Der Check heiligt die Mittel

Wie die „Vorbeugemedizin“ die Prävention misshandelt

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler

Falls für die Wahl zum Unwort des Jahres noch Vorschläge gesucht werden, wären „Vorbeugemedizin“ und „Durchchecken“ ganz heiße Kandidaten. Nicht etwa, weil Vorbeugen nicht wünschenswert und sinnvoll wäre – wir beherzigen dies vorm Überqueren einer Straße ja ganz selbstverständlich. Aber der bisher unübliche Begriff „V.-medizin“ wird zurzeit inflationär und in Zusammenhängen benutzt, die mit sinnvoller, evidenz-basierter Prävention wenig, mit missionarischem Eifer, Rückwärtsgewandheit, Bedienung von wirtschaftlichen Interessen und politischer „weißer Salbe“ sehr viel zu tun haben. Und damit ist der Begriff geeignet, erfolgversprechende Präventionsbemühungen zu torpedieren.

Zur Erinnerung: Die Fachwelt unterscheidet zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. „Primär“ kümmert sich darum, das Entstehen von Krankheiten zu verhindern oder hinauszuzögern, „sekundär“ darum, entstandene Krankheiten frühzeitig zu entdecken, und „tertiär“, das Verschlimmern von Krankheiten zu verhindern oder zu verzögern. Diese Aufteilung ist im Allgemeinen ganz brauchbar. Man muss allerdings genau hinschauen, auf was sich die Attribute jeweils beziehen, denn die Primärprävention eines Herzinfarkts kann die Sekundärprävention von (= Suchen nach) bestehenden Risikofaktoren bedeuten, auf die dann „Checks“, „Screening“ und „Früherkennung“ zielen. Ein Nebeneffekt ist, dass so neue „Krankheiten“ entstehen (z.B. Lipidstoffwechselstörungen, Osteopenie, subklinische Hypothyreose, [zu] niedrige Testosteronwerte bei [alternden] Männern)“.

 

Besondere Evidenzanforderungen

Genau wie für jede andere gesundheitsbezogene Intervention gilt auch für Präventionsmaßnahmen, dass aussagekräftige Informationen zu Nutzen und Schaden vorliegen müssen, bevor diese empfohlen oder in ein Gesundheitssystem eingeführt werden. Für diese Anforderung gibt es gute politische, ethische, wirtschaftliche und medizinische Argumente. Und insofern sollten Präventionsmaßnahmen Teil einer Evidenz-basierten Gesundheitsversorgung sein, der sich der Gesundheitsminister im „Team Evidenz“ ja bekanntermaßen besonders verbunden fühlt.

Wenn also die Idee verbreitet wird, dass schon 25-Jährige zum „Durchchecken“ gehen sollen, dann kann man erwarten, dass Evidenz dafür vorgetragen wird, dass so etwas sinnvoll ist, also mehr Nutzen als Schaden stiftet oder überhaupt irgendeinen Effekt hat. Die Erwartung wird bisher nicht erfüllt. Dagegen lautet die Kernaussage des bekannten Cochrane-Reviews zu Gesundheits-Checks: „Es ist unwahrscheinlich, dass systematische Angebote von Gesundheitschecks einen Nutzen bringen. Sie führen möglicherweise eher zu unnötigen Untersuchungen und Behandlungen.“ (1)

Evidenzbasiert ist in der kurativen Medizin unumstritten, wenn auch ungenügend kultiviert. Das sorgfältige, nüchterne Hingucken ist aber bei Präventionsmaßnahmen von besonderer Bedeutung, vor allem beim Screening. Der erste und wichtigste Grund: Im Gegensatz zur Behandlung Leidender, deren Leid als solches als Bitte oder gar als Auftrag um Hilfe angesehen werden kann, wendet sich Prävention – in aller Regel ohne Auftrag – an Gesunde. Zugespitzt kann man auch sagen, dass es das Ziel kurativer Medizin ist, kranke Menschen gesund zu machen, während es das Ziel der Sekundärprävention (Screening) ist, aus gesunden, besser sich noch gesund fühlenden, Menschen Kranke zu machen. Ohne Zweifel in bester Absicht, aber dafür bedarf es besonders sorgfältiger Rechtfertigung.

