19.04.2022
Von Koalitionsverträgen zum kleinen Karo
Oder: die permanent Unvollendeten in der Gesundheitspolitik
Dr. Christopher Hermann
Die Ampelkoalition ist im November 2021 mit dem netten Slogan „Mehr Fortschritt wagen“ angetreten. Im Hinblick auf den in ihrem Koalitionsvertrag (KOV) gebotenen bunten Strauß an beabsichtigter Gesundheits- und Pflegepolitik stellt sich unmittelbar die Frage: Aber wo geht sie hin? Offeriert werden eine Vielzahl unterschiedlichster gewichtiger oder weniger gewichtiger Vorhaben, die in der Geschichte der KOV in der Berliner Republik zwar quantitativ ihresgleichen suchen, strukturell aber insgesamt wenig auffallen. Was vor mehr als 30 Jahren im ersten KOV mit knappsten Ansagen für vier folgende Regierungsjahre begann, wird mittlerweile in seitenlangen Ankündigungen aufgelistet. Ob damit letztlich wirklich viel für den Regierungsalltag programmiert ist, darf durchaus differenziert betrachtet werden. Und was heißt das für die kontextuell ultimative Frage, was eigentlich von der Gesundheits- und Pflegepolitik der Ampelkoalition real zu erwarten ist?
Um fundierten Antworten auf diese Fragestellungen näher zu kommen, wird ausgehend von einem konzentrierten Blick auf die gesundheits- und pflegepolitische Tiefenschärfe des Ampel-KOV in einem zweiten Schritt der Vergleich mit den vorangegangenen KOV der Berliner Republik gesucht. Seit der Wiedervereinigung sind in den 30 Jahren zwischen 1991 und 2021 immerhin insgesamt neun KOV von vier parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzten Koalitionsregierungen geschlossen worden (dreimal schwarz-rot, dreimal schwarz-gelb, zweimal rot-grün, einmal rot-grün-gelb). Ihre Bearbeitung zentraler gesundheitspolitischer Themenkomplexe wie etwa der GKV-Finanzierung, Versorgungsstrukturierung oder Ordnungspolitik verspricht vor allem dann analytisch Gewinn, wenn das in den KOV Vereinbarte mit den realpolitischen Resultaten während der jeweiligen Legislatur abgeglichen wird.
Wobei Resultate in diesem Sinne hier umfassend zu verstehen sind. Es soll im Weiteren nicht allein um numerische Umsetzungsquoten einer KOV gehen (dazu Vehrkamp/Matthieß 2018 und 2021), sondern der Fokus ebenso ist darauf gerichtet, wie und welche Gesundheitspolitik ggf. (ganz) am jeweiligen KOV vorbei umgesetzt wurde. Kein KOV in der Berliner Republik findet sich, der sich nicht explizit etwa der GKV-Finanzierung angenommen hätte oder für sich ordnungspolitische Fragen entdeckte. Auch zur Krankenhauspolitik ergibt sich in (fast) jedem KOV bis zu einer teilweise geradezu epischen Breite ein mehr oder minder erhellender Fundus. Abschließend soll es um dabei erkennbare Muster der Bearbeitung gehen. Sie können Anhaltspunkte auch dafür abgeben, was im Ausblick gesundheits- und pflegepolitisch von der Ampel-Koalition noch erwarten ist.
1. Same Procedure as Every Year?
Wie sich doch prominente Ankündigungen für beabsichtigtes gesundheitspolitisches Handeln gleichen können:
- „Deutschland braucht eine hochwertige, innovative, flächendeckende und wohnortnahe Patientenversorgung … Dafür bedarf es effizienter Strukturen. Der Prozess einer besseren Verzahnung der Sektoren wird fortgesetzt.“
- „Wir wollen einen Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik … Wir sorgen für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung.“
- „Die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen müssen ausgebaut und verstärkt werden. Für eine sektorübergreifende Versorgung wollen wir weitere nachhaltige Schritte einleiten …“
Ansagen aus den Koalitionsverträgen (KOV) der vergangenen drei parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzten Bundesregierungen, nämlich im ersten Zitat von der schwarz-gelben Koalition 2009 (CDU/CSU, FDP; KOV 2009: 81), danach von der Ampelkoalition Ende letzten Jahres (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP; KOV 2021: 81) und zuletzt der 3. Berliner Großen Koalition 2018 („GroKo III“ aus CDU/CSU und SPD; KOV 2018: 96). Die Koalitionen wurden in drei verschiedenen Dekaden geschlossen, kündigen hier aber offensichtlich substantiell identische Vorhaben an – eine verzahnte, sektorenübergreifende Versorgungsstrukturierung im bundesdeutschen Gesundheitswesen. Die KOV-spezifische Gesundheitsprosa liefert weitere zahlreiche solche Beispiele (siehe Kap 4 und 5).
Bei einem KOV handelt es sich zwar nicht um einen rechtlich bindenden Vertrag, aber nach allgemein akzeptierter Konvention jedenfalls um eine politische Absichtserklärung, die „auf Treu und Glauben abgegeben“ wird (Bergmann 2010: Rn. 2). Er beschreibt, so die staatsrechtlich gängige Interpretation, die „Felder gemeinsamer Politik“; in ihm werden „bestimmte Ziele sowie die Maßnahmen vereinbart, mit denen sie erreicht werden sollen“ (Meyn 2001: Rn. 6). Sein Inhalt wird gemeinhin als ein „vertraglich abgesichertes Regierungsprogramm“ (Schorkopf 2019: 169) angesehen.
Wenn es sich zudem bei Koalitionsverhandlungen nach den Worten von Beteiligten tatsächlich um eine „Hochzeit der Politik“ handeln soll, die „äußerst lehrreich“ sei (Kannenberg et al. 2021: 88), stellt sich angesichts eines solchen Befundes freilich im Anschluss schnell die Frage nach dem realen politischen Handeln der maßgeblichen Akteure der Berliner Republik in den Zeiten jenseits des „Honeymoons“. Oder anders gewendet: Wird die politische Halbwertzeit von KOV in der öffentlichen wie fachspezifischen Debatte maßlos überschätzt, wenn sie als Abkommen zwischen den beteiligten Parteien „über das Tun und Lassen ihrer Regierungspolitik“ (Schmidt 2004: 360) definiert werden? Spiegeln KOV nicht möglicherweise viel eher allenfalls eine verschriftlichte Momentaufnahme mit unverbindlichen Absichtserklärungen wider, die den massiven personellen wie administrativen Aufwand (allein 22 Arbeitsgruppen mit jeweils bis zu 18 Mitgliedern bei den Ampelverhandlungen im Herbst 2021 arbeiteten der Hauptverhandlungsgruppe zu) schwerlich rechtfertigen können?
Wer glaubt eigentlich „noch an die Möglichkeit, vier Jahre Regierungsarbeit im Detail vorausprogrammieren zu können“ (Meinel 2019: 139)? Dies zudem angesichts des im Kontext augenfälligen Umstands, dass sich zwar über die letzten vier Legislaturperioden des Bundestages hinweg die Koalitionsregierungen parteipolitisch dreimal anders sortiert haben, der in den jeweiligen Vereinbarungen konkret adressierte gesundheitspolitische Änderungs- und Handlungsbedarf in einem solchen zentralen Bereich wie der grundlegenden Strukturierung der Versorgungsebenen (ambulant, stationär, hybrid) sich aber – abseits von Semantik – materiell offensichtlich gar nicht verschoben hat?
Lässt sich die Vermutung von der vielfach exzessiven Überbewertung der jeweiligen koalitionsspezifischen gesundheits- und pflegepolitischen Gesundheitsprosa empirisch weiter erhärten? Können damit Schlussfolgerungen verbunden werden für die prognostische Einordnung des kurz- und mittelfristig gesundheitspolitisch Erwartbaren vor dem Hintergrund der zwischen „vorsichtiger Erneuerung und rasantem Stillstand“ (Knieps 2021) angesiedelten gesundheits- und pflegepolitischen Programms der Ampelkoalition (KOV 2021: 80-88)?
