02.09.2021
Von Gesundheitsmodellen und Geschmeidigkeit
Zur Replik von Helmut Hildebrandt auf die Analyse der „grünen Gesundheitsregionen“ von Christopher Hermann
Dr. Christopher Hermann
Applaus für Helmut Hildebrandt! Er verspricht in seinem Beitrag im Observer Gesundheit unter der Überschrift „‚Weiter so‘ und alles wird gut?“ eine „Replik“, also eine Entgegnung, eine Gegeneinrede auf meine Anmerkungen im Observer Gesundheit über die „Schöne neue grüne Versorgungswelt durch ‚Gesundheitsregionen‘“. Mit zunehmender Lektüre reibt man sich freilich unwillkürlich die Augen und wird an Brechts „Guten Menschen von Sezuan“ erinnert: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
1. „Weiter so“-Apologet?
In meiner Analyse würde ich – so Hildebrandts (im Folgenden H.) Fazit gleich zu Beginn – „erstaunlicherweise selbst zum Verfechter des ‚Weiter so‘, ohne neue Perspektiven für die zentralen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte (!) aufzuzeigen“ (1 (Replik-Ausdruck), im Folgenden: Seitenangabe; Einschub nur hier). H. unterschlägt dabei geflissentlich den zweiten Teil der Überschrift mit ihrer für den Beitrag unschwer als untersuchungsleitend zu identifizierenden alternativ aufgebrauten Fragestellung „Paradigmenwechsel oder nur neuer Wein in alten Schläuchen?“. Auf dieses Kontrastprogramm bezogen versuche ich, Antworten zu geben. Diese mögen H. – unschwer erkennbar in seiner „Replik“ – an vielen Stellen nicht behagen. Hinsichtlich thematisch hier gar nicht gestellter Aufgaben etwa nach dem Motto „Hermanns Erzählungen für die bessere Gesundheitsversorgung für die nächsten Jahrzehnte!“ kann man schwerlich findig werden.
Aber selbst unterstellt, Ziel der Übung wäre es tatsächlich gewesen, im wesentlichen Perspektiven für die Gesundheitsversorgung in Deutschland für die – bescheidener formuliert, aber zumindest ansatzweise überschaubar – nächste Dekade aufzuzeigen: Warum mit (unterstellter) Verfehlung eines solchen Vorhabens unmittelbar das zweifelhafte Label „Verfechter des ‚Weiter so‘“ verliehen sein soll, erschließt sich logisch nicht. Dies mag H. frei assoziierend gerne so sehen wollen. Einen Beleg für sein Verdikt liefert er trotz vieler Seiten Text nicht. Mein Beitrag selbst gibt dazu einfach nichts her.
Warum sollte auch jemand, der angesichts eines ambitioniert angelegten Konzepts zur Neuausrichtung der bundesdeutschen Versorgungslandschaft mit dem spektakulären Anspruch, innerhalb der kommenden Legislaturperiode des Bundestages, nämlich „bis zum Jahr 2025 10% der Bevölkerung“ in „Gesundheitsregionen“ zu versorgen, also gut 8 Millionen Menschen, und bereits bis „2030 25 % der deutschen (!?) Bevölkerung“ (Einschub nur hier), also rund 20 Millionen Menschen (Bt-Drs. 19/21881: 3; Hildebrandt et al. 2020: 36), auf eklatante Inkonsistenzen und Ungereimtheiten des Vorhabens aufmerksam macht, zudem mehr Praxistauglichkeit und Realitätsgehalt anmahnt, dadurch quasi automatisch zum „Verfechter des ‚Weiter so‘“ mutieren?
2. Scheindebatte
Bei näherem Hinsehen fußt das von H. vergebene zweifelhafte Etikett eines Lordsiegelbewahrers offensichtlich auf dem in seiner „Replik“ konstruierten angeblichen Gegensatz in seinen inhaltlichen Positionen einerseits und denen des Verfassers dieser Zeilen andererseits, wenn es um den zukünftigen ordnungspolitischen Handlungsrahmen für Krankenkassen im gesundheitlichen Versorgungsgeschehen geht. Im Anschluss an die von H. formulierte primäre Forderung, eine Neuausrichtung der „heutigen Geschäftsmodelle der Leistungserbringer und der Industrie“ in der Weise zu initiieren, „dass gesellschaftlich gewünschter Gesundheitsnutzen – gerade auch für die vulnerableren Bevölkerungsgruppen – entsteht“ (2), stellt er die Frage, ob „eine Krankenkasse allein Geschäftsmodelle verändern“ könne, beleuchtet diese Fragestellung ausgiebig am „Beispiel Kinzigtal“ (3) und kommt schließlich zu dem Resümee, dass „eine Änderung des Businessmodells der Leistungserbringer quer über alle Sektoren“ bei den Krankenkassen einen „größeren Umstieg“ brauche (5).
Hinsichtlich meiner Position geht H. dabei stillschweigend von der Annahme aus, Verfechter der Gegenposition einer „Kinzigtal-Lösung“, also eines kassenspezifischen, selektivvertraglichen Vorgehens zu sein. Unerfindlich bleibt, warum H. sich hier derart bemüht, obwohl sich in meinem zugrundeliegenden Text selbst überhaupt kein entsprechender Anhalt findet. Dies schon deshalb nicht, da dazu im Kontext jeder Anlass fehlt. Die damit aufgemachte Scheindebatte lenkt einzig vom eigentlichen Thema Gesundheitsregionenkonzept ab.