Zweitens handelt es sich in aller Regel um sehr kleine Effekte, deren zuverlässige Identifizierung erheblicher Anstrengungen und Sorgfalt bedarf (z. B. 2). Drittens wird es kaum je gelingen, einmal eingeführte Maßnahmen wieder aus einem System zu entfernen, wie die in Deutschland eingeführten Methoden zur Früherkennung eindrücklich belegen. Und viertens verbrauchen Präventionsaktivitäten Ressourcen, die in einem begrenzten System den Patienten – den Leidenden – vorenthalten werden müssen: selbst, wenn es dabei nur um Facharzttermine geht. Dies kann man übrigens als spezielle Form des sogenannten „Inverse Care Law“ ansehen, das im Jahre 1971 beschrieben wurde (3) und das als eine Konstante in allen Erhebungen zu medizinischer Fehlversorgung anzusehen ist: Diejenigen, die dringend Hilfe benötigen, bekommen zu wenig, die, die sie nicht oder wenig benötigen, zu viel.

 

Alle wollen checken

In scharfem Kontrast zu diesen hohen Anforderungen können sich Entscheidungsträger vor Vorschlägen aus medizinischen Fachkreisen, diese oder jene Screeningmaßnahme dringend einzuführen, kaum retten. Dies hat vor allem drei Gründe:

  • Früherkennung oder Screening („Vorsorge“) hat eine hohe Plausibilität und eine hohe Reputation, was damit zusammenhängt, dass es ein System ohne negatives Feedback ist (4) und sich außerdem in einem Geflecht von unterstützenden Interessenkonflikten abspielt (5);
  • Mediziner, besonders diejenigen, die in Kliniken tätig sind, fühlen sich nachvollziehbar dazu aufgerufen, etwas zur Vermeidung des ihnen täglich begegnenden Leids zu tun. Damit wird aber nur eine Seite der Medaille gesehen, und diese Mediziner mögen zwar Advokaten ihrer Patienten sein, aber sie sind nicht die richtigen Fachleute, um Screeningmaßnahmen in ihren gesamten Auswirkungen zu beurteilen.
  • Checks als „Vorsorge“ sind ein einträgliches Geschäft; sehr gut zu verkaufen (ca. 80 % aller IGeL sind „Vorsorge“maßnahmen); vergleichsweise einfache, einmalige Maßnahmen („gucken wir mal nach“) mit hoher Kundenbindung („das sollten wir aber im Auge behalten“) und, wenn GKV-Leistung, mit extrabudgetärer Vergütung. Ein Diagnostika-Hersteller hat es in den 1990er Jahren auf den Punkt gebracht, als er seinen Test mit den Worten anpries: „Jetzt kommen auch die Gesunden in Ihre Praxis.“

Es hat also eine Ursache, dass der Gesundheitsminister bei den aktuell heftigen Protesten der Apotheker als Goody das „Durchchecken“ in Apotheken ins Gespräch bringt, diesen „das Angebot zusätzlicher Leistungen ermöglichen (will), für die sie dann auch honoriert würden“ (6). Sie können, so der Minister „in diesem Bereich unfassbar wertvolle Arbeit“ machen. Evidenz: Zero.

Nebenbei: Der Zusatz des Ministers, dass es „aber keine Pflicht“ zum Durchchecken gebe, ist ja erfreulich, kann aber nur jene entspannen, die sich nicht mehr an den Versuch erinnern, Malus-Regelungen für die Nicht-Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen einzuführen. Eine gesetzliche Regelung, die der G-BA unter seinem damaligen Vorsitzenden Rainer Hess listig unterlaufen hat. Die Interpretation des G-BA wurde dann von der Ministerin Ulla Schmidt stillschweigend akzeptiert, die offenbar den Bemühungen ihres Beraters wenig abgewinnen konnte.