Immerhin waren alle an der seit Dezember im Amt befindlichen Bundesregierung beteiligten Parteien in wechselnden Bündnissen in der Berliner Republik auch für sämtliche dabei „gelebten“ KOV unmittelbar verantwortlich. Im Vergleich unmittelbar auffällig: Während der erste KOV nach der Zeitenwende Wiedervereinigung der schwarz-gelben Bundesregierung Anfang 1991 gesundheits- und pflegepolitisch trotz der historischen Aufgabe des weiteren Zusammenwachsens zweier zuvor völlig unterschiedlich organisierter Gesundheitssysteme in den beiden deutschen Staaten lediglich zwölf kurz Absätze benötigte – mithin viel freies politisches Spielfeld für die Akteure beließ – (KOV 1991: 38-40), zeigt sich die Ampelkoalition über mehrere Dutzend Absätze gesundheits- und pflegepolitisch jedenfalls detaillistisch breitest aufgestellt. Da sie sich damit auch in auffälliger Kontinuität mit der Detailverliebtheit ihrer unmittelbaren Vorgängerkoalitionen – insbesondere der GroKo III (KOV 2018: 95-102) – zeigt, stellt sich umso intensiver die grundsätzliche Frage nach Sinn und Gewinn der Fixierung mannigfacher gesundheitspolitischer Ansagen in einem KOV.
2. Ein Kessel Buntes
Der Ampel-KOV steht in der Tat in seiner versuchten deterministischen Regelungsdichte den Vereinbarungen der GroKos des letzten Jahrzehnts quantitativ in nichts nach. Geboten wird ein breit ausuferndes gesundheits- und pflegepolitisches Potpourri von nicht weniger als 120 Einzelpunkten. Dabei kommt den Ankündigungen im Dutzendpack inhaltlich eine höchst unterschiedliche Wertigkeit zu, ohne dass der KOV gleichzeitig eine strukturierende Priorisierung erkennen lassen würde. Nichts anderes gilt in weitem Umfang auch hinsichtlich zeitlicher Vorstellungen bei der Abarbeitung der überbordenden Projekte. Bei ausgesprochen extensiver Interpretation lassen sich von den 120 Einzelvorhaben allenfalls sieben identifizieren, die zeitlich konkreter verortet werden:
- Die regelhafte Dynamisierung des Pflegegeldes „ab 2022“ (KOV 2021: 82),
- Vorschläge einer (erst noch zu berufenden) „Expertenkommission“ für eine „ergänzende, freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung“ in der sozialen Pflegeversicherung „bis Ende 2023“ (ebd.),
- ein „mit den Beteiligten“ erarbeiteter „Aktionsplan“ für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen bis Ende 2022“ (KOV 2021: 86),
- die „kurzfristige“ Einsetzung einer „Regierungskommission“, die – bis zu welchem Zeitpunkt bleibt offen – Empfehlungen „für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ vorlegen soll (ebd.: 87),
- die ebenfalls „kurzfristig“ angekündigte „bedarfsgerechte, auskömmliche Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe“ (ebd.) sowie Einführung einer verbindlichen Krankenhaus-Personalbemessung durch die „Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) als Übergangsinstrument“ (ebd.: 82) und
- die „zügige“ Ambulantisierung bisher „unnötig stationär erbrachter Leistungen“ (ebd.: 85).
Darüber hinaus offeriert der KOV allenthalben Absichtsbekundungen zu gesetzgeberischem Handlungsbedarf, der sich aus der Corona-Pandemie ableitet, wie die „effiziente und dezentrale Bevorratung von Arzneimittel- und Medizinprodukten sowie regelmäßige Ernstfallübungen für das Personal für Gesundheitsrisiken“ („Gesundheitssicherstellungsgesetz“; KOV 2021: 83), zur Fortentwicklung bekannter Regelwerke („Präventionsgesetz“; ebd.: 84) ohne näheren zeitlichen Horizont, oder verteilt Prüfaufträge zur selbstgefälligen Bearbeitung (Contergan-Stiftung, individuelle Beitrittsrechte zur GKV; ebd.: 80, 88). Weitergehende, geschweige denn tendenziell ggf. systemverändernde Reformansätze finden sich in der Vereinbarung weder allgemein bezogen auf Gesundheits- und Pflegethemen noch speziell etwa mit Fokus auf die GKV und/oder die private Krankenversicherung (PKV). Es wird allenfalls subkutan das Hohelied inkrementellen Wandels angestimmt. Dies reicht hin bis zur expliziten Ankündigung der Regelung des „Leistungsumfangs der Bergrettung“ (ebd.: 85) oder der „Einführung von Springerpools“ in der stationären Langzeitpflege (ebd.: 82) und der Festlegung, dass künftig „Entscheidungen des Zulassungsausschusses durch die zuständige Landesbehörde bestätigt werden (müssen)“ (ebd.: 86).
Ohne jeden Bezug und völlig unkommentiert werden zudem aus dem entsprechend reichhaltigen Nachlass der GroKo III unter BMG Spahn wesentliche der als Leerstellen zurückgebliebenen, strukturell anspruchsvolleren Projekte nochmals angeführt. Dies gilt insbesondere für
- die erneute Ansage, „höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln“ zu finanzieren (KOV 2021: 88), die knapp vier Jahre zuvor bereits als „schrittweise Einführung von kostendeckenden Beiträgen zur GKV für ALG-II-Bezieher aus Steuermitteln“ (KOV 2018: 101) angekündigt worden war, ohne dass daraus in der GroKo-Zeit etwas gefolgt wäre. Die massive Unterdeckung der (aus dem Bundeshaushalt finanzierten) GKV-Beitragszahlungen für ALG-II-Bezieher erreicht mittlerweile eine Größenordnung von 10 Milliarden Euro (Klöckner/Specht 2022), in der die Absicherung des Krankheitsrisikos für erwerbsfähige SGB II-Leistungsberechtigte auf die GKV-Solidargemeinschaft abgewälzt wird (Hermann 2021a: Kap. 5 a. A. m.w.Nw.);
- die Wiederholung der Ankündigung einer umfassenden Neuaufstellung der Notfallversorgung, die nunmehr in „integrierten Notfallzentren in enger Zusammenarbeit zwischen den kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und den Krankenhäusern (KH) erfolgen“ soll (KOV 2021: 85). Während die GroKo III noch in Übereinstimmung mit den Vorschlägen insbesondere des Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR 2018: Ziffer 980 ff., v.a. 1000 ff.) „eine gemeinsame Sicherstellung der Notfallversorgung von Landeskrankenhausgesellschaften“ und KVen „in gemeinsamer Finanzverantwortung“, erbracht in aufzubauenden „Notfallleitstellen und integrierten Notfallzentren“ (KOV 2018: 99) versprochen hatte, variiert der Ampel-Vertrag organisatorisch und setzt primär auf die KV. Ihr soll jetzt die „Option“ eröffnet werden, die Gewährleistung der ambulanten Notfallversorgung in den neuen integrierten Notfallzentren „selbst sicherzustellen oder diese Verantwortung in Absprache mit dem Land ganz oder teilweise auf die Betreiber zu übertragen“ (KOV 2021: 85). Was aus dem in der GroKo-Endphase noch im Juli 2021 im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) verbliebenen schmalen Rest des Ende 2018 zunächst groß propagierten Vorhabens einer grundlegenden Neustrukturierung der Notfallversorgung werden soll (Eckpunktepapier 12/2018, Diskussionsgesetzentwurf 7/2019 inkl. Verfassungsänderung zum Rettungsdienst über Art. 74 Abs. 1 Nr. 12a GG – neu –, Referentenentwurf 1/2020 mit dazu völlig konträrer Ausgestaltung; Hermann 2020: Kap. 8), bleibt unbeantwortet. Der Umgang mit dem Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zu einem Ersteinschätzungsverfahren mit Vorgaben zu Erbringung und Vergütung der ambulanten ärztlichen Notfallbehandlung im Krankenhaus „bis zum 20. Juli 2022“ (§ 120 Abs. 3b SGB V) wird gar nicht thematisiert.
- Die oben angeführte (Kap. 1) nochmalige Neuauflage der Ansage, die tradierten Sektorengrenzen und Silostrukturen in der bundesdeutschen Gesundheitsversorgung schleifen zu wollen – insbesondere durch die Weiterentwicklung der ambulanten Bedarfs- und stationären Krankenhausplanung „gemeinsam mit den Ländern zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung“ (KOV 2021: 85) sowie die „Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen“ über eine „sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG“ (ebd.).
