Finanzierbare Konzepte sind notwendig – aber bitte keinen Torso!

Zur gesundheitspolitischen Halbzeitbilanz der Ampelkoalition

Dr. Christopher Hermann

In der Gesundheits- und Pflegepolitik hatte sich die Ampelkoalition 2021 quantitativ eine Menge vorgenommen. Der Aufgabe, gleichzeitig die GKV-Finanzen zukunftsfest aufzustellen und damit dem eigenen versorgungspolitischen Reformeifer eine solide Basis zu verschaffen, hat sie sich nur ungenügend gestellt. Die fehlende robuste GKV-Finanzperspektive erweist sich mittlerweile aber als veritabler Bremsklotz für jeden postulierten Veränderungseifer – nicht zuletzt und gerade auch bei der angestrebten Krankenhausreform.

 

1. Bauchladen als Aufgalopp

Das gesundheits- und pflegepolitische Fundament der sich selbst als „Fortschrittsbündnis“ verstehenden Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag (KOV) von Ende 2021 (Motto: „Mehr Fortschritt wagen“; KOV 2021) kann quantitativ jeden Vergleich mit Vorgängervereinbarungen spielend aufnehmen. Kam die erste (von Unionsparteien und FDP gestellte) Koalitionsregierung der Berliner Republik 1991 nach Wiederherstellung der deutschen Einheit noch mit einigen kurzen Absätzen und einem guten Dutzend vielfach auf Rahmenvorgaben gefilterten Ankündigungen zur Gesundheits- und Pflegepolitik in der neuen Legislaturperiode aus (KOV 1991: 38-41) – und dies trotz der historischen Dimension des Zusammenwachsens zweier seit 40 Jahren weithin antagonistisch aufgestellter hochdifferenzierter Versorgungssysteme (vgl. etwa Frerich/Frey 1993: 533 ff; Knieps/Reiners 2015: 90 ff) –, füllt die Ampelkoalition in ihrem KOV 40 Absätze mit Vorhaben im vervielfachten Dutzendpack (KOV 2021: 81-88). Geboten wird ein knallbunter Blumenstrauß, der nicht weniger als 120 Einzelabsichten enthält (Hermann 2022b: Kap 2).

Den Ankündigungen kommt – wenig verwunderlich – materiell wie systemisch eine höchst unterschiedliche Wertigkeit und Relevanz zu. Zum einen geht es etwa um Regelungen zur neuen Leistungsabgrenzung der Bergrettung, zum anderen um Großprojekte wie eine deutschlandweite Neuaufstellung der Notfallversorgung im Gestrüpp institutioneller Zuständigkeiten von vertragsärztlichem Notdienst durch Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenhausambulanzen und landesrechtlich unterschiedlich organisiertem Rettungsdienst (KOV 2021: 85). An einem solchen Projekt war erst die unmittelbare Vorgängerregierung, die (vorerst) letzte große Koalition (2018-2021) bei ebenfalls im KOV verankerter Reformankündigung (KOV 2018: 99) letztlich kläglich gescheitert (näher Hermann 2021: 39).

Der Ampel-KOV verzichtet inhaltlich auf eine erkennbare und nachvollziehbar strukturierende Priorisierung der eigenen Vorhaben. Ein, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, fatales Versäumnis. An keiner Stelle lässt der KOV einen originären Fokus im Gesundheits- und Pflegebereich für die 20. Legislaturperiode erkennen. Wo werden die Schwerpunkte der Gesundheits- und Pflegepolitik verortet? Gibt es eine Agenda? Welchen wiederholt sachverständig analysierten strukturellen versorgungspolitischen Herausforderungen einer „Gesellschaft des langen Lebens“ (zuletzt etwa SVR 2018: Ziffer 1298 ff) wollen die Koalitionäre ihr Hauptaugenmerk widmen, und lassen sie ein eigenes ordnungspolitisches Narrativ jenseits des exekutiven Dirigismus der letzten Jahre erkennen?

 

2. Zwischen Akutbedarf und Aktionismus

Allenfalls einige Projekte mit ausdrücklich zeitlich fixiertem Umsetzungshorizont deuten auf eine gemeinsame Priorisierung der Koalitionspartner bei ihren Verhandlungen Ende 2021 hin. Bei diesen Vorhaben scheint einvernehmlich ein akuter oder alsbald gegebener Handlungsbedarf gesehen worden zu sein. Freilich gilt dies bei großzügiger Interpretation für lediglich sieben der 120 aufgeführten Einzelvorhaben, fünf aus dem Gesundheits-, zwei aus dem Pflegebereich mit jeweils heterogenen Zielsetzungen (vgl. Hermann 2022a: 24 Tab 1).

Für die erste Einordnung der gesundheits- und pflegepolitischen (Zwischen-)Bilanz der Ampelkoalition kurz nach Halbzeit der Wahlperiode gibt der Umgang mit diesen Festlegungen gleichwohl nützliche Hinweise. Danach kann von diesen sieben Vorhaben vornehmlich das Projekt, „kurzfristig“ die Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) als „verbindliche Personalbemessung im Krankenhaus“ einzuführen (KOV 2021: 82), als gesetzgeberisch erfolgreich implementiert betrachtet werden. Seit dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz (KHPflEG), das ein ganzes Jahr nach dem KOV Ende 2022 parlamentarisch verabschiedet wurde und im Wesentlichen unmittelbar danach in Kraft trat (Art 9 KHPflEG; Bt-Drs 20/4708), haben Krankenhäuser insbesondere „die Anzahl der eingesetzten Pflegekräfte schrittweise an die Anzahl der einzusetzenden Pflegekräfte anzupassen“ (Schmedders et al 2023: 227; näher Simon 2023).