Gefordert sind vielmehr Argumente des Für und Wider bei der Beurteilung der Konzeption von Bündnis 90/Die Grünen, wie sie sich im Ansatz im Programm für die anstehende Bundestagswahl findet und prominent insbesondere zum einen im erwähnten Antrag der Bundestagsfraktion, zu dem es nicht zuletzt erst im Frühjahr eine eigene prominent besetzte Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags gab (näher in meinem Beitrag Kap. 3), zum anderen in der eine Art ideell-konzeptionellen Überbau zum Antrag bildenden Ausarbeitung eines 19-köpfigen Autorenkollektivs aus dem gesundheits- und pflegewissenschaftlichen Umfeld, zu dem wesentlich H. selbst gehört (Hildebrandt et al. 2020). Damit setzt sich mein Beitrag dezidiert auseinander
- unter der Headline „Alternativwelt light“ (Kap. 4), wenn es vornehmlich um den Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen geht,
- unter dem Titel „Alternativwelt konkret“ (Kap. 5), wenn es um die Einlassung des Autorenkollektivs geht.
Zudem werden wegen ihres übergeordneten Charakters für die Konzeption zum einen die Thematik Allgemeinverbindlichkeit versus Freiwilligkeit des Beitritts für Versicherte und Leistungserbringer bei Etablierung einer Gesundheitsregion („freiwilliger Zwang“, Kap. 6), zum anderen das spezielle Finanzierungsregime („quere Finanzierungslogik“, Kap. 7) näher betrachtet.
Der als „Replik“ darauf firmierende Text von H. liefert keine systematische Befassung. Er geht auf wesentliche der erörterten konzeptionell-normativen Schwachstellen des vorliegenden Gesundheitsregionenkonzepts lediglich sporadisch ein und wirft gleichzeitig für Lesende nur schwer als solche identifizierbare argumentative Nebelkerzen. So benennt H. einen vermeintlichen Gebrauch von (überholtem) Quellenmaterial, das in meinem Beitrag aber überhaupt nicht in Bezug genommen ist („Welt der Krankenversicherung“; 10), bemängelt eine angebliche Vermischung der Überlegungen der Autorengruppe mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (ebd.) und behauptet fälschlicherweise, „die Erörterung der weiterführenden Diskussion im ‚Observer Gesundheit‘“ von Anfang diesen Jahres werde nicht zur Kenntnis genommen (ebd.). Nicht zuletzt erfolgt eine dilatorisch-ignorante Einordnung der Alternativen Regelversorgung im deutschen Südwesten, wie sie seit 2008 von der AOK Baden-Württemberg, dem Hausärzteverband und Medi Baden-Württemberg mit weiteren regionalen Partnern aufgebaut wird. Sie sei, so die faktenresistente Aburteilung, „letztlich doch nur unter Mitnahme von Sondereffekten refinanzierbar“ (6 f.). Die nachhaltig positiven Ergebnisse der von Beginn an kontinuierlich erfolgten Begleitevaluationen von Hausarztvertrag und (zunehmend mehr) angegliederten Facharztverträgen in Bezug auf Qualität, Effizienz und Strukturierung der Versorgung werden schlicht negiert (dazu aber schon insb. Gerlach/Szecsenyi 2013 und zuletzt Universitätsklinikum Heidelberg/Goethe-Universität Frankfurt a.M. 2020).
3. Benchmark USA und Kinzigtal?
H. referiert mit Blick auf eine Vorbildfunktion für Deutschland ausgiebig über neuere Tendenzen im Gesundheitssystem der USA (2 f.), dem, wie nicht zuletzt Bernie Sanders feststellt, „teuersten, bürokratischsten, verschwenderischsten und ineffektivsten der Welt“ (Sanders 2017: 278). Wie fragwürdig eine Übertragbarkeit dortiger gesundheitspolitischer Trends oder gar die Ziehung von Analogieschlüssen zu einer (antizipierten) Situation der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist mit seiner im Vergleich zu den USA völlig andersartigen sozialstaatlichen Tradition und verfassungsrechtlicher Garantie des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG), das Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung gleichermaßen bindet (für alle: Hesse 1990: Rdn. 210 ff.; Jarass 2020: Art. 20 Rdn. 153 ff., 155), schimmert bei H. allenfalls versteckt hier und dort durch. Jedenfalls ist in der Bundesrepublik, wie das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung zum Risikostrukturausgleich (RSA) aus dem Jahr 2005 betont, der Schutz im Krankheitsfall „in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates“ (BVerfGE 113, 167 ff., Rdn. 128).
Sein Vorgehen verbindet H.damit, für das als „Experimentierlabor“ (5) bezeichnete Modell Gesundes Kinzigtal, an dessen Aufbau er über Jahre prominent beteiligt war, in Anspruch zu nehmen, dort „Elemente“ vorweggenommen zu haben, „die dann wenige Jahre später ab 2008 unter der Obama-Administration mit den ‚Accountable Care Organizations‘ (ACOs) in Gang gesetzt wurden“ (7). Ob der nachdrückliche Bezug auf eine Vorreiterfunktion der ACO-Etablierung in den USA für die Zukunft des bundesdeutschen Gesundheitswesens angesichts der dazu dokumentierten durchaus bescheidenen Ergebnisse insbesondere hinsichtlich der Ausgaben- und Qualitätsentwicklung selbst unter den spezifischen Bedingungen des US-Gesundheitsmarktes (Überblick bei: Wilson et al. 2020: v. a. 136; s. auch schon Schulte et al. 2017: 540) tatsächlich belastbar ist, darf freilich bezweifelt werden. Jedenfalls schwingen bei einer solchen Sichtweise viel Vision und deutlich weniger Evidenzbasierung mit.