Wie man diese ambitionierten Vorhaben zu operationalisieren gedenkt, bleibt freilich bis auf den Hinweis einer Einbeziehung der föderalen Ebene völlig nebulös. Das öffentlichkeitswirksame Desaster der Vorgängerkoalition noch zeitnah vor Augen, mag für diese Zurückhaltung ein Motiv abgeben. Die letzte GroKo hatte medienbewusst anfangs neben der Notfallversorgung auch umfassende „Vorschläge für die Weiterentwicklung zu einer sektorenübergreifenden Versorgung des stationären und ambulanten Systems“ insgesamt durch eine eigens zu diesem Zweck installierte Bund-Länder-Arbeitsgruppe versprochen (KOV 2018: 96 f.). Im Weiteren aber hatte sie nichts mehr unternommen, als deren Elan bereits nach vier Sitzungen und Vorlage eines ebenso quantitativ (acht Seiten) wie substantiell äußerst dürftigen „Fortschrittsberichts“ (Bund-Länder-AG 2020) völlig erlahmte (Hermann 2021b: 39).
Die Ampelkoalition bleibt konzeptionell ebenso jede auch nur skizzenhafte Konturierung schuldig. Wenn aber der verkündete Aufbau einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung und die damit implizit verbundene Ankündigung einer weitgehend sektorenunabhängigen Versorgungsrealität für Patientinnen und Patienten bis zum Ende der Legislaturperiode auch nur annähernd erreicht werden sollen, bedarf es unmittelbar eines konzeptionell überzeugenden Masterplans zur operativen wie institutionellen Vorgehensweise. Ansonsten bleibt es, wie gehabt, bei bloßer Koalitionsvertragsrhetorik.
3. … lass mich hinter’n Baum
Wird damit transparent, in welchem substantiell geradezu spektakulären Umfang der Ampel-KOV einstige wesentliche versorgungspolitische Reformansagen der GroKo III zur zukunftsfähigen Umstrukturierung der gesundheitlichen Leistungserbringung aufgrund ausgebliebener Realisierung recycelt, gilt dies indessen für eine zentrale Leerstelle aus der GroKo-Zeit gerade nicht. Während die GroKo III versprochen hatte, ein „modernes Vergütungssystem im ambulant-ärztlichen Bereich zu schaffen“, da die ambulant-ärztliche Honorarordnung sowohl in der GKV (Einheitlicher Bewertungsmaßstab – EBM; § 87 Abs. 2-2g SGB V; Hess 2017: Rn. 30 ff.) als auch in der PKV (Gebührenordnung für Ärzte – GOÄ; Koppenfels-Spies 2014) reformbedürftig sei (KOV 2018: 98), nimmt der Ampelvertrag dieses oder ein vergleichbar angelegtes Vorhaben nicht wieder auf.
Offenkundig ist aber auch in diesem Zusammenhang unter BMG Spahn die Umsetzung der einstigen Verabredung voll umfänglich ausgeblieben. Nach der Entgegennahme des entsprechenden Gutachtens Anfang 2020 der zunächst noch gemäß KOV eingesetzten Expertenkommission (KOMV 2019; Kingreen 2021) erfolgten keinerlei weitere BMG-Aktivitäten mehr.
Zudem sind die ordnungs- und gesellschaftspolitischen Beweggründe für ein einheitliches modernes Vergütungsregime, „das den Versorgungsbedarf der Bevölkerung und den Stand des medizinischen Fortschritts abbildet“ (KOV 2018: 98) und dabei die versorgungsbezogenen wie ökonomischen Fehlanreize der überkommenen Systeme (vgl. KOMV 2019: Rn. 314 ff.) zukünftig grundsätzlich zu beseitigen sucht, seither keineswegs weniger stichhaltig geworden. Da freilich die Ampelkoalitionäre im Gesundheits- und Pflegebereich ggf. ordnungspolitisch konfliktäre Systemfragen tangierende Projekte von vornherein bewusst ausgeschlossen haben (Knieps 2021: 7), blieb damit nach Ansicht der Verhandler offensichtlich auch bereits der überfällige Weg in ein an Versorgungsqualität und Bedarfsgerechtigkeit orientiertes zukunftstaugliches ambulant-ärztliches Vergütungsregime versperrt.
Die schon das Ergebnispapier der Ampel-Sondierungsrunden prägende strukturkonservative Status-quo-Mentalität („Die gesetzliche und private Kranken- und Pflegeversicherung bleiben erhalten“; SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP 2021: 6) lässt damit selbst die mittlerweile wie aus der Zeit gefallen wirkende Honorarsysteme substantiell unberührt. Sowohl ein seit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr gepflegtes Regelwerk, das nach wie vor selbst Beträge in Deutscher Mark ausweist (GOÄ; KOMV 2019: Rn. 142), als auch eine mittlerweile für In- wie Outsider völlig intransparente, regulatorische Untiefen ergründende Vergütungssystematik (EBM; Hermann 2021b: 39) bleiben damit laut Ampel-Willen (mindestens) auf Jahre weiter bestehen. Gemäß KOV sind allenfalls siloimmanent marginale Bewegungen bis zur Mitte des Jahrzehnts möglich. In der GKV soll die „Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich“ aufgehoben werden (KOV 2021: 85) – was in vielen KV-Bezirken faktisch ohnehin bereits der Fall ist. In der PKV soll zukünftig für Kinder und Jugendliche „das Prinzip der Direktabrechnung gelten“ (ebd.: 88) – was das antiquierte Vergütungssystem allenfalls indirekt tangiert.
Die Regelungsabstinenz der Ampel an dieser Stelle erweist sich zudem gerade vor dem Hintergrund des augenfälligen Scheiterns der versorgungspolitischen Zielsetzung des als „Sofortprogramm“ vermarkteten Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) aus dem Frühjahr 2019 (Bt-Drs. 19/6337: 51) als umso fataler. Dort war mit einer Flut von neuen Leistungen, die neben der Gesamtvergütung gesondert honoriert werden (§ 87a Abs. 3 S 5 Nr. 3-6 SGB V), die im GroKo-KOV angekündigte nachhaltige Verbesserung des Zugangs zur ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung für GKV-Versicherte angegangen worden (KOV 2018: 97).
Damit wurde aber eine Problematik prominent mit viel Aufwand bearbeitet, die es objektiv in Deutschland, wie zeitnah bereits der SVR klargestellt hatte (SVR 2018: Ziffer 107), „so eigentlich nicht gibt“ (Becker 2018) und deren Relevanz zudem auch seither während der Pandemie nicht gewachsen ist. Ein Vergleichssurvey zum Zugang zur Primärversorgung in elf hoch entwickelten Staaten dokumentiert für das Jahr 2020, dass behandlungsbedürftige Erwachsene in Deutschland unabhängig vom ökonomischen Status den schnellsten Zugang zu Ärzten finden (75% spätestens am nächsten Tag; Frankreich 53%; Großbritannien 52%; USA 49%; Doty et al. 2021, Tab. 2f). Mittlerweile ist evident, dass von der in Aussicht gestellten signifikanten Verringerung der Wartezeiten in Deutschland namentlich im Facharztbereich ohnehin keine Rede sein kann. Für Patientinnen und Patienten beträgt in der GKV nach wie vor die Wartezeit auf einen Facharzttermin regelhaft max. vier Wochen, wobei lediglich im Promillebereich der Termin tatsächlich auf Vermittlung einer Terminservicestelle bei einer KV zurückgeht (Sobiech-Eruhimoric/Martin 2021: 29ff., 34). Gleichzeitig wird hier aber – versorgungspolitisch sinnlos – ein zusätzlicher Vergütungsbetrag in Milliardenhöhe ausgeschüttet, der im letzten Quartal 2020 das Finanzvolumen der Einzelleistungen in allen KVen im Vorjahresquartalsvergleich um mehr als 21% (auf 4,9 Milliarden Euro) anschwellen ließ, während gleichzeitig der budgetierte Teil der Gesamtvergütung stagnierte (-0,4%; 6,2 Milliarden Euro; Gesamtjahr 2020 zu 2019: budgetierte Vergütung +3,5 Milliarden Euro = 24%, Budgetvergütung -1,5 Milliarden Euro = -5,7%; KBV 2021, 82, 126).