Zudem wurde mit dem Gesetz im parlamentarischen Verfahren über Änderungsanträge in den Augen der Koalitionäre das Vorhaben – zumindest überwiegend – eingelöst, „kurzfristig“ für eine „bedarfsgerechte auskömmliche Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe“ zu „sorgen“ (KOV 2021: 87). Es erfolgt in den Jahren 2023 und 2024 für die Pädiatrie eine Aufstockung des Erlösvolumens der Krankenhäuser um insgesamt jeweils 300 Millionen Euro (§ 4a KHEntgG idF von Art 2 Nr 1a KHPflEG) und für die Standorte der Geburtshilfe eine Zusatzförderung in Höhe von insgesamt jeweils 120 Millionen Euro (§ 5 IIb KHEntgG idF des Art 2 Nr 1b KHPflEG), während die im KOV im Weiteren finanzwirksam adressierte Notfallversorgung unbearbeitet blieb.

Formal aufgegriffen wurde überdies durch einen weiteren Änderungsantrag die Absicht des KOV, „zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG“ umzusetzen (KOV 2021: 85). Das KHPflEG führte hierzu erstmals eine originäre Norm für eine „spezielle sektorengleiche Vergütung“ nach § 115f SGB V ein. Die Selbstverwaltung erhielt den Auftrag, entsprechende Leistungen innerhalb eines Quartals (bis Ende März 2023) zu vereinbaren (§ 115f I SGB V), sodann unmittelbar eine Verordnungsermächtigung zur Ersatzvornahme für das BMG eingefügt (§ 115f IV SGB V).

Bereits die Ausgestaltung der Norm weist indessen gravierende Insuffizienzen aus, die einer breiten Implementierung von Hybrid-DRGs nicht förderlich sind (näher BVOU 2023: 6). Ihre Novellierung Ende letzten Jahres im Pflegestudiumstärkungsgesetz beseitigte allein die Begrenzung des speziellen Leistungskatalogs (Art 8e PflStudStG).

Wie kaum anders zu erwarten, wurde innerhalb der engen Frist von drei Monaten keine Einigung auf einen Katalog sektorengleicher Versorgungsleistungen zwischen DKG, KBV und GKV-Spitzenverband erzielt. Nach einer monatelangen Hängepartie hat das BMG schließlich zu Neujahr 2024 eine Rechtsverordnung in Kraft gesetzt, die für das laufende Jahr bei insgesamt 242 OPS-Codes aus fünf Leistungsbereichen nach der aG-DRG-Gruppierungslogik zwölf Fallpauschalen – Hybrid-DRGs – definiert (Hybrid-DRG-Verordnung vom 19.12.2023).

Mit einem derart extrem schmalen Startkatalog wird die gemäß KOV „zügig“ vorzunehmende Ambulantisierung bisher „unnötig stationär erbrachter Leistungen“ offensichtlich nicht annähernd aktiviert. Der überfällige Anschluss an den internationalen Standard bei der Ambulantisierung operativer Eingriffe (dazu Schreyögg/Milstein 2021: 6 ff) kann mit einem solchen Vorgehen definitiv nicht gelingen. Auszugehen ist von einem weiterhin brachliegenden Ambulantisierungspotential in der Größenordnung von 2.500 OPS-Leistungen, davon allein 1.500 Operationen (vgl. Albrecht et al 2022: va 184 ff), so dass gegenwärtig etwa 2,5 Millionen stationär erbrachte Eingriffe jährlich prinzipiell in ein ambulantes Setting überführt werden könnten (Pioch et al 2023: 15). Allein für den Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie (OuU) liegt das Vergütungsvolumen kurzfristig ambulantisierbarer OP-Leistungen bei rund einer Milliarde Euro (Arnegger et al 2023: 55).

Bleibt damit die im KOV vereinbarte „zügige“ Ambulantisierung stationärer Leistungen auch weiterhin ein weites Feld, sind die wenigen ansonsten mit einer Zeitvorstellung zur Implementierung näher markierten Vorhaben Anfang 2024 allenfalls rudimentär erfüllt:

  • Die Erarbeitung eines Aktionsplans für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen … mit den Beteiligten bis Ende 2022“ (KOV 2021: 86) ist augenfällig völlig aus dem Ruder gelaufen. Eine Auftaktveranstaltung mit maßgeblichen Verbänden fand erst im Herbst letzten Jahres statt, seither läuft ein Stellungnahmeverfahren. Ein weiterer Zeitplan liegt Anfang 2024 nicht vor (vgl. BMG 2024a: 5).
  • Die konkreten Vorschläge einer „Expertenkommission“ für eine „freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung“, die die soziale Pflegeversicherung (SPV) ergänzt und die terminlich bis „Ende 2023“ vorliegen sollten (KOV 2021: 82), existieren auch Anfang 2024 nicht.
  • Die „ab 2022“ angekündigte „regelhafte“ Dynamisierung des Pflegegeldes (ebd) ist schließlich im letzten Sommer im Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG; dazu: Hommel 2023) auf 2024 und 2025 (plus 5% bzw. 4,5%) sowie auf 2028 (Steigerung um den „kumulierten Anstieg der Kerninflationsrate in den letzten drei Kalenderjahren“; § 30 I SGB XI idF des PUEG) eingedampft worden. Die „langfristige Leistungsdynamisierung“ wurde gleichzeitig auf von der Bundesregierung unter Leitung des BMG bis Ende Mai 2024 dem Bundestag vorzulegende „Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung“ der SPV auf der Zeitachse weiter geschoben (Bt-Drs 20/6983: 90, zu Nr 14; zum eigentlichen Kern des Reformbedarfs: Greß/Jesberger 2023 mwNw).

