1, 2, 3,…, ganz viele Gesundheitskioske

Karl Lauterbach startet ein ambitioniertes Projekt mit Eckpunkten

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.

Nun also doch: Kurz vor dem Ende des Ferienmonats August stellt der Bundesminister sein angekündigtes Sommerprojekt vor: die Eckpunkte für eine flächendeckende Einführung von Gesundheitskiosken. Dazu wählt er publizistisch die Bühne des Hamburger Modellprojektes. Also: Mission accomplished?

Neun Monate nach Abschluss des Koalitionsvertrages sind die Eckpunkte der erste (kleine) Baustein einer langen Aufgabenliste, der jetzt vorläufig konkretisiert wird. Eine solche Bilanz ist im Vergleich zu seinen Vorgängern kein Ruhmesblatt. Und Eckpunkte sind bekanntlich noch keine Gesetzesformulierung. Der Minister äußerte sich auch nicht, inwieweit die Überlegungen politisch oder interministeriell abgestimmt sind oder sie nur mal so eine Idee sind, die keinen politischen Bestand haben werden.

 

International bewährter Ansatzpunkt

Ja, es ist richtig: Wir haben ein Problem in der gesundheitlichen Versorgung von sozial benachteiligten Regionen. Hier imponiert nicht nur eine Ballung individueller, sozialer und gesellschaftlicher Risiken mit ihren Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Bevölkerung, sondern auch die zu oft nur unterdurchschnittliche bis zum Teil gar nicht mehr vorhandene medizinisch-pflegerische Versorgung. Die apoBank würde vor einer Niederlassung dort warnen. Der Effekt dieser Spirale ist, da hat K. Lauterbach Recht, dass gesundheitliche Probleme oft zu spät angegangen werden und ursächlich gar nicht medizinisch behandelbar sind. Insofern sind niedrigschwellige Angebote in der Grauzone zwischen medizinischer Behandlung, Gesundheitsförderung, sozialen Diensten und individueller Situation ein international inzwischen bewährter Ansatzpunkt zur Verbesserung der gesunheitlichen und sozialen Lage in solchen Regionen. Und dass der Minister in seiner Vorstellung diese Einrichtungen bei fehlender ärztlicher Versorgung als primären Zugang zum gesundheitlichen Hilfesystem bezeichnet, ist eine beachtliche Aussage über das künftige Rollenspiel zwischen Ärztlichkeit und Gesundheitsfachberufen. Ein medizinisches Assessment und erste Diagnostik durch zusätzlich qualifizierte Gesundheitsfachkräfte – das ist eine neue Dimension in der alten Debatte über Delegation und Substitution.

 

Richtige Positionen, aber auch viele Unklarheiten

Auf der Habenseite lassen sich aus den Eckpunkten zahlreiche richtige Positionen herauslesen:

  • Es sollen gezielt in sozial benachteiligten Gebieten Kioske flächendeckend aufgebaut werden.
  • Es ist nicht nur ein Angebot für städtische Regionen, sondern auch für den ländlichen Raum.
  • Sie sind durch Fachpersonal insbesondere aus der Pflege mit Zusatzqualifikationen zu leiten.
  • Ohne eine Vernetzung mit der lokalen Ärzteschaft, dem ÖGD, den sonstigen kommunalen Diensten und den weiteren (gesundheitsfördernden) Strukturen vor Ort machen solche Gesundheitskioske keinen Sinn.
  • Die Kommunen kennen sich vor Ort besser aus als die Krankenkassen und haben insofern ein Initiativrecht, wenn sie sich finanziell beteiligen.
  • Die Krankenkassen sollen ihre Erfahrungen aus der Umsetzung der Gesundheitsförderung nutzen und einheitlich und gemeinsam handeln.

Soweit so gut, aber vieles ist noch unklar:

  • Wie definiert man eine sozial benachteiligte Region?
  • Welche Größe und Struktur sollen die Gesundheitskioske haben?
  • Sollen diese von den jeweiligen Kommunen nach Bedarf bestimmt werden, oder wird das bewährte Instrument von Rahmenverträgen, wie bei der SAPV, genutzt?
  • Wie kann die notwendige Kooperation verbindlich festgeschrieben und im Alltag auch sichergestellt werden?
  • Hat die PKV eine Blockademöglichkeit, wenn sie generell ihren Finanzierungsanteil verweigert?
  • Wie und wo erfolgt die rechtliche Einordnung ins SGB V, wie werden die rechtlichen Schnittstellen zu den anderen involvierten Rechtskreisen überwunden?
  • Wie verhindert man den Vorwurf der Mischverwaltung?

Es fehlt also noch an entscheidenden Details, um das Gesamtkonstrukt zu beurteilen.

Erstaunlich ist die bisherige Zurückhaltung der üblichen Verdächtigen. Nur die PKV lehnte blitzschnell jegliche Ko-Finanzierung ab und sieht die Gesundheitskioske als alleinige kommunale Aufgabe an. Immerhin hat der Verband auf die Bemerkung verzichtet, dass in diesen Gebieten keine Privatversicherten wohnen.

Als einziger bedeutender Player äußerte sich die AOK-Bundesverband. Er begrüßt das Angebot, um dann erwartungsgemäß den vorgesehenen kommunalen Finanzierungsanteil als zu gering zu bezeichnen. Ansonsten herrscht vornehme Zurückhaltung. Das mag darin begründet sein, dass man ja eigentlich nicht so richtig dagegen sein kann und viele noch Klärungsbedarf sehen. Einen Zeitplan zur weiteren Realisierung gibt es offiziell noch nicht.

 

Stufenplan wäre besser

Unverständlich ist jedoch, warum der Bundesminister direkt mit der Zielzahl von 1.000 Kiosken in die Debatte eingestiegen ist. Bei Hochrechnung der Kosten des Hamburger Gesundheitskiosks lässt sich ein Gesamtkostenvolumen knapp unter 1 Milliarde € ableiten, was bei der finanziellen Situation der Krankenkassen nicht nur Peanuts sind. Hier hätte ein Stufenplan mit einer ersten Stufe von circa 200 Kiosken, deren Etablierung für diese Legislaturperiode schon eine Überraschung wäre, mehr Verständnis, weniger Widerstände und mehr Realitätssinn ergeben. Aber vielleicht spielt der Bundesminister das bekannte Gipfelentwurfs-Spiel: erst einmal das Unmögliche verlangen, um das Mögliche zu erhalten. Ob das zurzeit klug ist, ist Ansichtssache.

Ebenso bleibt völlig im Dunkeln, wie die Finanzaufteilung von 20 Prozent (Kommune) zu 74,5 Prozent (GKV) zu 5,5 Prozent (PKV) begründet wird. Sollte es dafür eine handfeste Erklärung geben, wäre diese argumentativ hilfreich gewesen. So sehen diese Zahlen reichlich gewürfelt aus. 

Fazit: Die BMG-Eckpunkte für Gesundheitskioske sind ein positiver Trippelschritt in der Umsetzung des Koalitionsvertrages. Allerdings glänzte der Minister bisher mehr mit Ankündigungen als mit Gesetzen. Es wäre sehr zu wünschen, dass es diesmal besser klappt.

 

Lesen Sie auch:

Dr. Matthias Gruhl: Gesundheitskioske – eine Einordung zur geplanten Einführung, Observer Gesundheit, 4. Juni 2022


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