 

Das Auto muss doch auch zum TÜV

Es vergeht keine Diskussion um „Vorsorge“, ohne dass des Deutschen liebstes Kind bemüht wird. „Ihr Auto bringen Sie jedes Jahr zur Inspektion, und sich selbst lassen Sie nicht regelmäßig durchchecken?!“ Der Körper als Maschine – Descartes‘ Ideen aus dem 17. Jahrhundert haben bis heute ihre nachhaltige Wirkung in der Medizin. Dabei ist der Unterschied offensichtlich: Ein menschlicher Organismus hilft sich in vielen Fällen selbst, ein Auto niemals. Wie schön wäre es doch, wenn sich ein geplatzter Reifen oder abgenutzte Bremsbelege nach einigen Tagen des Abwartens wieder selbst repariert hätten! Bei einer Erkältung oder sogar bei einem Knochenbruch erleben wir dies dagegen regelhaft – bei letzterem bedarf es meist einer Unterstützung zur Selbstheilung, aber selbst das würde bei einer gesprungenen Windschutzscheibe nichts nutzen. Die verfehlte Auto-Analogie eignet sich immerhin, um das wichtigste Schadenpotential des Durchcheckens und seine Relevanz zu verstehen – Überdiagnostik.

Wenn der kompetente Mechaniker nach der Inspektion oder dem TÜV empfiehlt, die Zylinderkopfdichtung zu ersetzen, weil sich da eine Undichtigkeit anbahne, dann vertrauen wir in der Regel darauf und lassen ihn machen. Ob diese Undichtigkeit tatsächlich aufgetreten wäre und uns Probleme gemacht hätte, wissen wir nicht. Ob der Austausch zu diesem Zeitpunkt nötig gewesen wäre, um eine Panne zu verhindern, werden wir nie erfahren – es grüßt das Präventions-Paradox. Entscheidend aber: Diese Situation kostet uns höchstens Geld; danach: aus den Augen, aus dem Sinn.

Ganz anders dagegen eine (frühe) Diagnose oder die Feststellung eines Risikofaktors. Wir können zwar die Dichtung austauschen, also Diät halten oder einen Lipidsenker einnehmen. Und ebenso wie bei der Dichtung werden wir niemals wissen können, ob das nötig war, oder ob wir ohnehin keinen Infarkt bekommen hätten. Aber es gibt zwei fundamentale Unterschiede zum Auto: Die Intervention kostet uns nicht nur Geld, sondern u. a. durch Nebenwirkungen von Therapien auch unsere Gesundheit und Lebensqualität. Und zweitens werden wir das Wissen um die Diagnose oder den Risikofaktor niemals wieder los. Das Etikett klebt fest und unverrückbar; nicht nur als „Zustand nach …“ in der Krankenakte, sondern im Kopf.

Bereits 1967 wurde in einer kleinen Studie gezeigt, dass selbst ein „Debriefing“, in diesem Fall bei Kindern, bei denen nach Verdacht auf eine Herzkrankheit Entwarnung gegeben wurde, nur begrenzten Erfolg hat. Viele Kinder und ihre Familien verhielten sich in der Folge ganz ähnlich wie diejenigen mit der Herzkrankheit (7). Eine Etikettierung als „Risiko“ hat nachhaltige, oft lebenslange Wirkung. Offensichtlich wird das Problem umso gravierender, je jünger die Menschen sind und je niedriger die Schwelle zur Etikettierung („Risikofaktor“) ist. Der Appell zum „Durchchecken“ von jungen Menschen oder gar Kindern ohne gute Evidenz ist vor diesem Hintergrund unverantwortlich.

Daran ändert auch nichts, dass solche Aktivitäten als „Studie“ verbrämt werden. Vielmehr heißt es unter knallrotem „bayernweit kostenlos“ und „Mach den Vroni-Check“ ganz unmissverständlich auf der Seite der „Vroni“-Studie: „Wir von der Vroni-Studie möchten Kindern im Alter von 5-14 Jahren im Rahmen der U9-J1 ein Screening zur Diagnose einer Familiären Hypercholesterinämie (FH) anbieten.“ (8)

Keine Forschungsfrage, keine „Studie“, das ist nichts als Werbung. Und passend dazu hieß es auf der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie im April 2023, dass man „Früherkennungsprogramme“ gestartet habe – von Studie ist nicht die Rede. Und weiter: „Diese Programme werden den Nutzen dieser Checks aufzeigen“ (9). Die Äußerung macht deutlich, dass der Nutzen offenbar noch nicht gezeigt wurde. Die Programme (oder Studien oder so) sind aber in der aufgesetzten Form auch nicht geeignet, dieses Defizit zu beseitigen. Natürlich kann man mit Screening Kinder mit genetisch bedingten exorbitanten Lipidwerten identifizieren (z. B. 10). Aber Nutzen bedeutet die Folgen für diese, für die übersehenen Kinder und die Falsch-positiven. Das ist das Entscheidende. Vielleicht gibt es dazu Daten; erwähnt werden sie nirgends.