Schließlich wurde die im KOV zur Vorlage von Empfehlungen und Leitplanken „für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ angekündigte „kurzfristig eingesetzte Regierungskommission“ (KOV 2021: 87) berufen (s. BMG 2022) und damit der KOV erfüllt, zumindest, sofern man ein halbes Jahr zur Regelung einer reinen Verfahrensvorgabe noch als „kurzfristig“ ansehen mag.

 

3. Menetekel GKV-Finanzdebakel

Mit dem PUEG-Vorgehen zur SPV wurde ein Szenario gewählt, das in analoger Form bereits Ende 2022 im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes für die GKV zum Einsatz gekommen war. Da die Regelungen des Gesetzes zur mittel- und längerfristigen Konsolidierung der bereits von der GroKo III unter BMG Spahn zerrüttet hinterlassenen GKV-Finanzen (näher Hermann 2023a: Kap 1, 2.1) mit weithin kurzatmiger Kostendämpfung offensichtlich unzulänglich ausfielen (ebd: Kap 2.2), nachhaltige Eingriffe in die tradierte GKV-Finanzarchitektur sich zudem innerhalb der Ampelparteien schon im Vorfeld der eigentlichen Koalitionsverhandlungen als im Grundsatz nicht diskussions- geschweige denn konsensfähig erwiesen hatten (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP 2021: 6), fügte man schließlich im Rahmen des Gesetzes einen verfahrensregelnden Platzhalter für die Leerstelle strukturell angelegter Konsolidierungsmaßnahmen ein. Gesetzlich verpflichtet wurde das BMG, „bis zum 31. Mai 2023“ unter besonderer Berücksichtigung der Ausgabenseite „Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ der GKV vorzulegen (§ 220 IV SGB V). Was seither geschah, erweist sich aber als geradezu fatal für die operative Abarbeitung wesentlicher Teile des gesundheits- und pflegepolitischen KOV-Aufgabenkanons.

Den vom Gesetzgeber selbst fixierten Termin ließ das BMG zunächst ohne öffentliche Vorlage einer Konzeption einfach verstreichen. Ende Juni 2023 publizierte das BMF einen vom BMG auf Anforderung des Haushaltsausschusses des Bundestages dem Ausschuss übermittelten Bericht „zur Finanzlage“ der GKV und SPV „im Jahr 2024“ (BMF 2023a).

Dort führt das BMG aus, die gesetzlich angeordneten Empfehlungen sehr wohl erarbeitet zu haben und erklärt sodann lapidar: „Der Meinungsbildungsprozess innerhalb der Bundesregierung dauert an“ (ebd, Anlage: 2). Auch drei Monate später, im September letzten Jahres, wiederholt die Bundesregierung diese dürre Aussage nochmals wortidentisch im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage zu ihren Vorstellungen und Vorhaben zur GKV- und SPV-Stabilisierung. In einer Melange aus Beschwichtigung und Pikiertheit fügt sie nunmehr die Binse hinzu: „Die Veröffentlichung erfolgt, sobald die Abstimmung abgeschlossen ist“ (Bt-Drs 20/8269: 2).

Wer angesichts dieses außerordentlichen Ausmaßes nachdrücklichen Abstimmungsbedarfs innerhalb der Koalition auf die Tragweite der Vorschläge zur stabilen und verlässlichen GKV-Finanzierung schließen wollte, durfte sich, als schließlich Mitte Januar 2024 die Empfehlungen tatsächlich öffentlich wurden („Stand: 31. Mai 2023 … einzelne Aktualisierungen wurden vorgenommen“; BMG 2024c: 1), verwundert die Augen reiben. Solide Vorschläge zur Einnahmen- und Ausgabenkonsolidierung, die die Finanzen der GKV absehbar in ruhigeres Fahrwasser finden lassen, sucht man in dem knapp acht Seiten umfassenden BMG-Empfehlungspapier vergebens. Selbst aus der eigenen Koalition wurde öffentlich unmittelbar bemängelt, dass „wir über einzelne Maßnahmen hinaus denken und ein umfassendes Konzept für ein ökonomisch effizientes, effektives und patientenzentriertes Gesundheitssystem entwickeln (müssen)“ (Ullmann 2024).

Die „Empfehlungen“ kommen in der Tat über Allgemeinplätze und die Verbreitung von Nebelkerzen, wenn es um die „immensen versorgungspolitischen Herausforderungen“ in der GKV geht („Es ist weiterhin von einer strukturellen Deckungslücke … auszugehen“; BMG 2024c: 2) an keiner Stelle hinaus.