Andere KOV in der Berliner Republik in vergleichbarer Situation haben sich erheblich differenzierter eingelassen. So kündigte die Vereinbarung 2009 zwischen CDU/CSU und FDP nicht zuletzt eine „kritische Überprüfung“ der durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) im Jahr zuvor durch die GroKo I durchgeführten ausgedehnten vertragsärztlichen „Honorarreform“ mit „erforderlichen Kurskorrekturen an“ (KOV 2009: 80). War nach dem GKV-WSG insbesondere das Morbiditätsrisiko vollständig auf die Krankenkassenseite übergegangen, der EBM überarbeitet und auf dieser Grundlage ein Euro-Preissystem mit ggf. regionalen Zuschlägen implementiert worden (dazu Orlowski/Wasem 2007: 53ff.), wurden nach Analyse der Wirkungen Anfang 2011 mit dem GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) eine Revision eingezogen (§ 87d SGB V i. d. F. des GKV-FinG), die die fatalen Folgen für die GKV-Ausgabenentwicklung (teilweise) wieder einzufangen suchte („Medizinisch nicht begründbare Ausgabenentwicklungen der sogenannten extrabudgetär zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen werden begrenzt“; Bt-Drs. 17/3040: 2).
Auch wenn die damalige Koalition die zunächst im GKV-FinG vorgesehenen Maßnahmen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens letztlich selbst verwässerte und im GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) ein Jahr später weiter minimierte (Halbe et al. 2012: 44; zum Ganzen auch Knieps/Reiners 2015: 220-224), hatte sie sich mit ihrer Ankündigung im KOV offensichtlich öffentlich zumindest insoweit festgelegt, dass sie daran im Grundsatz nicht mehr vorbeizukommen glaubte.
Die Ampelkoalition verschaffte sich in vergleichbarer Lage mit ihrem Regelungsabsentismus an dieser Stelle freilich auch regierungsintern nicht mehr als einen absehbar verpuffenden temporären Aufschub für fehlende Konsequenz. Die unterlassene Reflektion auf politisches Handeln der Vorgängerkoalition durch die Ampelparteien mag zwar bei den Koalitionsverhandlungen im Herbst 2021 als eine konfliktvermeidende strategische Option angesehen worden sein, sie dürfte aber die im Laufe diesen Jahres zwingend erforderliche adäquate Bearbeitung der desaströsen Ausgabendynamik der GKV keineswegs erleichtern. Während die Koalition vor gut zehn Jahren auf ein GKV-Defizit von 11 Milliarden Euro politisch reagieren musste (Bt-Drs. 17/3040: 1), steht die Ampel vor der Aufgabe, eine kurz- und mittelfristig tragfähige Antwort zu finden auf einen für 2023 weiter anwachsenden historisch vorbildlosen Ausgabenüberhang in Höhe von 17 Milliarden Euro – mehr als ein Beitragssatzpunkt (Klöcker/Specht 2022; Hermann 2021b: 40). Die selbstgebastelte Leerstelle im KOV wird zum koalitionsinternen Bumerang.
Beredtes Beispiel dafür, wie schnell die eigene gesundheitspolitische Konfliktscheu die maßgeblichen Ampelkonstrukteure realpolitisch einholt, gibt das unrühmliche Ende des kurzzeitig Anfang März 2022 vom BMG in Umlauf gebrachten Referentenentwurfs eines GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) ab. Die intensivere Fachdiskussion um die Inhalte des ohnehin zur Schließung der aktuellen GKV-Finanzierungslücke kaum ausreichenden Entwurfs war gerade eröffnet, als die Spitze des Bundesfinanzministeriums medienöffentlich klarstellte, dass es sich bei dem BMG-Entwurf um ein koalitionsintern nicht abgestimmtes reines „Ressortvorhaben“ handele. Insbesondere zu der im Entwurf enthaltenen (dauerhaften) Erhöhung des Bundeszuschusses zur GKV um 5 Milliarden Euro (Art. 1 Nr. 11 GKV-FinStG-E) gebe es „keine Ressortabstimmung“. Selbst über die Höhe des Bundeszuschusses ausschließlich für das kommende Jahr werde erst „im Herbst 2022 entschieden“ (Observer express, 16.03.2022). Deshalb habe das Bundeskanzleramt „den zum Scheitern verurteilten Referentenentwurf gar nicht erst in die Ressortabstimmung gegeben“ (F.A.Z 17.03.2022: 20).
Der BMG konnte sich bei seinem Vorgehen zwar formal sogar auf den KOV stützen, der eine regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses verspricht (KOV 2021: 88; oben Kap. 2). Er teilte daraufhin allerdings öffentlich lediglich noch mit, man werde „rechtzeitig einen wohlüberlegten Gesetzentwurf vorlegen“, der an vier Stellschrauben drehen müsse: „Effizienzreserven im Gesundheitssystem heben, Reserven bei den Krankenkassen nutzen, zusätzliche Bundeszuschüsse gewähren und die Beiträge anheben“ (Interview N Osnabrücker Z, 24.03.2022: 3). Ein Statement, das auf den KOV schon gar nicht mehr rekurriert, dessen Allgemeinheit und Unverbindlichkeit aber gleichzeitig ein charakteristisches Licht auf eine Gesundheitspolitik wirft, die sich viel zu wenig mittel- und längerfristig ausrichtet und an strukturellem Erneuerungsbedarf orientiert. Vielmehr bildet offensichtlich kurzatmige Kostendämpfungspolitik das Ampelmaß der Dinge.
4. Zwischen Tragödie und Farce
Dass die Überlegungen im Ampel-KOV zur „Gesundheitsfinanzierung“ (KOV 2021: 88) angesichts des geerbten GKV-Finanzdesasters ohnehin insgesamt keine befriedigende Antwort darstellen, erschließt sich unschwer bei Durchsicht der wenigen dazu vorgenommenen Festlegungen. Neben der unpräzisen Wiederauflage der Ansage, höhere Beiträge für ALG II-Bezieherinnen und -Bezieher aus Steuermittel zu finanzieren – ab wann, in welchem Umfang? –, wird für die Einnahmenseite ebenso wolkig die erwähnte Regel-Dynamisierung des Bundeszuschusses zur GKV offeriert und ein pauschal-unverbindliches Bekenntnis „zu einer stabilen und verlässlichen Finanzierung“ der GKV abgegeben (KOV 2021: 88).
Ausgabenseitig wird einzig der Arzneimittelbereich adressiert, aber auch hier lediglich eine konkrete Maßnahme angekündigt, die eine kurzfristige Ausgabenreduzierung zur Folge hätte. Vereinbart wurde die Halbierung der Zeitspanne freier Preisgestaltung für pharmazeutische Unternehmen bei patentgeschützten Präparaten von zwölf auf zukünftig sechs Monate (§ 130b Abs. 3a S 2 SGB V). Die, bezogen auf das gesamte erste Jahr, realisierbaren Einsparungen würden sich auf stattliche mehr als 1,3 Milliarden Euro belaufen – allerdings nur, wenn die gesamte Zeitspanne seit Einführung der Regelung im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) 2011 bis zum Ende des letzten Jahrzehnts in den Fokus rückt. Das Einsparvolumen durch die vorgesehene zukünftige Halbierung der freien Preiskalkulation zu Lasten der Solidargemeinschaft wird auf jährlich lediglich 150 Millionen Euro taxiert (Haas et al. 2021: 14; GKV-FinStG-E: Bgr A.III.3). Schließlich führt die Ankündigung, das Preismoratorium für Arzneimittel, das nach geltender Rechtslage Ende diesen Jahres ausläuft (§ 130a Abs. 3a S 1 SGB V), beibehalten zu wollen, (lediglich) zur Vermeidung zusätzlicher weiterer Kostensteigerungen im Arzneimittelsektor, leistet indessen gar keinen originären Beitrag zur Verringerung der akuten GKV-Finanzmisere (s. auch GKV-FinStG: Bgr. A.II.4, wo von einem „Beitrag zur Stabilisierung der Ausgaben für Arzneimittel“ die Rede ist).