Umfänglich ausladend fällt in der „Replik“ auch der Rekurs auf das Kinzigtal-Modell aus (3-6). Es muss mangels vorzeigbar vergleichbarer Projekte auch 16 Jahre nach seinem Start, an dem der Verfasser dieser Zeilen, wie H. nebenbei richtig bemerkt, nicht ganz unbeteiligt war (3), weiterhin als Benchmark für eine vermeintlich erfolgreiche populationsbezogene integrierte Versorgung in Deutschland herhalten. H. konstatiert, dass „Experimentierlabor“ Gesundes Kinzigtal habe gezeigt, „was unter den Bedingungen einer Sonderlösung möglich“ sei (5).
Und was meint er damit? „Trotz der schon viel weitreichenderen Denke“ sei, so H., die Arbeit dort „noch sehr an der Arztzentrierung unseres Gesundheitswesens orientiert“ gewesen; die Integration anderer Berufsgruppen sei „nur partiell“ erfolgt und die „des Krankenhauses“ (!) sei „ebenfalls weit unter den Möglichkeiten“ geblieben. Zudem stecke die „digitale Integration der anderen Berufsgruppen“ und von Patienten „ebenfalls – trotz aller Investitionen – noch in den Anfängen“ (ebd.). Im Weiteren sei es im gesamten Projektzeitraum von eineinhalb Jahrzehnten weder gelungen, die Zahl der teilnehmenden Arztpraxen „im erwarteten Umfang“ zu steigern noch sei es erreicht worden, dass trotz „Sichtbarkeit des Nutzens für die Patienten“ weitere Krankenkassen „zügig dazukommen“ (4).
Wie H. neben aller verbrämten Ausdrucksweise bei einer solchen im Kern desaströsen Bilanz von mehr als 15 Jahren intensiver Aufbau- und Entwicklungsarbeit im Anschluss die Metapher vom „halbvollen Glas“ bemühen kann, wobei er dabei die „halbvolle Betrachtung des Glases“ vorziehe (5), sei dahingestellt. Er lässt einfach unter den Tisch fallen, dass Gesundes Kinzigtal leistungserbringerseitig von Beginn an ein rein arztgetriebenes Projekt bildet, nicht zuletzt aus einem bereits Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts entstandenen regionalen Ärztenetz hervorging, und über diesen Status grundlegend nie hinausgekommen ist.
Waren anfangs mehr als 40 Arztpraxen beteiligt, liegt die Anzahl Anfang 2021 bei 28. Von den rund 30.000 potenziell teilnahmeberechtigten Versicherten konnten nie nennenswert mehr als 10.000 aktiv eingebunden werden, 2021 sind es rund 8.000 (Schubert et al. 2021: 466; Staeck/Gerlof 2021). Eine 10-Jahres-Evaluation (2006 bis 2015) zur Entwicklung der Versorgungsqualität im Kinzigtal einerseits und in 13 Vergleichsregionen andererseits (Schubert et al. 2021) wird von H. nur beiläufig mit dürren Worten erwähnt. Er meint unter Verweis auf die Studie einzig, im Kinzigtal seien „Bruttoeinsparungen … ohne Qualitätsabsenkung (!) gegenüber der Regelversorgung“ erzielt worden (5; Einschub nur hier). Der ansonsten stets betonte „Return in höherem Gesundheitserfolg“ für teilnehmende Versicherte (Hildebrandt et al. 2020: 22 u. ö.) bildet auf einmal offenbar keinen zentralen Zielwert mehr.
Die Evaluationsstudie fokussiert anhand der Entwicklung von insgesamt 101 Qualitätsindikatoren auf die Gesundheitsversorgung der Versicherten, Prävention und Behandlung chronischer Erkrankungen. Sie dokumentiert für die einbezogene Dekade bei 88 dieser Indikatoren keinen Hinweis auf einen relevanten Unterschied, bei sechs eine Signifikanz zugunsten, bei sieben zuungunsten des Kinzigtals. Als Fazit stellen die Evaluierenden fest, dass sich über die zehn Jahre „insgesamt kein Hinweis“ auf eine gegenüber den „Kontrollregionen relevante (positiv wie negativ) abweichende Entwicklung der Versorgungsqualität“ ergibt. Die „angestrebte Verbesserung der Versorgungsqualität war nicht nachweisbar“ (Schubert et al. 2021: 466 ff., 470).
Soweit H. bei seiner gleichwohl „Halbvoll“-Bilanzierung als wesentlichen Hemmschuh für eine vorteilhaftere Entwicklung benennt, die Regelversorgung habe für die Akteure im Kinzigtal „doch immer wieder verunsichernd gewirkt“ (4), „durch die dann später ins Spiel gekommene“ HZV und die Facharztverträge wäre „die Verunsicherung sogar noch größer“ geworden, was schließlich auch dazu geführt habe, dass „ein Versuch, die Vergütung der Ärzte durch die Kassenärztlichen Vereinigungen auf die Direktvergütung durch ‚Gesundes Kinzigtal‘ umzustellen, scheiterte“ (ebd.), kann damit das Versagen des Modells beim Qualitätsmanagement ernsthaft nicht erklärt werden. Im Gegenteil: Das Projekt hatte gerade durch die nachhaltige Strategie des kassenseitig primären Vertragspartners zum Aufbau einer Alternativen Regelversorgung in Baden-Württemberg jahrelang ausgesprochen opportune Umfeldbedingungen. Die parallel immer wieder fehlgeschlagenen Versuche der Duplizierung eines populationsbezogenen Vollversorgungsprojektes in anderen Teilen der Republik unterstreichen die überaus vorteilhaften Konditionen nochmals ausdrücklich.