Gleiches gilt im Kontext der Ausführungen zu den „Strukturreformen auf der Ausgabenseite“. Dort werden verschiedene medienwirksame Initiativen des BMG aufgelistet. Es wird der Eindruck zu erwecken versucht, als stünden über diese Maßnahmen relevante nachhaltige Effizienzgewinne für die GKV unmittelbar bevor. In Wahrheit befinden sich die Vorhaben vielfach lediglich im Stadium von BMG-internen Eckpunktepapieren. Dies gilt nicht zuletzt für die im KOV (s. oben Kap 1) angekündigte „Notfallreform“ (BMG 2024b), die laut Empfehlungen dazu führen wird, dass „knappe Ressourcen … effizienter genutzt (werden)“ (BMG 2024c: 4).

Nichts anderes gilt im Kern für die Behauptungen zu den erwarteten Finanzwirkungen des als BMG-Entwurf seit Längerem bekannten „Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes“ (GVSG). Auch die dort eingestellten Vorhaben wie die „Errichtung von Gesundheitskiosken“ oder die „Bildung von Gesundheitsregionen und Primärversorgungszentren“ sollen angeblich „mittel- bis langfristig zu finanziellen Entlastungen“ der GKV führen (ebd: 5).

Selbst, wenn sich diese hehren Prophezeiungen einstmals einstellen sollten, fehlt es absehbar bereits an der Grundvoraussetzung parlamentarischer Beschlüsse zum Vorhaben. Auf der Überschriftenebene taucht der Entwurf eines sogenannten Versorgungsgesetzes I („Leitidee: Stärkung der Medizin in der Kommune“) in einer öffentlich gewordenen Punktation des BMG schon um die Jahreswende 2022/2023 auf (BMG 2023c). Ein Referentenentwurf für ein GVSG wurde sechs Monate später bekannt („Bearbeitungsstand: 15.06.2023“). Über dieses Verfahrensstadium sind die Arbeiten aber auch ein weiteres halbes Jahr später nicht hinausgekommen („Bearbeitungsstand: 19.12.2023“) und damit von einer Befassung im Bundeskabinett und der anschließenden Behandlung im Parlament weit entfernt.

Wollte man gleichwohl antizipativ die Gesetzgebung unterstellen, betrüge der Zeitraum bis zur Versorgungsrelevanz und der Aktivierung der von der Koalition in den Raum gestellten finanzwirksamen Entlastungseffekten für die GKV in jedem Fall (mindestens) eine Dekade. Die verlässliche Konsolidierung der GKV-Finanzen bildet aber bereits derzeit das eigentliche Kardinalproblem für die Zukunftsfähigkeit der tradierten Systemaufstellung der GKV und seine Reformfähigkeit. Ohne plausible Antwort dazu fehlt die solide Basis für den angestrebten kostspieligen inkrementellen Wandel.

 

4. Luftbuchungen statt Evidenz

Als umso problematischer erscheint deshalb, dass nach vorliegenden Erkenntnissen den Vorhersagen des BMG zu sich vermeintlich (irgendwann) einstellenden finanziellen Entlastungen aus GVSG-Maßnahmen ohnehin die Evidenz fehlt. Verschiedene im Rahmen des Innovationsfonds geförderte Evaluationsprojekte geben für solche Prophetie nichts her.

So hat der Innovationsausschuss nach Studium der Zehn-Jahres-Evaluation – also eines gediegen umfänglichen Untersuchungszeitraums – des Versorgungsprojektes „Gesundes Kinzigtal“, das allgemein als Nukleus und Muster für die angestrebte Bildung von Gesundheitsregionen gelten darf, „auf Basis der Ergebnisse“ festgestellt, dass eine „Empfehlung zur breiteren Umsetzung“ der Konzeption „nicht ausgesprochen werden“ könne, insbesondere da die Versorgungsqualität „über die betrachteten 10 Jahre nicht über den säkularen Trend hinausgehend verbessert werden“ konnte (IA 2020). Entgegen aller Rhetorik von Unterstützern aus der gesundheitswissenschaftlichen Community (vgl. nur Hildebrandt et al 2021: 49 ff) und von einem Teil der Ampelparteien (Antrag Bündnis 90/Die Grünen: Gesundheitsregionen; Bt-Drs 19/21881) sind die Ergebnisse der fundiert erhobenen Evaluation anhand eines Sets von mehr als 100 Qualitätsindikatoren eindeutig: „Die von der Integrierten Versorgung Gesundes Kinzigtal angestrebte Verbesserung der Versorgungsqualität war nicht nachweisbar“ (Schubert et al 2021: 470).

Zum Modellprojekt INVEST Billstedt/Horn als Prototyp für eine integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen, das als Kernelement die Etablierung von Gesundheitskiosken enthält, hat der Innovationsausschuss aufgrund der ausgewerteten Evaluationsergebnisse „insgesamt ein heterogenes Bild“ konstatiert (IA 2022: 2). Hinsichtlich einer Reihe wesentlicher für die Ergebnisbewertung herangezogener Erfolgsparameter für das Projekt, wie insbesondere die Patientinnen- und Patientenaktivierung, die Gesundheitskompetenz oder namentlich die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen und den damit verbundenen Ausgaben konnten keine signifikanten Unterschiede oder Verbesserungen in der Versorgung festgestellt werden (ebd). Der Forschungsbericht der Evaluatoren hält im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Versorgung im Projekt abschließend ausdrücklich „widersprüchliche Ergebnisse“ fest, da insgesamt „keine belastbaren wirtschaftlichen Effekte auf die Bevölkerung in Billstedt/Horn hinsichtlich der Leistungsausgaben feststellbar“ seien (Wild et al 2021: 121).