Die „anspruchsvolle Aufgabe“ der Ampel-Regierung, die Finanzen der GKV zu „konsolidieren“ (Jesberger/Greß 2021: 17), ist mit diesem Schmalspurprogramm erkennbar ausgeschlossen, der erste realpolitische Versuch – wie gesehen – schon weit vor Parlamentsreife gescheitert. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit erheblich gehaltvolleren Koalitionsabsprachen zur Gesundheits- und Pflegepolitik früherer Bundesregierungen muss damit freilich für die Güte der anstehenden Bewältigung der Aufgabe noch nichts abschließend entschieden sein. Alle acht Vorläuferregierungen der Berliner Republik haben sich in ihren Koalitionsabsprachen ausnahmslos (mehr oder minder prätentiös) mit dem Komplex „GKV-Finanzreform“ beschäftigt.
Eine Blaupause könnten insbesondere die Vorgänge im Vorfeld der Lahnsteiner Strukturreform 1992 abgeben. In ihrem KOV kündigte die kurz nach Herstellung der deutschen Einheit Anfang 1991 bestätigte schwarz-gelbe Koalition explizit auch die Durchführung einer „Reform der Organisations- und Finanzstrukturen“ der GKV an (KOV 1991: 39). Seit Mitte 1990 deutete sich mit zunehmender Dynamik an, dass das gegen massiven politischen und öffentlichen Widerstand durchgesetzte, erst Anfang 1989 in Kraft getretene und zum „Jahrhundertwerk“ überhöhte Gesundheits-Reformgesetz (GRG; BMA Blüm als damals zuständiger GKV-Minister; Knieps/Reiners 2015: 84ff., hier: 85) seine Ziele finanziell wie strukturell nicht annähernd erreichen würde. Der Versuch, primär mit Kostendämpfung („K-Gesetze“; Hermann 2020: Kap. 3 mwNw) auf Strukturprobleme und lang anhaltenden reformpolitischen Absentismus zu reagieren, erwies sich bereits nach gut einem Jahr als obsolet.
Da die damalige Koalition ebenfalls aufgrund divergierender ordnungspolitischer Festlegungen der Partner erkennbar aus eigener Kraft nicht in der Lage war, das Vorhaben der überfälligen Organisations- und Finanzreform im Weiteren gesetzgeberisch erfolgversprechend anzugehen, erfolgte die Realisierung nach längeren Sondierungen schließlich im Herbst des folgenden Jahres in Lahnstein umso fundamentaler mit Hilfe einer großen Sachkoalition (Regierung, SPD-Opposition, Bundesländer; Reiners 1993; Hermann 1993: 23ff.). Es gelang, das GKV-System sowohl (zumindest mittelfristig) zu sanieren als auch aus seiner absurd rückständigen obrigkeitsstaatlichen Erstarrung zu lösen (Knieps/Reiner 2015: 102ff) und mit der Einführung der Wahlfreiheit für (im Wesentlichen) alle Mitglieder ab 1996 die Grundlagen für eine gänzlich neue Systemlogik zu legen, die nicht zuletzt zum gesundheitspolitischen Narrativ für die KOV der folgenden zwei Jahrzehnte werden sollte: Das Leitbild Wahlfreiheit für mündige Bürger in der Zivilgesellschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, eingebunden in den Aufbau einer „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ in der GKV (Jacobs/Rebscher 2014: 54ff.).
Dass es im Anschluss an diesen historischen Aufschlag alle folgenden Koalitionen unabhängig von ihrer parteipolitischen Couleur gesetzgeberisch an Konsequenz und Stringenz haben fehlen lassen, die gewandelte Systemlogik fundiert zu etablieren (Hermann 2020: Kap. 5), spricht nicht gegen die Einordnung des Lahnstein-Resultats als dem „Wendepunkt in der ordnungspolitischen Gestaltung“ eines bis dahin „durch und durch administrativ-korporatistisch organisierten Systems“ (Cassel et al. 2014: V). Aus heutiger Perspektive – eine Generation nach Lahnstein – kann ergänzt werden: Das GSG gibt auch weiterhin das einzige GKV-Gesetzgebungswerk in der gesamten Bonner und Berliner Republikhistorie mit de facto dauerhaft strukturtransformierender Dimension ab („geradezu ‚revolutionär‘“; ebd.).
Alle KOV bis ins letzte Jahrzehnt hinein, an denen die heutigen Ampelpartner in unterschiedlicher Gestalt stets beteiligt waren, sprühen geradezu von programmatischem Innovationsgeist wie Handlungsdrang, wenn es um „mehr Wettbewerb“ (rot-grün; KOV 1998: 29), „wettbewerbliche Ausrichtung“ (schwarz-rot; KOV 2005: 87) oder gar den Wettbewerb als „ordnendes Prinzip mit den Zielen der Vielfalt, der Effizienz und der Qualität der Versorgung“ (schwarz-gelb; KOV 2009: 77) geht.
Der zweite rot-grüne KOV 2002 verdichtete diesen roten Faden umsetzungsorientiert so weit, dass dort explizit der „Ausbau der solidarischen Wettbewerbsordnung“ angekündigt und konkret die Weiterentwicklung der Organisationen der Leistungserbringer zu „wirksamen Dienstleistern“, die Modifizierung des Kontrahierungszwangs in einem „System der Einzelverträge“, in das „Krankenhäuser, medizinische Zentren und andere Gesundheitsberufe“ einbezogen werden oder eine Anpassung des Sicherstellungsauftrags „entsprechend den veränderten Bedingungen“ annonciert wurden (KOV 2002: 54).
Damit wurde die ansonsten reproduzierte Ankündigungsrhetorik erkennbar zu Gunsten deutlich umrissenen operativen Gestaltungswillens verlassen. Hier spiegelt sich fraglos die ambitionierteste Vereinbarung zum Gesundheitsbereich in der Nach-Lahnstein-Ära. Die, gemessen an der Ankündigungsdichte, letztlich unbefriedigend dürren Resultate in der Operationalisierung bis zum (vorzeitigen) Ende der Koalition im Frühsommer 2005 (zentral GKV-Modernisierungsgesetz – GMG – Anfang 2004), waren hier ebenfalls Resultat der Verhandlungen einer breiten Sachkoalition der Bundesregierung mit der CDU/CSU-Opposition (anfangs auch noch inklusive FDP) und der von ihr parteipolitisch gestellten Bundesratsmehrheit.
Während der ursprüngliche GMG-Entwurf ganz im Geiste des KOV etwa den Übergang zu einem grundsätzlichen Einzelvertragssystem zwischen niedergelassenen Fachärzten und Krankenkassen sowie die Verlagerung des Sicherstellungsauftrags auf diese vorsah (Hiddemann/Muckel 2004: 8; Knieps 2003: 12f.), fiel der ordnungspolitisch ambitionierte Impetus in diesem Fall den übergreifenden Konsensverhandlungen zum Opfer (Orlowski/Wasem 2003: 3). Der originäre gesundheitspolitische Reformwille versandete im parteitaktischen Konfrontationsmodus aller Beteiligten.
Im Ergebnis blieb das GMG ebenso wie alle einschlägige Gesetzgebung in Umsetzung der gesundheitspolitischen Wettbewerbsrhetorik in den KOV vor ihm und ab 2005 ordnungspolitisch diffus. Der programmatische Fixpunkt Solidarische Wettbewerbsordnung erwies sich – bis zum KOV der GroKo II 2013 (KOV 2013: 76) – als langlebiges ordnungspolitisches Narrativ ohne (halbwegs) konsequente gesetzgeberische Einlösung (Hermann 2020, Kap. 5).
Erst in der KOV der GroKo III 2018 findet sich zu diesem über die Zeit zunehmend zum Ritual erstarrten Bekenntnis zu mehr Wettbewerb um Qualität und Effizienz in der Versorgung kein Wort mehr. Dort kam dann Krankenkassen bei der aktiven Mitgestaltung einer differenzierten Versorgungslandschaft sogleich überhaupt keine eigenständige Rolle mehr zu (KOV 2018: 95-102). Das ordnungspolitische GKV-Koordinatensystem verschob sich – ganz unabhängig von den ab März 2020 notwendig werdenden Maßnahmen zur Bekämpfung und besseren Bewältigung der Corona-Pandemie (Schlegel et al. 2022: 209ff.) – subkutan in eine neue Richtung, hin zur Systemsteuerung des „exekutiven Dirigismus“ (Graf/Hermann 2019; Hermann 2020). Dessen gesetzgeberischer Hyperaktionismus mündete freilich letztlich pfeilgerade in dem von der Ampelkoalition übernommenen, bisher unbearbeitet gebliebenen finanzpolitischen Desaster (Hermann 2021a).