Unabhängig davon umgeht H. auch jede Befassung mit einem weiteren Hinweis. Es geht um die eigentlich naheliegende Frage, wie ein in einem absolut ländlich geprägten, abgeschiedenen Mittelgebirgstal unter speziellen Bedingungen zeitweise leidlich funktionierendes Modell die Referenz für die populationsbezogene Skalierung integrierter Versorgungsstrukturen auf bundesrepublikanischer Niveauebene abgeben können soll? Sowohl im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als auch beim Autorenkollektiv wird dies wiederholt suggeriert (Bt-Drs. 19/21881: 5; Hildebrandt et al. 2020: 7, 51 u. ö.) – eine Monstranz ohne Kleider.
4. Politisch schlüssige Gegenstrategie?
Die Gegenstrategie zum hartnäckigen Ausbleiben vermehrter integrierter Versorgungsprojekte besteht im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zunächst darin, ein „deutliches Signal des Gesetzgebers“ zur „Priorisierung eines strategischen Aufbruchs für mehr Kooperation, Vernetzung und Koordination in der Versorgung“ setzen zu wollen: Integrierte Versorgung als „politisch priorisierte Reformalternative“ mit der erwähnten Zielmarke in einem ersten Schritt bis Mitte des Jahrzehnts 10% der Bevölkerung über entsprechende Verträge zu versorgen (Bt-Drs. 19/21881: 3, 5). Eine solche Absicht als politische Ansage lässt sich in der Tat, wie in meinem Beitrag gezeigt (v. a. Kap. 3), grundsätzlich trefflich nachvollziehen. Das Autorenkollektiv und nunmehr in seiner „Replik“ erneut H. formulieren deutlich prononcierter: „Die Integrierte Versorgung muss zur ‚Default‘-Lösung avancieren, zum Standard werden“ (5; Hildebrandt et al. 2020: 41).
Mit solchen geradezu ultimativen Aussagen werden freilich Anforderungen und Erwartungen an einen vorzustellenden operativen Regelungskanon zur – kurzfristigen (!) – Implementierung des verfolgten Ansatzes drastisch gesteigert. Wie sehen die Eckpunkte für den Masterplan aus zur alsbaldigen Transformation zentraler Elemente des tradierten Regelversorgungssystems? Welche (veränderte) Rolle und Funktion kommt Akteuren und Institutionen im Konzept Gesundheitsregionen zu? Wie modelliert sich eine neue Rahmenordnung formell und materiell, die die Beteiligten auf Leistungserbringer- wie Leistungsträgerseite irgendwie aus der wohlbekannten „kollektiven Hängematte“ des bundesdeutschen Status quo (K.-H. Schönbach) treiben müsste?
Ein bunter Strauß von Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten der hierzu vorliegenden Antworten sowohl von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Bundestagsantrag als auch des Autorenkollektivs wird in meinem Beitrag aufgeblättert (im einzelnen Kap. 4 bis 7). Er wird auch nicht kleiner, wenn H. nunmehr auf eine erst seit kurzem verfügbare sog. „Endfassung“ des Autorenkollektivs (Hildebrandt et al. 2021) verweist (10). Ein wenig mehr Prosa bei unveränderter konzeptionell-operativer Grundierung liefert kein verändertes Ergebnis. H. argumentiert denn auch in seiner „Replik“ eins um andere Mal an den aufgezeigten Unwuchten des Konzepts vorbei. Pars pro toto sei an zwei Problembereiche erinnert:
- Wie wird nachhaltige patientenorientierte Integrationsversorgung für (möglichst) die gesamte Bevölkerung einer Region vergütungsseitig erfolgreich implementiert? Über erklärtermaßen „wie bisher“ (Bt-Drs. 19/21881: 6; analog Hildebrandt et al. 2020: 30 u. ö.) weiterlaufende Vergütungssysteme, die bekanntlich insbesondere im ambulanten (EBM) und stationären Bereich (DRG) weitgehend inkompatibel auf Abschottung und Desintegration von Patientenproblemen ausgerichtet sind? Oder soll die im unmittelbaren Zusammenhang eingeforderte notwendige Reform der bestehenden Vergütungssysteme im Hinblick „insbesondere auf ihre Anreizwirkungen“ (ebd.) unmittelbar in Angriff genommen werden? Die Dichte des dabei allein ambulant anzugehenden Problemhaushalts liegt transparent aufgearbeitet vor (KOMV 2019: v. a. 105 ff.; Kingreen 2021); zur einheitlichen sektorenübergreifenden Vergütungsperspektive wird seit Jahren intensiv diskutiert (instruktiver aktueller Überblick bei Albrecht 2021).
- Wie wird bei der Vielfalt der Halter des neuen „Initiativrechts“ gegenüber Krankenkassen aus dem Konzept der Grünen-Bundestagsfraktion – Bundes- und Landesaufsichten, Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), Land- bzw. Stadtkreis, § 90a-Gremium, Versichertenvertreter der kassenseitigen Verwaltungsräte, Regionale Gesundheitskonferenz (RGK) –, Krankenkassen „zum Abschluss konkreter Gesundheitsversorgungsverträge aufzufordern“ (Bt-Drs. 19/21881: 4), mit den sich daraus ergebenden organisations- und verfassungsrechtlichen Kompetenz- und Abgrenzungsthemen umgegangen? Die rechtlichen Hürden, namentlich die Kommunen deutlich enger für das regionale Versorgungsgeschehen in die Mitverantwortung und Mithaftung zu nehmen, sind alles andere als trivial (vgl. nur Wenner 2021).