Aus diesen Ergebnissen können – leicht erkennbar – für die gleichwohl im BMG-Empfehlungspapier für eine stabile und verlässliche zukünftige GKV-Finanzierung behaupteten mittel- und langfristigen Entlastungen der GKV durch die dort aufgeführten Maßnahmen offensichtlich überhaupt keine tragfähigen Argumente abgeleitet werden.

Auch die Lektüre des aktuell vorliegenden Referentenentwurfs zum GVSG führt – ebenso kaum verwunderlich – keinen anderen Sachverhalt zu Tage. Die für Güte wie Evidenzbasierung der beabsichtigten Neuerungen gleichermaßen geradezu deprimierenden Forschungsergebnisse bleiben im GVSG-Entwurf ohne Erwähnung.

Einerseits wird im Kontext von späteren „Minderausgaben für die GKV“ fabuliert, ohne die vorliegenden Fakten anzuführen und kritisch zu reflektieren. Andererseits werden gleichzeitig Mehrkosten für die GKV durch Errichtung und Betrieb von Gesundheitskiosken bzw. Organisation und Management von Gesundheitsregionen in Höhe von insgesamt 150 Millionen Euro für drei Jahre (2025-2027) ausgewiesen (vgl zum Ganzen GVSG-RefE: Allg. Bgr VI.4.3.).

Um diese in der Gesamtsumme relativ überschaubare Zusatzbelastung angeben zu können, sind freilich die Aufwände pro Gesundheitskiosk gegenüber dem Mustermodell INVEST mit Jahreskosten in Höhe von einer Million Euro (Becker 2022) entschieden geringer angesetzt. Sie betragen lediglich noch rd. 400.000 Euro pro Kiosk (GVSG-RefE: Allg. Bgr VI.4.3.). Der Aufwand für Management und Organisation einer Gesundheitsregion wird mit gerade einmal 150.000 Euro jährlich (1,5 VZK plus Sachkosten) beziffert (ebd) – ein absolut erstaunlicher Wert für eine neue Versorgungsform, die laut Begründung „eine alternative Organisation der Regelversorgung“ darstellt (GVSG-RefE All. Bgr II.2.) und dabei jeweils auf der Ebene eines oder gar mehrerer Kreise, also regelhaft für jeweils Hunderttausende von Versicherten etabliert werden soll (§ 140b I SGB V idF des GVSG-RefE).

Im Weiteren vermerkt das BMG-Empfehlungspapier auf der Ausgabenseite „Gesetzesvorhaben zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen“. Durch eine „Stärkung der Prävention und frühzeitigere Behandlung“ entsprechender Krankheiten würden „Krankheitsfälle vermieden sowie schwere Krankheitsverläufe und Krankenhauseinweisungen verringert“. Geradezu apodiktisch wird daraus die Schlussfolgerung gezogen: „Dies führt zu einer nachhaltigen finanziellen Entlastung der GKV“ (BMG 2024c: 5 f).

Hier wird offensichtlich der Versuch unternommen, ökonomische Effekte von Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen, deren Kosten unmittelbar, deren Nutzeneffekte jedoch nach allgemeiner Erkenntnis vielfach evaluiert belegter gesundheitsökonomischer Forschung „mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, zum Teil erst nach Jahrzehnten auftreten“ (für alle: Schwartz et al 2012: 205), gleichwohl für die Konsolidierung der GKV-Finanzen 2024 ff nutzbar zu machen.

Eine tatsächlich unmittelbar ausgabenmindernde Maßnahme kündigt das Empfehlungspapier abschließend doch noch an. Es soll den Krankenkassen gesetzlich die satzungsrechtliche Option genommen werden, homöopatische und anthroposophische Leistungen vorzusehen (§ 11 VI SGB V; BMG 2024c: 6). Das Vorhaben findet sich operativ umgesetzt auch bereits im GVSG-RefE (Art 1 Nr 2). Über die reale Ausgabenrelevanz einer solchen Leistungseinschränkung sind öffentlich zwar verschiedene Annahmen im Umlauf. Angesichts der kolportierten Summen zwischen 10 Millionen Euro und maximal 50 Millionen Euro jährlich (Kranich/Neubauer 2024) muss das Vorhaben aber für die GKV-Finanzsolidität ohne jeden Belang bleiben.

 

5. Konfliktscheu als Pferdefuß

Explizite Ausführungen zu einem Leistungssektor mit Ausgaben im verschwindenden Promillebereich in einem Bericht zu Empfehlungen zur nachhaltigen GKV-Finanz­kon­so­lidierung dokumentieren eine spürbare Hilflosigkeit vor dem Hintergrund der koalitionsweit von Beginn an fehlenden Basis für eine gemeinsame Strategie zur mittel- und langfristigen Sicherung einer soliden GKV-Finanzaufstellung. Systemsteuerungsfragen wurden von vornherein ausgeklammert (dazu Hermann 2022b: Kap 3), was nunmehr im real existierenden Koalitionsalltag skurril anmutende Blüten treibt.

