich auf Basis aktueller Qualitätsdaten zu erfolgen.“ Diese Vorschrift geht weit über die bisherige Veröffentlichung der Qualitätsberichte der Krankenhäuser hinaus und umfasst auch den gesamten ambulanten Sektor.
Dennoch ist hier zu befürchten, dass auch diese neuen Informationen wieder „Elitenstoff“ bleiben. Es wäre daher eine Aufgabe der Politik, sich um die Verbreitung und Popularisierung dieses neuen Wissens zu kümmern. Leider fehlt jedoch das Thema „Gesundheitskompetenz“ im K-Vertrag völlig. Doch gerade eine verbesserte digitale Kompetenz wäre entscheidend, solche Informationsangebote überhaupt zu nutzen[6].
Sicher hat das Konzept der Patientensouveränität seine Grenzen. Viele Kranke sind durch ihre Krankheit in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Daher ist die Interessenvertretung für Patienten oft nur stellvertretend möglich. Zum Beispiel bei Kindern, schweren psychischen Störungen, nicht handlungsfähigen Patienten (Koma/Beatmung/Unfall/Notfall etc.). In diesen Fällen müssen Eltern oder Angehörige und ggf. auch staatliche Betreuer diese Aufgabe übernehmen.
Vor allem für chronisch Kranke ist das anders. Für sie ist eine kollektive Interessenwahrnehmung nützlich und erfolgversprechend. Sie können Gemeinsamkeiten und Erfahrungen nutzen und sich zu einer Interessenvertretung zusammenschließen (Selbsthilfegruppen und Interessenverbände).
Trotzdem bleiben die Patienten heterogen. Und jeder Kranken ist (mit „seiner“ Krankheit) anders. Gleichzeitig stehen die Patienten dem Versorgungssystem meist alleine gegenüber. Umso wichtiger sind alle Ansätze, die dazu beitragen, die Augenhöhe der Patienten im medizinische Alltag zu verbessern. Für den „Normalfall“ in der Arztpraxis muss die Berücksichtigung der Patienteninteressen in den rechtlichen und ökonomisch-organisatorischen Bedingungen besser verankert werden. Das institutionelle Gefüge muss sozusagen zur Selbstermächtigung und zum Empowerment der Patienten beitragen und sie in ihren Interessen und ihrer Artikulation unterstützen.
Sicher ist das keine leichte Aufgabe. Aber die Chancen für den angesprochenen Perspektivwechsel waren nie so gut wie heute. Das sollte auch die Politik erkennen und sich Stück für Stück vom traditionellen Paternalismus lösen. Es gibt positive Ansätze wie die Patientenlotsen, die Einrichtung von niedrigschwelligen Gesundheitskiosken etc. Doch solche Initiativen werden sich nicht flächendeckend umsetzen lassen. Denn medizinische Kompetenz wird ein knappes Gut bleiben, was durch den demographischen Wandel bzw. den Fachkräftemangel noch verschärft wird.
Umso wichtiger werden die technischen Möglichkeiten, die uns allen künftig zur Verfügung stehen. Eine zentrale Rolle wird dabei die elektronische Patientenakte (ePA) spielen, die ein digitales Archiv der eigenen Kranken- und Behandlungsgeschichte werden kann. Der beste Beitrag des Koalitionsvertrages zur Stärkung der Patienten ist daher die Opt-out-Regelung für die ePA. Die wachsende Patientensouveränität auf Basis erhöhter Transparenz werde zum Treiber der Digitalisierung, schreibt Jörg F. Debatin[7], der bisherige Chef des Spahn‘schen Health Innovation Hub. Das umgekehrte gilt aber auch. Die Digitalisierung ist die Chance für den mündigen Patienten. Der sei zwar ein „relativ neues Phänomen – das sich allerdings rasch weiterentwickelt“, so Debatin. Und noch etwas erklärt der erfahrene Radiologe: „Angst und Sorge vor Krankheit und Tod haben das Thema Gesundheit über Jahrhunderte mystifiziert. Patienten begaben sich in Behandlung, oftmals im blinden Vertrauen auf ihre Ärzte. Durch den Einsatz einer eigenen Sprache trugen die Mediziner zur Mystifizierung der Heilkunst bei. Die Patienten haben Transparenz nicht gefordert und die Ärzte haben sie nicht gewollt.“ (S. 21). Diese Zeiten sollten bald vorbei sein. Die Politik muss aber dafür mehr tun, als die herkömmlichen Stellvertretermodelle auszubauen.
[1] Falk Osterloh: „Innovationsfonds: Neues für die Regelversorgung“, in Ärzteblatt.de vom 18.03.2022. https://www.aerzteblatt.de/treffer?mode=s&wo=1041&typ=16&aid=223895&s=Innovationsfonds.
[3] IGES: „Transparenz in der vertragsärztlichen Versorgung – Grundlagen für eine informierte Arztwahl durch Verbraucherinnen und Verbraucher“, Studie im Auftrag des BMJV, 2021. Transparenz in der vertragsärztlichen Versorgung (iges.com)
[4] Bertelsmann Stiftung (Hg.): „Tech-Giganten im Gesundheitswesen – Chancen für bessere Versorgung nutzen – solidarisches Gesundheitssystem erhalten“, als SPOTLIGHT GESUNDHEIT Nr. 2, 2022, Gütersloh im März 2022. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/spotlight-gesundheit-tech-giganten-im-gesundheitswesen-all.
[5] In einer Pressemitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe vom 8.2.2022 wird erklärt, dass derzeit 300 VertreterInnen und 9 SprecherInnen der Patientenvertretung im G-BA tätig sind. https://www.bag-selbsthilfe.de/aktuelles/nachrichten/detail/news/bag-selbsthilfe-fordert-die-organisatorische-staerkung-der-patientenvertretung.
[6] Vgl. den jüngsten Appell der Autorinnen und Autoren des „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ vom 25.02.2022, in dem Gesundheitskompetenz als „sozialer Impfstoff“ bezeichnet wird. https://www.nap-gesundheitskompetenz.de/2022/02/25/ein-pl%C3%A4doyer-f%C3%BCr-mehr-gesundheitskompetenz/
[7] Jörg F. Debatin: „Gesundheit geht online“, in AOK-Bundesverband: „Gesundheit und Gesellschaft“ 2/2022, Seite 19 – 23.
Alle politischen Analysen ansehen