5. Fragen beantwortet?
H. meint in seiner „Replik“ forsch, die Autorengruppe habe auf solche und weitere Fragen in meinem Beitrag „bereits reagiert und eine Rollenaufteilung vorgeschlagen, die eine kurzzeitige Umsetzung bereits zum aktuellen Zeitpunkt und ohne juristische Probleme ermöglicht“ (10). In der Tat werden vom Autorenkollektiv als Halter des Initiativrechts exklusiv nur noch die Kommunalen Gesundheitskonferenzen (KGK) genannt (Hildebrandt et al. 2020: 24 ff., 28 = Hildebrandt et al. 2021: 31 ff., 34). Sie sollen Versorgungsbedarfe „äußern“ können, die „Bildung von Managementgesellschaften der Integrierten Versorgung anregen“, Krankenkassen „zu ihren Sitzungen einladen und zu Vertragsverhandlungen auffordern“ (10). Hierzu, so betont H. in der „Replik“ nochmals ausdrücklich, „bedarf es keiner juristischen Veränderung“ (ebd.).Im Gegensatz dazu befasst sich indessen das Autorenkollektiv nach wie vor höchst ausführlich und detailliert damit, die KGK „weiterzuentwickeln – hin zu ‚Kommunalen Gesundheitskonferenzen 2.0‘“. Die KGK erhalten „mehr Rechte, Aufgaben und Befugnisse“ (Hildebrandt et al. 2020: 24; inhaltlich identisch Hildebrandt et al. 2021: 31).
Was folgt aus diesen Widersprüchen für die Konzeption? Entweder es bedarf keiner „juristischen Veränderung“, wie H. aktuell verkündet, dann dürfte es aber bei der vom Autorenkollektiv gleichzeitig kritisierten mangelnden „Durchsetzungsstärke“ und „eher relativ begrenzen Erfolgen“ (Hildebrandt et al. 2020: 12 = Hildebrandt et al. 2021: 13 f.) der ohnehin faktisch nur in Teilen der Republik überhaupt existenten KGK bleiben. Oder es wird der Weg zur Normierung eines formell wie materiell erheblich geweiteten Rechtsrahmens für die „KGK 2.0“ eingeschlagen. Ganz gleich, wie man es wendet, das zur Verfügung gestellte „Brett“ ist schon hinsichtlich eines Zeitstrahls von gerade einmal vier Jahren unschwer erkennbar viel zu dünn, um tatsächlich managementfähige KGK quer über die Republik im Dutzendpack erfolgreich zu implementieren, von einer Durchsetzungsfähigkeit ganz zu schweigen.
6. „Ersatzlösung“ Einheitskasse?
Ebenso abenteuerlich wie kopflastig und realitätsfern muten die Vorstellungen von Autorenkollektiv und H. an (s. mein Beitrag Kap. 5), wenn es um die immer wieder massiv vorgetragenen sog. „Ersatzlösung“ geht, die dann greifen soll, wenn innerhalb „von zwei bis drei Jahren“ nach Aufforderung durch die KGK nicht „mindestens 75% der GKV-Versichertengemeinschaft“ einer Region durch Verträge nach Gesundheitsregionen-Muster eingebunden ist (Hildebrandt et al. 2020: 52). Erklärtermaßen soll damit ein „Druckmittel“ (ebd.), eine „Drohkulisse“ (Hildebrandt 2021: 13 (Ausdruck)) aufgebaut werden. Denn in einem solchen Fall sollen sich Stadt- und Landkreise beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) „mit definierten Postleitzahlen für einen Direktvertrag bewerben“ können und ohne weitere Kassenbeteiligung selbst oder durch beauftragte Managementgesellschaften die Versorgungssteuerung übernehmen (Hildebrandt et al. 2020): 52).
Die „Endfassung“ des Autorenkollektivs modifiziert diese Vorstellungen. Nunmehr wird die Erklärung einer „Allgemeinverbindlichkeit der IGR-Verträge“ (d. i. Innovative Gesundheitsregionen-Verträge) in einer „spezifisch veränderten Standardvariante“ beim BAS vorgesehen, wenn bestimmte, nicht abschließend definierte „besondere Voraussetzungen“ vorliegen (Hildebrandt et al. 2021: 62). Eine dieser Voraussetzungen soll stets gegeben sein, wenn über Verträge von Krankenkassen und „Regionaler Integrationseinheit“ (RIE) – wie die verantwortliche Managementgesellschaft jetzt reichlich technizistisch genannt wird – vor „einer Entscheidung oberhalb des Kopfes“ der einzelnen Krankenkasse eine potenzielle Teilnahmequote von 30% an einem IGR-Vertrag gegeben ist. In diesem Fall kann die Quote mittels zentralstaatlich erwirkter „Allgemeinverbindlichkeitserklärung“ auf 100% Einheitsniveau katapultiert werden. Ein bestimmter Zeitraum, in dem ein 30%- Quorum zu erreichen ist, wird nicht genannt (ebd. 62 f.). Kassenvielfalt und Kassenwettbewerb sollen sich dann noch in „Servicequalität“ und „Assistenzfunktionen“ abspielen (9) – mithin im Liliputformat.