Vergleichbares zeigt sich für die im Empfehlungspapier prominent aufgegriffenen, ohnehin „dürftigen Regelungen“ (Knieps 2021: 11) des KOV zur Verbesserung der Einnahmenseite der GKV, die nunmehr sämtlich hinter die Fassade eines generellen fiskalischen Vorbehalts geschoben werden. Deren Umsetzung soll erfolgen, „sobald es im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen“ (BMG 2024c: 6). Dies gilt sowohl für die im KOV verankerte regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses zur GKV als auch für die dortige Ansage höherer Beiträge für ALG II-Bezieherinnen und -Bezieher – seit 2023 der Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld (§ 19 I 1 SGB II) – aus Steuermitteln (KOV 2021: 88). Die finanzielle Belastung der GKV in Höhe von insgesamt rd. 10 Milliarden Euro (Hermann 2023a: Kap 2.2 mwNw) ansatzweise auszugleichen, soll durch den „schrittweisen Einstieg in die Refinanzierung“ aus Steuermitteln dann „beginnen“, wenn es, so die floskelhafte Wiederholung, „die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen“ (BMG 2024c: 6).

Wann dies nach aktuellem Kenntnisstand der Fall sein könnte und wie ein solcher Beginn des „schrittweisen Einstiegs“ nach Auffassung des BMG zu gestalten ist, bleibt offen. Damit repetiert man letztlich nur die Formel, die bereits die letzte GroKo gefunden hatte. In deren KOV war ebenso von der „schrittweisen Einführung von kostendeckenden Beiträgen zur GKV für ALG II-Bezieher aus Steuermitteln“ die Rede (KOV 2018: 101) – ohne dass daraus in den GroKo-Jahren materiell irgendetwas gefolgt wäre.

 

6. Die Hoffnung stirbt zuletzt

Das BMG-Papier resümiert schließlich in einer Art Fazit, dass mit der Umsetzung der „vorgelegten Empfehlungen für effizientere Versorgungsstrukturen und einer Stärkung der Einnahmenbasis entsprechend der vereinbarten Maßnahmen“ des KOV die finanzielle Lage der GKV „dauerhaft stabilisiert“, deren strukturelle Deckungslücke „deutlich reduziert“ und die GKV „zukunftsfest aufgestellt“ werde (BMG 2024c: 8).

Dieser Blick hat, wie gesehen, mit nachvollziehbarer gesundheitsökonomischer Sensivitätsanalyse sehr wenig, aber schon angesichts der schieren Menge von Imponderabilien im Papier selbst mit dem Blick in die nebelverhangene Glaskugel sehr viel zu tun. Das Verhalten erinnert fatal an das Vorgehen der schwarz-gelben Koalition Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, als mit dem Gesundheits-Reformgesetz (GRG) ebenfalls nach offizieller Lesart eine „breit angelegte Strukturreform“ (Jung 1990: 77), ein „Jahrhundertwerk“ (BMA Blüm bei Knieps/Reiners 2015: 87), 1989 in Kraft trat. Das GRG spekulierte auf ausgabensenkende „Struktureffekte“ im Milliardenumfang (damals freilich noch im DM) namentlich im Krankenhausbereich und konstruierte daraus alsbald realisierbare beitragssatzrelevante „Entlastungen der Versicherten und Arbeitsgeber“ (Bt-Drs 11/2237: 274 ff, hier: 275), die niemals eintrafen. Anstatt nach drei Jahren die hoffnungsfroh prophezeiten Einspareffekte von über 14 Milliarden DM zu erzielen (ebd: 276), erlebte die GKV real ein finanzielles Desaster und verbuchte Defizite im zweistelligen DM-Milliarden-Bereich (BMAS 2006: 139). Das Ende ist bekannt: Anfang 1993 erfolgten als „Sofortbremsung“ apostrophierte rigide Konsolidierungs- und Budgetierungsmaßnahmen im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG; Bt-Drs 12/3608: hier: 69).

Da die GKV des Jahres 2024 nach den von GroKo III und Ampelkoalition gleichermaßen verfügten drastischen Eingriffen zum Zwangsabbau der Rücklagen sowohl des Gesundheitsfonds als auch der einzelnen Krankenkassen über keine systemisch nennenswerten Finanzreserven mehr verfügt (näher Hermann 2023a: Kap 1.1, 2.1, 2.2) und die Anhebung des Steuerzuschusses als Sofortmaßnahme zur Konsolidierung auf nicht absehbare Zeit offensichtlich ebenso ausscheidet, hat sich die mangelhafte konzeptionelle Konkretisierung der finanziellen Zukunftsfähigkeit der GKV mittlerweile objektiv zum Bremsklotz für weitere Maßnahmen aus dem Ampel-KOV entwickelt. Dies gilt namentlich für alle Vorhaben, deren Implementierung initial Investitionen verlangt, um später rationalere Versorgungsprozesse mit einhergehenden Entlastungseffekten zu ermöglichen.