Auch wenn die vor Zeiten konstatierte Maxime stimmen sollte, wonach sich Geschichte nicht wiederhole – und wenn doch, dann „das andere Mal als Farce“ (Marx 1975: 115) –, gibt die Dimension des gleichzeitigen Sanierungs- wie Strukturierungsbedarfs 1992 und 2022 in der GKV durchaus handfeste Parallelen frei. Als Erkenntnis aus dem Skizzierten kann deshalb mitgenommen werden, dass über eine klare Problemanalyse und -adressierung hinaus nachhaltige Lösungen eine fundierte Novellierungskonzeption und einen parlamentarisch möglichst breit verankerten politischen Handlungswillen voraussetzen. Die vermeintliche Alternative des Muddling through kann allenfalls einen strohfeuerartigen Mix altbackener Kostendämpfungsinstrumente offerieren.
5. Wenn Du mal nicht weiter weißt …
Ähnliches lässt sich im Resümee für die gleichfalls prominente Behandlung des Krankenhaussektors in den KOV der Berliner Republik festhalten. Die für die heutige Systemaufstellung bei Finanzierung und Planung grundlegenden Weichenstellungen fußen weiterhin auf dem mittlerweile ein halbes Jahrhundert alten Krankhausfinanzierungsgesetz (KHG) aus dem Sommer 1972, hinsichtlich des Vergütungssystems auf der Grundentscheidung des Lahnstein-GSG, den tagesgleichen Pflegesatz „so schnell wie möglich“ durch eine leistungsorientierte Vergütung insbesondere über Fallpauschalen abzulösen (Bt-Drs. 12/3608: 70), sowie der ebenfalls (letztlich) fraktionsübergreifend verabschiedeten GKV-Gesundheitsreform 2000 (GKV-GRG 2000) aus den Anfängen der ersten rot-grünen Koalition 1999.
Die dort gemäß der grundsätzlichen Ankündigung im KOV (KOV 1998: 30) beschlossene Einführung eines durchgängigen, leistungsorientierten und pauschalierten Entgeltsystems ab 2003 (§ 17b KHG i. d. F. des GKV-GRG 2000) hat nach einer (zu) langen Übergangsphase („Konvergenz“) schließlich ab 2010 die DRG-basierte Vergütung für die Erlöse der Krankenhäuser im somatischen Bereich durchgängig eingeführt. Das neue Vergütungssystem versprach für gleiche Leistung das gleiche Geld. Erklärtes Ziel war es, dass Krankenhäuser Prozesse und Angebote optimieren und diejenigen Kliniken dauerhaft am Markt verbleiben, die die notwendigen Innovationen und Rationalisierungen konsequent angingen. Spezialisierung und Zentralisierung der stationären Versorgung inklusive der Ablösung medizinisch wie ökonomisch perspektivloser Altstrukturen waren hoch erwünschte Effekte.
Den mit der Einführung der leistungsorientierten Vergütung als komplementärem Element einer Strukturreform gleichzeitig bekundeten Übergang zu einer monistischen Krankenhausfinanzierung (durch die Krankenkassen), wie er auch bereits im Kontext des GSG 1992 festgehalten worden war (Bt-Drs. 12/3930: 5f.), unterstrich ebenso der KOV der rot-grünen Bundesregierung 1998 (KOV 1998: 30). Der Versuch der Umsetzung im GKV-GRG 2000 (Bt-Drs. 14/1245: 56f., 111f.) misslang aber parlamentarisch formal wegen des Widerstands des unionsmajorisierten Bundesrates (Hermann 2007: 109). Einen erneuten Anlauf gab es nicht. Damit war die Implementierung einer konsistenten ordnungspolitischen Konzeption für die Krankenhauslandschaft der Zukunft fehlgeschlagen – was seither geschieht, ist eine Abfolge politischer Ersatzhandlungen.
Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass der erstmals im KOV der GroKo I zu Beginn der 16. Legislaturperiode explizit angekündigte umfassende „ordnungspolitische Rahmen für die Krankenhausversorgung nach dem Ende der Konvergenzphase“ (KOV 2005: 89) auch mehr als 15 Jahre danach zu Beginn der 20. Legislaturperiode weiterhin aussteht.
Scheitern sowie Surrogatpolitik werden in den KOV der Folgezeit behände dokumentiert. Das 2009 verabschiedete Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG) brachte mit Änderungen in der Ermittlung der länderseitigen Investitionskostenförderung (Dettling/Niedziolka 2014: Rz. 6) offensichtlich auch nach Überzeugung der maßgeblichen Akteure keine tragfähige Lösung. Im KOV der GroKo II wird in nicht weniger als 20 Absätzen nochmals ganz exponiert der Änderungsbedarf in der „Krankenhausversorgung“ inklusive Finanzierungs- und Planungsaspekten ausgebreitet (KOV 2013: 78-80), um abschließend die Einsetzung einer „Bund-Länder-Arbeitsgruppe“ zur „Vorbereitung der skizzierten Krankenhausreform“, die „bis Ende 2014 entsprechende Eckpunkte“ erarbeiten sollte, anzukündigen (ebd.: 80). Allerdings ist es bei dieser Ansage geblieben.
Mit der 2016 als Substitut erfolgten Etablierung des Krankenhausstrukturfonds (§ 12 KHG i. d F. des Krankenhausstrukturfondsgesetzes, KHSG), mit dem erstmals Finanzmittel in Höhe von (zunächst) 500 Millionen Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds – also vornehmlich GKV-Beitragszahlermittel – zur Restrukturierung der stationären Versorgungslandschaft eingestellt wurden, offenbarte die GroKo materiell – wenn auch keineswegs offiziell – erstmals den tieferen Grund, der die Implementierung jeden zukunftstauglichen ordnungspolitischen Rahmens letztlich scheitern lassen musste: Die bei ausbleibender Monistik über Jahrzehnte verfestigte mangelhafte Aufgabenerfüllung der Bundesländer bei ihrer rechtlichen Verpflichtung zur ausreichenden Finanzierung der Investitionskosten der (Plan-)Krankenhäuser (§ 8 KHG). In der Berliner Republik kannte die Kurve der länderseitig zur Verfügung gestellten Investitionsmittel nur eine Richtung – kontinuierlich abwärts.
Nominal schrumpften die jährlichen Förderbeträge bundesweit seit der Wiedervereinigung bis 2015 von 3,6 Milliarden Euro auf 2,8 Milliarden Euro, was real einer Halbierung der Finanzmittel entspricht (DKG 2017: 73f.). Der jährliche Investitionsbedarf allein zum Erhalt der Substanz der Plankrankenhäuser liegt annähernd doppelt so hoch; der Nachholbedarf durch permanente Unterfinanzierung erreicht dementsprechend einen prominenten zweistelligen Milliarden-Euro-Betrag (Augurzky et al. 2020: 317 f.; DKG 2017: 8ff.). Vor diesem Hintergrund kommt es eher einer Beschwörungsformel als der Beschreibung eines realen Sachverhalts gleich, wenn die GroKo III 2018 in ihrem KOV festhält: „Die Länderkompetenz in der Krankenhausplanung und die Verpflichtung zur Investitionsfinanzierung bleiben erhalten“ (KOV 2018: 98).
Der mangelhafte ordnungspolitische Rahmen gibt zwischenzeitlich gar kein Koalitionsthema mehr ab (dazu aber Hermann/Mussa 2020: 238ff.). Man kündigte vielmehr 2018 wesentliche Änderungen am Entgeltsystem an, insbesondere durch die Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus der DRG-Systematik (KOV 2018: 99), was faktisch eine partielle Wiedereinführung des selbstkostendeckungsorientierten Regimes vor GSG und GKV-GRG 2000 bedeutet. Die rechtliche Fixierung erfolgte sodann unter dem angesichts der Dimension des Eingriffs abwegigen Leitspruch „Sofortprogramm“ zum 1.1.2019 im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG; Leber/Vogt 2020: 130ff.). Auf eine neue Bund-Länder-AG wollte man gleichwohl nicht verzichten, diesmal zur (ebenfalls ungelösten) Dauerthematik sektorenübergreifende Versorgung – mit freilich ebenso desillusionierendem Ergebnis (s. oben Kap. 1 a. A., Kap. 2 a. E.).