Wie H. in der „Replik“ angibt (10), fällt auch diese Variante des ursprünglichen Vorschlags offensichtlich in die Kategorie der Reaktion der Autorengruppe auf meine Fragen. Allerdings überrascht H. kaum drei Absätze weiter mit der Feststellung: „Langfristig gibt es tatsächlich einige Fragen“, die „noch eine intensive Auseinandersetzung nötig“ machten. Dies habe aber, so scheint er abschließend Lesende beruhigen zu wollen, „noch etwas Zeit, da sich damit wohl kaum die kommende Legislatur beschäftigen wird, sondern eher erst die darauffolgende“ (11).
Mit diesem Eingeständnis bleiben damit aber auch die in meinem Beitrag hier aufgeworfenen rechtlichen Anmerkungen unbeantwortet. Exemplarisch:
- Soll Kartell- und Vergaberecht im Versorgungsgeschehen weiterhin zur Anwendung kommen oder soll vom Gesetzgeber ein Programm verbindlich vorgegeben und sodann bundesweit exekutiert werden?
- Wie sehen erste Elemente eines Regelungskonstrukts mit Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen aus, wenn die Gewähr für die Leistungserbringung gegenüber den Versicherten und der ambulante Sicherstellungsauftrag bei Direkt- bzw. Allgemeinverbindlichkeitsverträgen an die Managementgesellschaft bzw. RIE übergehen?
In der „Replik“ wendet H. die bisher mit Nachdruck aufgebaute „Drohkulisse“, die nach wenigen Jahren in die Tat umgesetzt werden sollte, um den angekündigten „großen Wurf“, den „Quantensprung in der Ausrichtung des Systems“ (Hildebrandt et al. 2020: 56 = Hildebrandt 2021: 68) zum Durchbruch zu verhelfen. Es bleibt allein eine völlig unverbindliche Ankündigung einer Debatte. Deren Relevanz wird zudem auf das Ende des Jahrzehnts verschoben. Gleichzeitig werden indessen vom Autorenkollektiv wie wenig später von H. selbst offensichtlich unbeeindruckt die bisherigen Ankündigungen vollmundig wiederholt: In der neuen Legislaturperiode sollen 10% und bis Ende des Jahrzehnts 25% der „deutschen (!?) Bevölkerung“ ausschließlich in Form von Gesundheitsregionenverträgen versorgt werden (Hildebrandt et al. 2021: 50; 12; Einschub nur hier).
7. Aufgegebene Finanzierungslogik?
Wenn H.s „Replik“ überhaupt auf meinen Beitrag inhaltlich konkret eingeht, führt dies, wie gesehen, keineswegs zu mehr Schärfung der konzeptionellen Umsetzungsstrategie. Der Nebel lichtet sich gerade nicht, vielmehr verschwimmen die Konturen einer glaubwürdigen Operationalisierung noch weiter in Richtung Wunschkonzert und Beliebigkeit. Völlig unerfindlich bleibt nicht zuletzt, wie die für das Konzept zentrale neue Gründerwelle von in den Regionen agierenden Managementgesellschaften bzw. RIE zur „ integrativen Steuerung von Prävention, Kuration, Rehabilitation und Pflege“ (Hildebrandt et al. 2021: Glossar), die das unternehmerische Risiko in den Gesundheitsregionen zu übernehmen haben, kurzfristig einsetzen sollte. Wenn innerhalb von zehn Jahren ein Viertel der Bevölkerung der Bundesrepublik tatsächlich nach der Konzeption versorgt werden soll, braucht es ausgehend von der angepeilten Größenordnung von etwa 150.000 Einwohnern pro Region (Bt-Drs. 19/21881: 5) alsbald eine Vielzahl von funktionstüchtigen RIE. In der „Replik“ wird ihre baldige Existenz weiterhin schlicht vorausgesetzt, ohne diesen Optimismus irgendwie näher zu begründen. Erläutert wird lediglich, dass „von primär privatwirtschaftlichen Zusammenschlüssen“ ausgegangen werde (10).
Im Kern kann auch hier von der angeblich erfolgten Reaktion des Autorenkollektivs auf von mir aufgeworfene „Fragen“ (ebd.) keine Rede sein. Abwegig ist dabei zudem H. Behauptung, beim Thema „Finanzierungslogik“ hätte ich mich „leider anfangs noch auf die ersten Überlegungen“ bezogen (11). Erhöhte Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds seien „inzwischen aufgegeben worden“ zugunsten entsprechend „ der Logik des Gesundheitsfonds“ berechneter erhöhter Zuweisungen, die von einem „Zukunftsfonds Regionale Gesundheit“ als „Hilfestellung zur Restrukturierung und zur Erhöhung weiterer Investitionen auf lokaler Ebene anschubfinanziert werden“ (11 f.).
Abgesehen von einer verschrobenen Semantik wiederholt H. damit einzig genau diejenigen Eckpunkte des Finanzierungsregimes, die auch bereits in meinem Beitrag (Kap. 7) Gegenstand der Erörterung sind. Das Autorenkollektiv hat im Finanzierungsteil seiner „Endfassung“ keine „Konzeption aufgegeben“, sondern wiederholt schlicht den bekannten Kurs (vgl. Hildebrandt et al. 2020: 32 f., insb. Abb. 2, richtig: 3 = Hildebrandt et al. 2021: 45 f., insb. Abb. 6). Ergänzend wird lediglich allgemein ein neues Element zur Start-up-Unterstützung der RIE in Form eines eigenständigen „Zukunftsfonds Innovative Gesundheitsregionen“ als Teil einer „Weißen Bundesanleihe“ vorgestellt, „der in seiner konkreten Technik“ aber auch erst „noch detaillierter entwickelt werden soll“ (Hildebrandt et al. 2021: 44 f.).