Das Problem der gesamten Screening-Debatte ist (jetzt und seit Jahrzehnten), dass der Schaden durch Überdiagnostik immer besteht, der Nutzen aber keineswegs sicher ist. Dies ist der Hintergrund für die pointierte Feststellung des renommierten Epidemiologen und Public Health Experten Sir Muir Gray: „All screening programmes do harm; some do good as well, and, of these, some do more good than harm at reasonable cost.“ (11)

Neben dieser bekannten und vielfach beschriebenen Sachlage der Sekundärprävention steht eine ebenso gut bekannte Erkenntnis für die Primärprävention. Aufrufe zu Verhaltensänderungen ohne Leidensdruck sind frustran und in Summe wenig effektiv. Primärprävention ist gar keine vorrangig medizinische Aufgabe, sondern sie interessiert sich vielmehr für Lebensbedingungen: für Wohnen, Bildung, Kultur, Zufriedenheit, ja, auch „Stress“. Verhältnisprävention ist das „Zauber“wort, das diese Dimensionen beschreibt. Und wer sich vor Augen führt, dass sich die Lebenserwartung von Männern unterer Einkommensklassen von der oberer Einkommensklassen (um nur einen Faktor von „Verhältnissen“ herauszugreifen) um 10 Jahre unterscheidet (12), dem wird sofort einsichtig, dass sich daran durch „Durchchecken“, ganz egal, ob bei Arzt oder Apothekerin, überhaupt nichts ändern wird. Und wer tatsächlich glaubt, mit diesen Maßnahmen ließen sich die Kosten im Gesundheitssystem senken, wie man auf der Pressekonferenz am 30.10.2023 im BMG hören konnte, der pfeift im dunklen Wald.

 

„Vorbeugemedizin“ auf tönernen Füßen

In diese sehr gut bekannte Situation platzt nun die „Vorbeugemedizin“, nicht nur mit einem geplanten Institut, sondern auch mit zahlreichen Äußerungen in Zeitung, Funk und Fernsehen. Und da ist es interessant, sich auch einmal fachliche Äußerungen anzusehen. Die Gelegenheit ist gerade günstig:

Im April erschien im European Journal of Epidemiology eine Analyse (interessanterweise als „Essay“ tituliert) Rostocker Wissenschaftler (13). In aller Kürze zusammengefasst versuchen sie, eine Erklärung dafür zu finden, dass die Lebenserwartung in Deutschland niedriger ist als die vergleichbarer Länder. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es insbesondere kardiovaskuläre Todesursachen sind, die die schlechte „Performance“ in Deutschland erklären und bringen dies in Zusammenhang mit unzureichenden Präventions-Anstrengungen. Diese – sagen wir mal – These findet sich dann als Tatsachenbehauptung in den einleitenden Absätzen des „Impulspapiers“, das das BMG am 5.10.2023 vorlegte (14).

Es bedarf gar keiner tiefgründigen epidemiologischen Fachexpertise, um darauf zu kommen, dass die Ergebnisse maßgeblich von der Brauchbarkeit und Vergleichbarkeit der Todesursachenstatistiken in den untersuchten Ländern abhängen. Und so legen denn auch Susanne Stolpe und Kollegen, Epidemiologen aus Essen, in einem kritischen Kommentar und in Bezug auf eigene Forschungen im Detail dar, dass die Statistiken eben nicht vergleichbar sind (15,16). Die Feststellung von Todesursachen ist ohne Autopsien unzuverlässig („hochspekulativ“, wie es gerade ein Leserbriefautor im Deutschen Ärzteblatt ausgedrückt hat, 17) und unterliegt zudem zahlreichen regionalen Einflüssen, u.a. den gleichen kulturellen Vorlieben, wie sie z.B. Lynn Payer in ihrem Buch „Andere Länder – andere Leiden“ beschrieben hat (18). In Deutschland ist es im Zweifelsfall eben „Kreislauf“ oder „das Herz“. Ergänzt um zwei weitere Kritikpunkte melden die Kommentatoren sorgsam begründete, grundlegende Zweifel an der Aussagekraft der KHK-These an.