Die Ampelkoalition schließlich setzt operativ entgegen allen offenkundigen Scheiterns über die letzten Legislaturperioden hinweg erneut unbeirrt auf das Format Bildung eines Arbeitskreises und verkündet mit leicht abgewandelter Konnotation die „kurzfristige“ Einsetzung einer Arbeitsgruppe für einen „Bund-Länder-Pakt“, die sie ihrerseits „Regierungskommission“ tauft (KOV 2021: 87, s. oben Kap. 2). Unverdrossen wird diesmal die Erarbeitung von „Leitplanken“ für „die nötigen Reformen“ bei Finanzierung und Planung der Krankenhausversorgung (ebd.) angekündigt – genauso, als gäbe es hier im Hinblick auf die strukturellen Defizite tatsächlich noch irgendein Erkenntnis- und nicht seit langem ein manifestes Umsetzungsproblem.
6. Fazit und Ausblick: Du hast keine Chance, aber nutze sie!
Die Analyse des Ampel-KOV und der Blick auf die acht weiteren KOV der Berliner Republik belegen, dass sich die aktuelle Vereinbarung gesundheits- und pflegepolitisch in weiten Bereichen geradezu frappierend auffällig in Kontinuität mit den Vorläuferfestlegungen befindet. Weit über einhundert Versprechungen und kleinteilig aufgelistete Vorstellungen bilden allerdings den (vorläufigen?) quantitativen Höhepunkt insbesondere in den KOV seit Beginn der großkoalitionären Periode der Berliner Republik. Die Gesundheits- und Pflegepolitik, die Legislatur für Legislatur konkret umgesetzt wurde, orientierte sich freilich stets eher an Opportunitäten als an den Verabredungen und Ankündigungen.
Durchgängig zeigt sich, dass die Exekutive in Gestalt des federführenden BMG den jenseits des „Honeymoons“ (oben Kap. 1) operativ verfolgten gesundheits- oder pflegepolitischen Kurs gegenüber Parteien, Fraktionen und Bundesrat mehr oder minder deutlich dominiert. In der GroKo III kam der Machtwille des BMG hinzu, das tradierte Systemgefüge der Balance zwischen (gemeinsamer) Selbstverwaltung einerseits und direkter zentralstaatlicher Intervention andererseits zugunsten einer exekutiv ausgerichteten Kompetenzordnung massiv zu verschieben (exekutiver Dirigismus). Trotz des nicht zu übersehenden ausnehmend paternalistischen Gehabes in Wortwahl und Formulierung des GroKo-KOV („Wir werden sicherstellen, dass alle auch zukünftig eine gute, flächendeckende medizinische und pflegerische Versorgung von Beginn bis zum Ende ihres Lebens erhalten, …“; KOV 2018: 95) gab es für diese Zuspitzung in der Koalitionsvereinbarung selbst noch keinen augenfälligen Anknüpfungspunkt.
Wie es in Ampelzeiten mit dem exekutiven Dirigismus aus dem BMG weitergeht, darf im Frühjahr 2022 angesichts des von dort – außerhalb eines zunehmend eklektizistischen Corona-Managements – bisher erlebbaren Durchsetzungsdilemmas (oben Kap. 3 a. E.) einstweilen noch als ungeklärt gelten. Sollte das magere Arbeitspapier über „Schwerpunkte in der BMG-Arbeitsplanung 2022“ (BMG 2022) tatsächlich den Maßstab bilden, erübrigt sich die Frage alsbald.
Freilich bedarf es eben ohnehin offenkundig keineswegs eines in einem KOV „vertraglich abgesicherten Regierungsprogramms“ (Schorkopf, oben Kap. 1), um innerhalb der Legislaturperiode davon weit divergierende „Realpolitik“ zu betreiben. So unbestreitbar es allgemeinpolitisch ist, dass „keine Regierung nur das Programm des Koalitionsvertrages (ausführt)“ (Meinel 2022), so gilt diese Feststellung im Hinblick auf die Gesundheits- und Pflegepolitik in der gesamten Berliner Republik gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen – gehäuft – für die ausbleibende Einlösung bedeutsamer koalitionsvertraglicher Vorhaben, zum anderen – sehr viel seltener – für die Realisierung konzeptionell anspruchsvoller (strukturbildender) Projekte, die der KOV (noch) gar nicht kannte. Auch wenn in der Vereinbarung ansatzweise adressiert, war die Organisations- und Finanzreform im damaligen KOV Anfang der 90er Jahre keineswegs als zentrale ordnungs- und steuerungspolitische Weichenstellung für die zukünftige Ausrichtung des gesamten GKV-Systems gedacht, als die sie schließlich mit dem GSG parlamentarisch verabschiedet wurde.
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so spektakulär, verhält es sich mit dem 2010 auf den Weg gebrachten AMNOG. Arzneimittelthemen wurden im schwarz-gelben KOV 2009 zwar durchaus prominent behandelt, Impetus und Intention der Aussagen ließen aber eher ganz andere Maßnahmen erwarten. Jedenfalls dürfte kaum jemand hinter der Formulierung, man wolle die „Überregulierung“ abbauen und den Arzneimittelmarkt „unter patienten-, mittelstandsfreundlichen und wettbewerblichen Kriterien effizient neu“ ordnen (KOV 2009: 79), das Ansinnen vermutet haben, die freie Preisgestaltung der Pharmaindustrie während der Patentlaufzeit eines neuartigen Arzneimittels grundständig zu reglementieren.
Bezeichnend dürfte schließlich sein, dass sich lediglich in einem KOV der Berliner Republik überhaupt die ausdrückliche Annoncierung eines dauerhaft strukturbildenden Reformprojektes findet, das auch (halbwegs zeitnah) tatsächlich zur Umsetzung kam. Indessen ist diese konkrete Kundgabe bereits über 30 Jahre her: die bereits mit Datum (1.6.1992) versehene Ansage eines Gesetzentwurfs zur Einführung der Pflegeversicherung (KOV 1991: 41), wie sie dann 1995 realisiert wurde.
Der KOV 1991 mit insgesamt konzentrierten 15 Ankündigungen für die Gesundheits- und Pflegepolitik der nächsten vier Jahre und die gesundheits- und pflegepolitisch überbordende Detailbesessenheit des Ampel-KOV mit 120 Ansagen, der sich gleichzeitig nirgends dazu versteht, die aufgelaufenen Strukturdefizite im Gesundheitswesen substantiiert anzupacken, für dessen erfolgversprechende Bearbeitung (nicht nur) vom SVR überzeugende Konzepte vorliegen, bilden damit sowohl Anfang und vorläufiges Ende als auch gleichermaßen Klammer und Kontrastprogramm koalitionsseitig formulierter Absichtserklärungen. Während die erste Berliner Koalitionsregierung nach einem guten Jahr spätestens in Lahnstein von den gesundheitspolitischen Realitäten eingeholt (überholt?) wurde, steht für die Ampelkoalition der Realitätsschock freilich erst noch unmittelbar bevor.
Literatur
- Augurzky B/Heger D et al. 2020: Fördermittel aus dem Krankenhausstrukturfonds – Anstoß zur dauerhaften Strukturveränderung? in: Klauber J et al., 315-326
- Becker K B 2018: Stadt, Land, Arzt, F.A.Sonntagszeitung 39, 8
- Bergmann K O/Pauge B/Steinmeyer H-D (Hg.) 2014: Gesamtes Medizinrecht, 2. Aufl., Baden-Baden
- Bergmann R 2010: Artikel 63 (Wahl des Bundeskanzlers), in: Hömig D, 409-411
- BMG 2022: Ausgewählte politische Schwerpunkte in der Arbeitsplanung 2022, Stand: 8.3.2022
- Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2020: Fortschrittsbericht „Sektorenübergreifende Versorgung“, o.O.