Damit ist aber mitnichten ein Wechsel in der grundsätzlichen Finanzierungslogik der Konzeption verbunden. Das Autorenkollektiv ebenso wie H. in seiner „Replik“ halten vielmehr ausdrücklich an der am Konstrukt einer vom RSA getriebenen Finanzierungssystematik fest. Gesundheitsregionen sollen sich dauerhaft allein über permanent zu erwirtschaftende Effizienzvorteile in Relation zu bundesweiten Normwerten (re-)finanzieren. Managementgesellschaften bzw. RIE erhalten einen „Anteil an den verringerten morbiditätsadjustierten Kostensteigerungen der Krankenkassen für die Population in der jeweiligen Gesundheitsregion“ (Hildebrandt et al. 2020: 32 = Hildebrandt et al. 2021: 40).
Eine solche Finanzierungsbasis steht indessen – darauf wird in meinem Beitrag ausführlich eingegangen (Kap. 7, 2. Teil) – mittlerweile quer zum Zuweisungsmechanismus des RSA, wie er sich über die sog. Regionalkomponente als zusätzlicher Ausgleichsfaktor seit Anfang diesen Jahres darstellt (§ 266 Abs. 2 S. 1 und 3 SGB V i.d.F. des sog. Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetzes, GKV-FKG). Im Ergebnis führen seither (vermeintliche) relative Effizienzgewinne in einer Region mit kurzem zeitlichem Verzug zu einer Absenkung der Zuweisungshöhen für die dort eingebundenen GKV-Versicherten. Die Region gilt in der RSA-Logik als finanziell „überdeckt“ mit entsprechend negativen Transferfolgen.
H. erkennt zwar in der Regionalkomponente „für eine gerechte Finanzierung auf der regionalen Ebene durchaus ambivalente Auswirkungen“ (12). Zu mehr inhaltlicher Festlegung lässt er sich aber auch hier nicht vernehmen. Ein angesichts der desaströsen Konsequenzen für die Grundlagen des Finanzierungsplans einer populationsbezogenen Versorgungswende fraglos überraschendes Phlegma. Die offenkundige Diskriminierung eines engagierten Aufbaus möglichst effizienter regionaler Versorgungsstrukturen (Hermann 2020: Kap. 7) ist H. im Weiteren nur einen lapidaren Hinweis wert: „Dies stellt auf der anderen Seite ja auch kein Ewigkeitsdogma dar“. Eine nächste Bundesregierung werde „ohnehin einige Regelungen des Morbi-RSA schon wieder überarbeiten müssen“ (12).
Dabei lässt H. allerdings außer Acht, dass jede neue Bundesregierung, gleich welcher parteipolitischen Zusammensetzung sie nach den Bundestagswahlen folgt, erst im Jahr 2023 über ein (gesetzlich beauftragtes) Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zu den Auswirkungen der im GKV-FKG eingeführten Neuerungen verfügen wird. Ausdrücklich ist vorgegeben, dass 2023 gesondert die konkreten Wirkungen der Regionalkomponente im RSA (für 2021) zu untersuchen sind (§ 266 Abs. 10 S. 2 SGB V). Erst im Anschluss wird überhaupt eine (kontroverse) Debatte zum potentiellen Änderungsbedarf am Morbi-RSA aufgrund der Gutachtenergebnisse einsetzen können. Die von H. bereits prognostizierten Anpassungen dürften somit – wenn überhaupt – frühestens im Jahr einer (über-)nächsten Bundestagswahl 2025 gesetzgeberisch umgesetzt werden können. Damit bleibt aber auch von der Finanzierungslogik des Gesundheitsregionenkonzepts einstweilen nichts übrig, und alle Bemühungen um breites investives Engagement möglicher Gesellschafter oder von Dritten (Hildebrandt et al. 2020: 46 ff.; Hildebrandt et al. 2021: 43 ff) erweisen sich als betriebswirtschaftlich irrationale Fingerübung.
8. Vom Torso zum „Weiter so“
Ein Zukunftskonzept, das auf fundamental veränderte Grundbedingungen seiner Implementierung inhaltlich offensichtlich überhaupt keine Antworten formulieren kann oder will, H. noch nicht einmal die Problematik als solche angemessen einordnet, verspielt den letzten Kredit in der Frage durchdachter Operationalisierbarkeit. Vom notwendigen Masterplan für das Aufbrechen über Jahrzehnte verfestigter Organisations- und Versorgungsstrukturen bleibt allenfalls ein Torso. Grundkoordinaten der angestrebten Umsteuerung des gesamten Gesundheitsmarktes in Deutschland mit erwartbar massiven volkswirtschaftlichen, nicht zuletzt auch arbeitsmarktpolitischen Implikationen vertragen weder Beliebigkeit noch Schwammigkeit.
Weder die widersprüchlichen Einlassungen zur Initiierung durchsetzungsfähiger und -williger KGK noch die insuffizienten Vorstellungen für eine „Ersatzlösung“, wenn Krankenkassen ihrer freiwilligen versorgungspolitischen Selbstaufgabe nicht nachkommen, oder die auf Grund laufende Finanzierungslogik des Konzepts werden in H. „Replik“ einer adäquaten Bestandsaufnahme unterzogen. Die mitgeteilten Umsetzungsansätze sind und bleiben desolat. In meinem Beitrag habe ich nachdrücklich darauf verwiesen, dass der propagierte „Change“ großflächig angelegte prinzipielle Prozessinnovationen mit Folgen insbesondere für Millionen von Leistungserbringern, Beschäftigten und Versicherten bedarf. Ohne hochprofessionelle Verantwortungs- und Steuerungskompetenz, verbindliche Strukturierung und eine allzeit „kritische Masse“ engagierter Innovationsträger ist ein solches Mammutprojekt zum Scheitern verurteilt. Die ebenso dilatorische wie enttäuschende „Replik“ leistet keinen substantiierten Beitrag dazu, einer solchen Prognose fundiert entgegenzuwirken.
