Von digitaler Ertüchtigung, DiGA und vermeintlichen Analogien

Dr. Christopher Hermann

Die Erbringung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) als neue Leistung der GKV hat mittlerweile trotz teilweise widriger Voraussetzungen rechtlich umfassend Marktreife erlangt. Damit steht – theoretisch – dem Siegeszug der „Apps auf Rezept“ im ersten Gesundheitsmarkt sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Ärztinnen und Ärzten nichts mehr im Weg. In welchem Umfang das Solidarsystem der GKV alsbald vermehrt für neue DiGA-Leistungen aus den Garagen von Startups oder den Digitallaboren von Big-Data-Unternehmen tatsächlich einzustehen hat, bleibt mindestens so lange höchst spekulativ, wie im System Dynamik und Beharrungstendenzen gleichermaßen wirkmächtig wahrnehmbar sind.

Die schier unablässige Produktion neuer gesetzlicher Regelungen im Gesundheits- und Pflegesektor während der Ära der letzten Großen Koalition bis Ende 2021 hat mit Fokus auf (lange überfällige) nachhaltige Digitalisierungsschritte im Gesundheitswesen auch dort Neuerungen gleich im XXL-Format gebracht. Während ansonsten zur Begründung bevorzugt auf Vokabeln wie „Sofortprogramm“ oder Alternativlosigkeit zurückgegriffen wurde, war im E-Health-Bereich von einem „iterativen Gesamtprozess“ die Rede, den man stetig fortsetzen wolle. Die Ampelkoalition hingegen setzt zunächst auf die Erarbeitung einer eigenen „Digitalisierungsstrategie“.

Zu dem vor fast drei Jahren eingeführten neuen GKV-Leistungssegment der DiGA verhalten sich die Ampelkoalitionäre – bisher – nicht. Zur Bewertung deren konkreter rechtlicher Implementierung und Eingang in die Versorgungsnormalität ist deshalb im Folgenden auf die GroKo-Regularien zu rekurrieren, die sich offiziell am 2011 eingeführten AMNOG-Verfahren für neue Arzneimittel ausgerichtet sehen. Die nähere Analyse zeigt indessen, dass von vermeintlichen Analogien oder Parallelitäten ernsthaft kaum die Rede sein kann. Erkennbar wird vielmehr, dass sich Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten innerhalb des DiGA-Regimes damit gerade nicht auflösen lassen. Beim Blick auf den mittlerweile gleichwohl auf Selbstverwaltungsebene gefundenen Weg zur operativen Gestaltung wird deutlich, dass dort versucht wird, ordnungspolitische Ausrichtung und Pragmatismus gleichermaßen einzubinden. Ob dies einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, DiGA perspektivisch breite Akzeptanz und Versorgungsrelevanz zu verschaffen, muss einstweilen offen bleiben.

 

1. Aktionismus und Absentismus I

Die gesetzgeberische Regelungshybris der letzten Großen Koalition (GroKo III) im Gesundheits- und Pflegebereich hat in der vergangenen (19.) Legislaturperiode zu einem beispiellosen Umpflügen des gesamten einschlägigen Normengefüges geführt (vgl. nur Becker/Kingreen 2022: Rn. 59 ff). Damit wurde freilich in den Jahren unter der Ägide von BMG Spahn an den mittel- und langfristigen gesundheits- und pflegepolitischen Herausforderungen meist fleißig vorbeigepflügt. Sowohl aus struktur- und steuerungspolitischer Sicht als auch unter ordnungspolitischem Blickwinkel muss die GroKo III-Zeit (2018-2021) bilanziell deshalb als vertane Zeit abgehakt werden (Jacobs 2021: 12; Schönbach 2021: 3; Hermann 2020 und 2021a), und in Bezug auf eine nachhaltige Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens könnte ohne die Notsituation Pandemie seit Frühjahr 2020 auch noch viel weniger die Rede sein.

Keines der koalitionsseitig 2018 angekündigten Projekte mit nachhaltigem Reformanspruch – etwa der Übergang in eine sektorenübergreifende Versorgung, die Etablierung einer integrierten Notfallversorgung, die Neujustierung der Aufgabenzuordnung der Gesundheitsberufe, die Schaffung eines modernen ambulant-ärztlichen Vergütungssystems – hat politisch mehr als allenfalls einen Referentenentwurfsstatus, geschweige denn das Bundesgesetzblatt erreicht (näher etwa Hermann 2021b: 39). Allerdings wurde ordnungspolitisch das korporatistische Narrativ des GKV-Systems in Richtung zentralstaatlicher Präponderanz und detaillistischer Regulierung verrückt („exekutiver Dirigismus“; Graf/Hermann 2019; Hermann 2020).