Autoren eines weiteren Kommentars, den das Journal im August publiziert hat, sind der Direktor des Herzzentrums in Köln, Stefan Baldus, bis April 2023 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und Mit-Initiator der „Nationalen Herz-Allianz“, sowie Karl Lauterbach, bekannt als Bundesgesundheitsminister und Schirmherr dieser Allianz (19). Hier fällt kein kritisches Wort, sondern es wird breite Zustimmung geäußert (die Ergebnisse seien „alarming“), um dann darzulegen, was getan werden müsse, um der „Flut“ Einhalt zu gebieten („turn the tide“), nämlich eine „systematic identification and vivid control of cardiovascular risk factors“. „Systematic identification“ – damit kann nur „Checken“ gemeint sein, von Verhältnisprävention kein Wort. Genau dieser Ductus findet sich dann auch in dem „Impulspapier“ des BMG (14).

Auf einige Ungereimtheiten dieses Kommentars hat u.a. bereits Joseph Kuhn hingewiesen (20). Es fallen zudem verschiedene Quellenangaben auf, die bei genauerer Durchsicht nichts von dem untermauern, für das sie herhalten sollen. So findet sich in der Quelle, in der angeblich in Dänemark ein „remarkable improvement in the treatment of cardiovascular risk factors upon implementation of an electronic health record system“ gesehen wurde, schon im Abstract der bemerkenswerte Satz: „Due to lack of a control group, we are, however, not able to say if the drop in the proportion of uncontrolled cases is a result of participation in collection of electronic data and feedback alone.“ – ganz abgesehen davon, dass es in der Arbeit um Diabetes-Patienten ging und man eine Verbesserung um 5 %-Punkte auch “disappointing“ statt “remarkable” nennen könnte (21).

Und dann, wie könnte es anders sein: „implement powerful screening programs“. “A powerful and nationwide initiative on primary prevention should be achievable. Such a program would have the potential to be highly efficient both in terms of reducing mortality and also health care costs.”

„Potential” ist definitionsgemäß nie falsch, trotzdem ist natürlich interessant, wie die Evidenz für „highly efficient“ nach Ansicht der beiden Autoren aussieht. Sie geben hierzu zwei Quellen an. Die eine Quelle beschreibt die Kosten-Effektivität einer antihypertensiven medikamentösen Therapie, macht also gar keine Aussage zum Screening oder zu Prävention im Allgemeinen (22). Die andere Arbeit stellt das Konzept der „number needed to screen“ vor und äußert sich auch zur Effektivität eines Screenings auf erhöhte Blutfettwerte (23). Der Kernsatz lautet „Unfortunately, there are no trials evaluating the prevention of death by screening for atherosclerotic risk factors.” Der Autor stellt dann Berechnungen mit vielen Annahmen auf schwankender Basis an und warnt selbst ausführlich vor den Problemen seiner Vorgehensweise. Daraus machen die beiden Autoren aus Deutschland: “We know that the number needed to screen to prevent one death is roughly 10 times lower when screening for dyslipidemia or hypertension as compared to programs tackling cancer or hepatitis …”. “We know“? Woher bloß?

 

Die Richtung ist falsch

Als wissenschaftliche Basis für eine „Nationale Herz-Allianz“ und ein angekündigtes „offensives“ Gesetz zur Herz-Kreislauf-Prävention stellt man sich etwas ganz anderes vor. Und die selbst gestellte Frage des Ministers „Wie können wissenschaftliche Erkenntnisse stärker in den politischen Entscheidungsprozess einfließen?“ (24) ist man geneigt, mit „so ganz sicher nicht“ zu beantworten. Nebenbei machen diese einzigen beiden Quellen deutlich, welches Verständnis einer „powerful and nationwide initiative on primary prevention” herrscht: „Durchchecken“. „Primary prevention“ ist Etikettenschwindel. Und auch die einzigen beiden „Pilotprojekte“, die man auf der Seite der „Nationalen Herz-Allianz“ findet, sind – na? – Screening (25).