Das Beispiel schlechthin hierfür gibt die redundant von mehreren Vorgängerkoalitionen versäumte (näher Hermann 2022b: Kap 5), aber spätestens seit Sommer letzten Jahres erneut zunehmend ins Stocken geratene Finanzierungs- und Planungsreform des Krankenhaussektors ab. Im KOV selbst mit neun kargen Zeilen gar nicht als solches ausgewiesen (KOV 2021: 87), liegt hier offenkundig mittlerweile das Hauptengagement. Das Projekt ist nicht zuletzt regierungsamtlich Ende 2022 medienwirksam als „Revolution in der Art und Weise, wie wir Krankenhausplanung gestalten und wie die Versorgung in Krankenhäusern stattfinden soll“, gestartet worden (BMG Lauterbach, Bt-Prot 20/74: 8804).

Das parlamentarische Verfahren sollte ursprünglich „im September 2023 mit dem Kabinettsbeschluss eingeleitet und im Dezember 2023 abgeschlossen werden“ (BMG 2023a).

Mittlerweile befindet sich aber selbst das bereits im letzten Oktober vom Bundestag verabschiedete Krankenhaustransparenzgesetz (Bt-Drs 20/8904), das verschiedene „Vorarbeiten“ für die eigentliche Krankenhausreform abbildet (Lauterbach 2023b: 1), und – als Einspruchsgesetz – vom Bundesrat Ende November „mit dem Ziel einer grundlegenden Überarbeitung“ in den Vermittlungsausschuss (VA) von Bundestag und Bundesrat (Art 77 II GG) geschickt wurde [Br-Drs 541/23 (B): 1; zum Ganzen: Hermann 2023b], in schwierigem parlamentarischem Fahrwasser. Das wiederholt BMG-seitig angekündigte große Reformpaket in Gestalt des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) wartet auch Mitte März 2024 weiterhin auf eine Einbringung in das parlamentarische Verfahren.

Alle Kompromisslinien, auf die sich die auf Bundes- und Länderebene Verantwortlichen zu Einzelaspekten im abschließenden „Eckpunktepapier“ zur Krankenhausreform (BMG 2023b) im letzten Sommer verständigt hatten, wurden „unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer zukünftigen finalen Gesamteinigung zwischen Bund und Ländern“ erzielt. Dieser Vorbehalt beinhaltet namentlich „die notwendige finanzielle Ausstattung durch Bund und Länder für den Transformationsprozess“ (ebd: 1).

Einen solchen „Transformationsfonds“ fordern die Länder seit jeher (GMK-Vorsitzland 2023: 1). Er spielt auch in den ursprünglichen Empfehlungen der Regierungskommission für die grundlegende Reform der Krankenhausvergütung, deren Konzeption sich der BMG Ende 2022 bei der verkündeten „Revolution im System“ (Klöckner 2022) zunächst zu eigen machte, eine zentrale Rolle (Regierungskommission 2022: 10; Karagiannidis/Busse/Augurzky 2023: A508). Laut Protokollerklärung der Bundesregierung im Vermittlungsverfahren zum Krankenhaustransparenzgesetz selbst soll der Fonds über eine Dekade hinweg mit jährlich bis zu fünf Milliarden Euro gefüllt werden (Bundesregierung 2024: 2).

Allerdings fehlt bereits in den BMG-Empfehlungen für eine stabile und verlässliche GKV-Finanzierung jeder Hinweis auf notwendige zusätzliche Investitionsmittel des Bundes zur Implementierung der beabsichtigten Krankenhausreform (vgl BMG 2024c: 3 f); in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes findet sich dazu kein Hinweis, nicht einmal ein Platzhalter (s. schon BMF 2023b). Entsprechend kann das BMG vor dem Hintergrund eines konjunkturell wie strukturell massiv belasteten Bundeshaushalts auch weder eine Zusage noch eine angemessene Finanzierungsverpflichtung liefern. Die Protokollerklärung der Bundesregierung im Vermittlungsausschuss spricht auch neben den Ländern nur noch den Gesundheitsfonds als Finanzier des Transformationsfonds an (ebd.).

 

7. Das Fenster ist zu – ein Torso bleibt

Spätestens hier rächt sich die schon im KOV 2021 ebenso konfliktscheu wie thematisch unterkomplex bearbeitete Frage nach der Sicherung einer nachhaltigen GKV-Finanzierung. Das Zeitfenster – zumindest – die im KOV geeinten Maßnahmen der Dynamisierung des Steuerzuschusses zur GKV und der stärkeren Beteiligung des Bundes an den Beiträgen für Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher (s. oben Kap 5) umzusetzen, schloss sich bereits wieder, bevor es von maßgeblich beteiligten Ampelkoalitionären überhaupt als geöffnet erkannt war. Der den KOV inhaltlich aufnehmende erste BMG-Entwurf zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz aus dem Frühjahr 2022, der eine dauerhafte Erhöhung des Bundeszuschusses zur GKV um fünf Milliarden Euro vorsah (Art 1 Nr 11 GKV-FinStG-E, Stand: 04.03.2022), schaffte es schon gar nicht mehr aus dem Bundeskanzleramt in die weitere Ressortabstimmung und erreichte nie das Bundeskabinett (s. Hermann 2022b Kap 3). Einen weiteren Anlauf in diese Richtung hat es nicht gegeben. Die BMG-Empfehlungen zur stabilen GKV-Finanzierung verbrämen den koalitionsinternen Abgesang nur allzu augenfällig.