- Cassel D/Jacobs K et al. 2014: Vorwort der Herausgeber, in: dies. et al.: V-VII
- Cassel D/Jacobs K et al. (Hg.) 2014: Solidarische Wettbewerbsordnung, Heidelberg
- Dettling H-U/Niedziolka K 2014: § 4 KHG, in: Dettling H-U/Gerlach A, 64-68
- Dettling H-U/Gerlach A (Hg.) 2014: Krankenhausrecht Kommentar, München
- DKG (Deutsche Krankenhaus Gesellschaft) 2017: Bestandsaufnahme zur Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung in den Bundesländern – Stand: März 2017 –
- Doty M/Tikkanen R S et al. 2021: Income-related inequality in affordability and access to primary care in eleven high-income countries, Health Affairs 40/1, www.doi.org./10.1377/hlthaff.2020.01566
- Graf J/Hermann C 2019: Exekutiver Dirigismus – Die „Methode Spahn“ am Beispiel des Innovationsfonds, Observer Gesundheit 8.10.2019, https://observer-gesundheit.de/exekutiver-dirigismus-die-methode-spahn-am-beispiel-des-innovationsfonds/
- Haas A/Tebinka-Olbrich A et al. 2021: 10 Jahre AMNOG: Eine Erfolgsgeschichte mit angezogener Handbremse, Gesundheits- und Sozialpolitik 1, 13-22
- Halbe B/Orlowski U et al. 2012: Versorgungsstrukturgesetz. Auswirkungen auf die Praxis, Heidelberg
- Heinig H M/Schorkopf F (Hg.) 2019: 70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Göttingen
- Hermann C 1993: Das Gesundheits-Strukturgesetz – Ein Überblick zu Ursachen, Chronologie und wesentlichen Inhalten, Kompaß 1, 21-29
- Hermann C 2007: Monistik ante Portas – Notwendigkeiten und Wege des Umstiegs auf eine effizientere Krankenhausfinanzierung, in: Klauber J et al., 101-116
- Hermann C 2020: Narrativ im Kaffeesatz oder das GKV-System 2020 auf der Rutschbahn des exekutiven Dirigismus. Observer Gesundheit – Politische Analysen, 17.9.2020, https://observer-gesundheit.de/narrativ-im-kaffeesatz-oder-das-gkv-system-2020-auf-der-rutschbahn-des-exekutiven-dirigismus/
- Hermann C 2021a: Spahns exekutiver Dirigismus vor dem Offenbarungseid. Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) als Politiksubstrat, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 6.1.2021, https://observer-gesundheit.de/spahns-exekutiver-dirigismus-vor-dem-offenbarungseid/
- Hermann C 2021b: Vernetzung und Vertragsalternativen verbessern die Versorgung oder: Versorgungsstrukturierung in der Dauerwarteschleife, Gesundheits- und Sozialpolitik 6, 37-43
- Hermann C/Mussa N 2020: Investitionsfinanzierung und ineffiziente Krankenhausstrukturen, in: Klauber J et al., 231-242
- Hess R 2017: Die Honorargestaltung im Vertragsarztrecht, in: Schnapp F/Wigge P, 535-582
- Hiddemann T-C/Muckel S 2004: Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, Neue Juristische Wochenschrift 1-2, 7-13
- Hömig D (Hg.) 2010: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl., Baden-Baden
- Jacobs K/Rebscher H 2014: Meilensteine auf dem Weg zur Solidarischen Wettbewerbsordnung, in: Cassel et al., 45-73
- Jesberger C/Greß S 2021: Finanzierungsoptionen für die GKV nach der Bundestagswahl, Gesundheits- und Sozialpolitik 4-5, 12-18
- Kannenberg O/Schindler D/Schüttemeyer S 2021: Koalitionsverhandlungen im Beziehungsgeflecht von Fraktion und Partei, Berlin
- KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung) (Hg.) 2021: Honorarbericht Quartal 4/2020, Berlin
- Kingreen T 2021: Ein modernes Vergütungssystem für eine integrierte Krankenversicherungsordnung, Monitor Versorgungsforschung 4, 72-75
- Klauber J/Robra B-P/Schellschmidt H (Hg.) 2007: Krankenhaus-Report 2006. Schwerpunkt: Krankenhausmarkt im Umbruch, Stuttgart
- Klauber J/Geraedts M et al. (Hg.) 2020: Krankenhaus-Report 2020. Finanzierung und Vergütung am Scheideweg, Berlin
- Klöckner J/Specht F 2022: 17 Milliarden Euro: Krankenkassen warnen vor hohem Defizit, Handelsblatt 28.2.2022, 10
- Knieps F 2003: Ein neuer Anlauf zur Gesundheitsreform, Gesundheits- und Sozialpolitik 5-6, 10-16
- Knieps F 2021: Mehr Fortschritt wagen – Der Vertrag der Ampel-Koalition zwischen vorsichtiger Erneuerung und rasendem Stillstand, Gesundheits- und Sozialpolitik 6, 6-11
- Knieps F/Reiners H 2015: Gesundheitsreformen in Deutschland. Geschichte – Intentionen – Kontroversen, Bern
- KOMV 2019: Empfehlungen für ein modernes Vergütungssystem in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Bericht der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem, Berlin
- Koppenfels-Spies K von 2014: Überblick über das Gebührenrecht nach GOÄ/GOZ, in: Bergmann K O et al., 1616-1622
- KOV 1991: Koalitionsvereinbarung für die 12. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zwischen CDU, CSU und FDP, 16.1.1991
- KOV 1998: Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 20.10.1998
- KOV 2002: Koalitionsvertrag 2002-2006: Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit. SPD, Bündnis 90/Die Grünen, 16.10.2002
- KOV 2005: Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 11.11.2005
- KOV 2009: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. 17. Legislaturperiode, 16.10.2009
- KOV 2013: Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, 16.12.2013
- KOV 2018: Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 12.3.2018
- KOV 2021: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, 24.11.2021
- Leber W/Vogt C 2020: Reformschwerpunkt Pflege: Pflegepersonaluntergrenzen und DRG-Pflege-Split, in: Klauber J et al., 111-144
- Marx K 1852/1975: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx K/Engels F: Werke Bd. 8, Berlin, 111-207
- Meinel F 2019: Vertrauensfrage – Zur Krise des heutigen Parlamentarismus –, München
- Meinel F 2022: Die Vertrauensfrage des Oppositionsführers, F.A.Z. 30.3.2022, 11
- Meyn K-U 2001: Art. 65 (Richtlinienkompetenz, Ressortprinzip, Kollegialprinzip), in: Münch I von/Kunig P (Hg.), 1109-1124
- Münch I von/Kunig P (Hg.) 2001: Grundgesetz-Kommentar. Bd. 2, 5. Aufl., München
- Orlowski U/Wasem J 2003: Gesundheitsreform 2004. GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), Heidelberg
- Orlowski U/Wasem J 2007: Gesundheitsreform 2007 (GKV-WSG). Änderungen und Auswirkungen auf einen Blick, Heidelberg u. a.
- Reiners H 1993: Das Gesundheitsstrukturgesetz – „Ein Hauch von Sozialgeschichte“?, Jahrbuch für Kritische Medizin 20, Hamburg, 21-53
- Schlegel R/Meßling M/Bockholdt F 2022: Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, 2. Aufl., München
- Schmidt M G 2004: Wörterbuch zur Politik, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart
- Schnapp F/Wigge P (Hg.) 2017: Handbuch des Vertragsarztrechts. Das gesamte Kassenarztrecht, 3. Aufl. München
- Schorkopf F 2019: Kanzlerdemokratie und der Ort des Politischen, in: Heinig H M/Schorkopf F, 165-176
- Sobiech-Eruhimoric B/Martin D 2021: Sind Terminservicestellen das richtige Instrument zur Reduzierung von Wartezeiten auf einen Facharzttermin?, Gesundheits- und Sozialpolitik 2, 25-35
- SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP 2021: Ergebnis der Sondierungen, 15.10.2021
- SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) 2018: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung, Gutachten o.O.
- Vehrkamp R/Matthieß T 2018: Versprochen wird nicht gebrochen, in: Einwurf 1, 1-8
- Vehrkamp R/Matthieß T 2021: Versprechen gehalten – Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der GroKo 2018-21, in: Einwurf 3, 1-8
Alle politischen Analysen ansehen