Die als „Pilotprojekte“ getarnten Programme unterlaufen ebenso wie zahlreiche IGeL-Angebote, Satzungsleistungen einiger Krankenkassen oder der Augen Check-Up eines großen Brillenanbieters alle Anforderungen, die wissenschaftlich und rechtlich (§§ 25 und 26 SGB V, § 630 BGB) an Interventionen in einem Gesundheitssystem gestellt werden. Das ist in einem „2. Gesundheitsmarkt“ in Anbetracht des Schadenpotenzials schlimm genug, als „Nationale“ Aktivität aber indiskutabel und einer Gesundheitspolitik, die den Anspruch erhebt, evidenz-basiert zu sein, unwürdig. Auch in einem aktuellen medizinethischen Memorandum zur „Patientendienlichkeit“ kommt das „Durchchecken“ – natürlich – nicht vor (26).

Der Anfangssatz der von Baldus und Lauterbach als Beleg für „highly efficient“ angegebenen Quelle hätte daher nicht besser passen können: “Too often politics, rather than evidence, dictates the national strategy for disease screening.” Ihr Kommentar stellt dies eindrucksvoll unter Beweis. Mit der „Stärkung der Prävention“, wie man überall lesen kann, hat das wenig zu tun – ganz im Gegenteil.

Laut World Happiness Report 2023 (27) rangieren die skandinavischen Länder und Island auf den Plätzen 1, 2, 3, 6 und 7, Deutschland auf Platz 16. Bzgl. der Lebenserwartung belegten diese Länder 2021 die Plätze 3, 4, 5, 13 und 14, Deutschland folgt auf Rang 19 (28). Es mag natürlich sein, dass die fehlende Happiness hierzulande damit zusammenhängt, dass noch nicht alles digitalisiert ist, jährliche Check-ups noch nicht verpflichtend sind, in Autos noch geraucht werden darf oder Salz und Zucker noch frei verkäuflich sind. Es könnte aber auch sein, dass „Deutschland, einig Meckerland“ eine Kultur pflegt, die sowohl weniger „happy“ als auch weniger gesund macht – von Bildungsmängeln mal ganz zu schweigen. Interessant in diesem Zusammenhang, dass die Maßnahmen, die den beiden deutschen Autoren einfallen, sich auf Verbote – „Lass das!“ – und die Einnahme von Medikamenten beschränken – „in a nutshell“ (medizinische) Kultur in Deutschland. Schade eigentlich, dass man es erst in der Palliativmedizin bedeutsam findet, der Zeit Leben und nicht nur dem Leben mehr Zeit zu geben.

Welche Einflussfaktoren auf die Lebenserwartung eine Rolle spielen können, ist in vielfältigen Analysen und Arbeiten nachzulesen. „Vorbeugemedizin“ und „Durchchecken“ gehören nicht dazu. Sie sind rückschrittlich, weil sie Prävention nur als medizinische Aufgabe begreifen, sie verkörpern eine überwunden geglaubte paternalistische Haltung, sie bedienen vorrangig Interessen von Anbietern, stehen evidenz-basiert auf tönernen Füßen und lenken ab von dem, was wirklich wichtig wäre. Perfekte Kandidaten für eine Auszeichnung als Unwort.

 

 

Literatur:

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  1. Hart JT. The inverse care law. Lancet. 1971 Feb 27;1(7696):405-12. doi: 10.1016/s0140-6736(71)92410-x. PMID: 4100731.
  1. Ransohoff DF, McNaughton Collins M, Fowler FJ. Why is prostate cancer screening so common when the evidence is so uncertain? A system without negative feedback. Am J Med. 113 (2002) 663-7.
  1. Adami H, Kalager M, Bretthauer M. The Future of Cancer Screening—Guided Without Conflicts of Interest. JAMA Intern Med. 2023;183(10):1047–1048. doi:10.1001/jamainternmed.2023.4064.
  1. Ärzteblatt: Lauterbach will Vorsorgechecks auch in Apotheken ermöglichen.
  1. Bergman AB, Stamm SJ. The morbidity of cardiac nondisease in schoolchildren. N Engl J Med. 1967 May 4;276(18):1008-13. doi: 10.1056/NEJM196705042761804. PMID: 6022469.
  1. https://www.myvroni.de/vroni-studie/.
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„Die Gesundheits-Nina”, Observer Gesundheit, 20. September 2023,

„Der digitale Zwilling und andere Wundertüten der Nutzenbewertung“, Observer Gesundheit, 26. Oktober 2022,

„Traurige Forschungskultur und fehlender politischer Wille“, Observer Gesundheit, 10. November 2021,

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