Seit der im Gefolge des Angriffskrieges auf die Ukraine vom Bundeskanzler im Februar 2022 öffentlich verkündeten „Zeitenwende“ (Bt-Prot 20/19: 1350) darf dieses Fenster als fest geschlossen gelten. Die Entscheidung des BVerfG zur sogenannten Schuldenbremse nach Art 109 III und 115 II GG vom letzten November (2 BvF 1/22 vom 15.11.2023) hat jede vermeintliche Hoffnung endgültig obsolet werden lassen. Danach ist auch der Einsatz von sogenannten Sondervermögen wie dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) den gleichen verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Kreditaufnahme des Bundes unterstellt wie der Bundeshaushalt selbst. Es gelten die Prinzipien der Jährlichkeit und der Jährigkeit (ebd: Rn 155).

Damit befindet sich aber das BMG bei seinen ambitionierter verorteten Vorhaben in einem gleichermaßen konzeptionell wie strategisch maßgeblichen Dilemma, aus dem es sich in den verbleibenden eineinhalb Jahren Ampelkoalition bis zur nächsten Bundestagswahl aus originärer Kompetenz nicht wird befreien können.

In der Folge werden dort zwar weiter fleißig Eckpunktepapiere zu Themen aus dem gesundheits- und pflegepolitischen KOV-Blütenstrauß erstellt und dokumentiert (z.B. Apothekenhonorar- und Apothekenstrukturreform 20.12.2023, Maßnahmen zur Stärkung der ambulanten ärztlichen Versorgung 05.01.2024, Reform der Notfallversorgung 16.01.2024; vgl auch BMG 2024a), die gelegentlich auch noch bis zu öffentlichen Arbeits- oder Referentenentwürfen konkretisiert werden (RefE zum KVSG s. oben, RefE zum BZgA-NachfolgeG vom 16.10.2023). Sobald aber zur weiteren Operationalisierung zusätzliche Finanzmittel in relevantem Umfang aktiviert werden müssten, schwindet gleichsam reziprok der Realisierungselan (vgl auch Vehrkamp/Matthieß 2023: 7, Tab 1).

Von den vielfältigen Initiativen des BMG gelangten im letzten Jahr lediglich vier noch ins Bundesgesetzblatt [PUEG, PflStudStG, Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG), 15. SGB V-ÄndG Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland]. Zur prominent zur „Revolution“ verklärten Krankenhausreform (s. nur Bethkenhagen 2024) kennt die Republik auch 15 Monate später weiterhin keinen konsolidierten BMG-Entwurf. Da jedes Krankenhausreformgesetz ohne ausreichend bestückten Transformationsfonds ohne Zustimmung der Länder im Bundesrat bleiben wird und bei qualifizierter Mehrheit von zwei Dritteln seiner Stimmen scheitert – ganz unabhängig davon, ob das Vorhaben verfahrensmäßig als Zustimmungs- oder Einspruchsgesetz ausgewiesen wird (dazu Wolff: Rn 17; Hermann 2023b: Kap 1) – ist die Realisierung des „Projekts große Krankenhausreform“ im Frühjahr 2024 für den Rest der Legislaturperiode alles andere als gewiss.

Der sich aktuell abzeichnende Versuch des BMG einer Auslagerung der Transformationskosten gemäß hinlänglich angewandtem Muster (s. nur oben zum Bürgergeldbezug) auf die Beitragszahlenden der GKV als Ausweichstrategie würde im Wahljahr 2025 bei verfrühstückten Finanzreserven unmittelbar die nächste Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes zur Folge haben. Es wäre seit 2019 die sechste in nahezu jährlichem Rhythmus. Mit der Erhöhung Anfang dieses Jahres auf 1,7 Prozentpunkte wurde aber der Zusatzbeitragssatz seit 2019 (0,9 Prozentpunkte) in dieser kurzen Zeitspanne bereits nahezu verdoppelt. Würde der Gesundheitsfonds tatsächlich bis weit in die dreißiger Jahre hinein mit jährlich 2,5 Milliarden Euro zusätzlich belastet, wäre damit der kontinuierliche Anstieg des GKV-Beitragssatzes für die nächsten zehn Jahre systemisch gleich mitprogrammiert. Die Sozialversicherung mutierte quasi zum Ersatzfiskus.

Die Aufgabe des (notgedrungen selbstgesteckten) Vorhabens, für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ der GKV sorgen zu wollen, legt damit die eigentliche Achillesferse für alle im KOV gesetzten oder seither zusätzlich erkannten gesundheits- und sozialpolitischen Ambitionen der Ampelkoalition frei. Fragen nach der eigentlichen gesundheitspolitischen Agenda oder einem vermeintlich originären ordnungspolitischen Narrativ erübrigen sich.

 

Literatur

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Lesen Sie weitere Beiträge des Autors:

„Vermittlungsverfahren voraus?“, Observer Gesundheit, 20. November 2023,

„Der lange Arm des exekutiven Dirigismus“, Observer Gesundheit, 13. Juli 2023,

„Von Tigern zu Bettvorlegern“, Observer Gesundheit, 3. Februar 2023,

„Von digitaler Ertüchtigung, DiGA und vermeintlichen Analogien“, Observer Gesundheit, 8. August 2022,

„Von Koalitionsverträgen zum kleine Karo“, Observer Gesundheit, 19. April 2022.

 


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