Aus einem konzeptionell indifferenten Versorgungansatz wird sich auch die Entwicklung eines neuen erfolgreichen Geschäftsmodells für Anbieter und Gestalter von Managementleistungen im deutschen Gesundheitswesen kaum modellieren lassen. Die „wunderbare Kinzigtal-Vermehrung“ wird es nicht geben.
Die strukturpolitische Perspektive für den Umbau eines Versorgungssystems, das fraglos vor enormen Herausforderungen etwa zur patientenorientierten Weiterentwicklung oder der Bewältigung des demografischen Wandels steht, verliert sich im Ungefähren. Die damit alsbald verbundenen Enttäuschungen sind dann allerdings in der Tat Wasser auf die Mühlen der „Weiter so“-Apologeten.
Literatur
- Albrecht M 2021: Benötigt eine patientenorientierte Versorgung ein einheitliches Vergütungssystem? In: Spitzer S/Ulrich V (Hg.): Intersektorale Versorgung im deutschen Gesundheitswesen, Stuttgart, 33-43
- Gerlach F/Szecsenyi J 2013: Hausarztzentrierte Versorgung in Baden-Württemberg – Konzept und Ergebnisse der kontrollierten Begleitevaluation, Z.Evid.Fortbild.Quali.Gesundh.wesen (ZEFQ) 107, 365-371
- Hermann C 2020: Narrativ im Kaffeesatz oder das GKV-System 2020 auf der Rutschbahn des exekutiven Dirigismus, Observer Gesundheit – Politische Analysen 18.09.2020, https://observer-gesundheit.de/narrativ-im-kaffeesatz-oder-das-gkv-system-2020-auf-der-rutschbahn-des-exekutiven-dirigismus/
- Hesse K 1990: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Auflage, Heidelberg
- Hildebrandt H et al. 2020: Integrierte Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene, Vorschlag für eine Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems, Hamburg
- Hildebrandt H 2021: Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene – eine Replik und Diskussion, Observer Gesundheit 18.01.2021, https://observer-gesundheit.de/neuausrichtung-des-deutschen-gesundheitssystems-auf-regionaler-ebene-eine-replik-und-diskussion/
- Hildebrandt et al. 2021: Integrierte Versorgung – Jetzt! Ein Vorschlag für eine Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems – regional, vernetzt, patientenorientiert, https://optimedis.de/files/Zukunftskonzept/Buch_Auftaktartikel_Integrierte_Versorgung_Jetzt_Entwurf.pdf
- Jarass H 2020 in: Jarass H/Kment M: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 16. Auflage, München, 532-596
- Kingreen T 2021: Ein modernes Vergütungssystem für eine integrierte Krankenversicherungsordnung, Monitor Versorgungsforschung 4, 72-75
- KOMV 2019: Empfehlungen für ein modernes Vergütungssystem in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Bericht der Wissenschaftlichen Kommission, Berlin
- Sanders B 2017: Unsere Revolution. Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft, Berlin
- Schubert I et al. 2021: 10-Jahres-Evaluation der populationsbezogenen integrierten Versorgung „Gesundes Kinzigtal“, Deutsches Ärzteblatt 27-28, 465-472
- Schulte T et al. 2017: USA: Accountable Care Organizations als neue Form der Kooperation mit Verantwortungsübernahme, in: Brandhorst et al. (Hg.): Kooperation und Integration – Das unvollendete Projekt des Gesundheitssystems, Wiesbaden, 535-552
- Staeck F/Gerlof H 2021: Gesundes Kinzigtal: Bisheriges Vertragsmodell ist für die AOK tot, Ärztezeitung online 9.6.2021
- Universitätsklinikum Heidelberg, Abt. Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung/Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Allgemeinmedizin (Hg.) 2020: Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg. Zusammenfassung der Ergebnisse – Ausgabe 2020, Frankfurt a. M./Heidelberg
- Wenner U 2021: Aufgaben und Kompetenzen der Kommunen, in: Robert Bosch Stiftung (Hg.): Neustart! für das Gesundheitsrecht, Stuttgart, 70-73
- Wilson M et al. 2020: The impacts of accountable care organizations on patient experience, health outcomes and costs: a rapid revue, Journal of Health Services Research & Policy 2, 130-138
Weitere Beiträge zu einer regional integrierten Versorgung im Observer Gesundheit:
Matthias Gruhl: Sektorenübergreifende Versorgung. Eine Einordung – 19. Juli 2021
Christopher Hermann: Schöne neue grüne Versorgungswelt durch „Gesundheitsregionen“ – Paradigmenwechsel oder nur neuer Wein in alten Schläuchen? – 17. Juni 2021
Nils Dehne: Wie eine gutmütige Utopie einer fernen Welt. Integrierte Versorgung als regionale Regelversorgung. Der Diskurs geht weiter – 3. Februar 2021
Robert Paquet: Integrierte Versorgung vor Drohkulisse. Erwiderung auf die Analyse von Helmut Hildebrandt – 19. Januar 2021
Robert Paquet: Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene. Der Vorschlag einer Autorengruppe um Helmut Hildebrandt – 11. November 2020
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