Nicht zuletzt hat der sich weitgehend in eklektizistischem Aktionismus erschöpfende Politikstil der Spahn-Jahre ein historisch vorbildloses Finanzdesaster innerhalb der GKV – und kaum minder in der sozialen Pflegeversicherung (SPV; Wallet 2022; IGES 2022: 11) – hinterlassen. Jahrelang betriebener struktureller Absentismus, wenn es um die Gestaltung angemessener Versorgungssteuerung und Sektorenvernetzung auch mit Hilfe funktionstüchtiger digitaler Anwendungen in der „Gesellschaft des längeren Lebens“ (SVR) ging, bei gleichzeitig ausgabenträchtigen Gesetzespaketen im Wiederholungsmodus hat die GKV seit 2020 in ein zunehmend ausuferndes Finanzierungsdebakel geschickt (Überblick bei Wasem 2022: 3).

Dieses konnte bereits sowohl im vergangenen als auch im laufenden Jahr nur noch durch ebenso riskante wie abenteuerliche Finanzakrobatik kurzfristig übertüncht werden (Ulrich/Wille 2021: 4; Hermann 2021b: 40). Dessen Bewältigung (einzig) für 2023 wird nach einem ersten schnell gescheiterten Anlauf der neuen BMG-Spitze im diesem Frühjahr (Hermann 2022: Kap. 3) derzeit von der Ampel-Koalition über den erneuten Entwurf eines GKV-Finanzstabilisie­rungs­gesetzes versucht, den die Bundesregierung am 27. Juli auf die parlamentarische Reise geschickt hat. Es steht ernsthaft in Zweifel, ob der dort vorgestellte „Flickenteppich von Maßnahmen“, um das Finanzierungsdelta 2023 „kurzfristig und notdürftig zu stopfen“ (Verbände der Krankenkassen 2022: 1), überhaupt ausreichend sein kann, die vom BMG selbst propagierte Zielsetzung, die Lücke zwischen GKV-Einnahmen und Ausgaben zu schließen und die „Lasten … auf verschiedene Schultern“ angemessen zu verteilen (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz-E: 24), zu realisieren ist (vgl. nur IGES 2022: 8). Nachhaltige Digitalisierungsprojekte spielen dabei ohnehin keine Rolle.

 

2. „Sofortprogramme“ und der „iterative Gesamtprozess“

Als intensiv bespieltes Stereotyp zur medienwirksamen Propagierung akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarfs griff das BMG in der letzten Legislaturperiode wiederholt die vorgebliche Alternativlosigkeit des eigenen politischen Handelns auf – und recycelte damit doch nur die im politischen Prozess seit den 1980er Jahren aus dem Großbritannien der Thatcher-Ära („There is no alternative“) bekannte TINA-Floskel (Séville 2018: 22 ff.).

Zwar firmierten unter dem letztlich beliebig verwandten Rubrum „Sofortprogramm“ mindestens sowohl das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) 2018 als auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) 2019 (Bt-Drs. 19/4453: 1 bzw. 19/6337: 51). Beide Gesetzeswerke zeichneten sich aber namentlich durch das Ansinnen aus, ohne vorbereitenden näheren öffentlichen und fachlichen Diskurs in einer Art Hau-ruck-Vorgehen grundlegende und hoch finanzwirksame Neuerungen durchsetzen zu wollen. Dies gilt einmal hinsichtlich des PpSG in Sonderheit für die Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus der DRG-Vergütungssystematik im Krankenhausbereich, was faktisch die partielle Rückkehr zum in einem mühseligen Prozess Anfang des Jahrhunderts abgeschafften Selbstkostendeckungsprinzip bei der Vergütung stationärer Krankenhausleistungen bedeutete (Leber/Vogt 2020: 130 ff.; Giebeler/Eisenmenger 2021: 7 f.). Zum anderen gilt dies im Hinblick auf die TSVG-Bestimmungen, mit denen der publikumswirksam als hoch kritisch gebrandmarkte zeitnahe Zugang zur ambulant-ärztlichen Versorgung für GKV-Versicherte nachhaltig optimiert werden sollte.

In beiden Zusammenhängen wurde schnell deutlich, dass die konzeptionelle Anlage der Regelungen den mit der breiten öffentlichen Vermarktung geweckten Erwartungen nicht annähernd standhalten konnte. An der problematischen Personalsituation in stationären Einrichtungen hat sich – auch losgelöst von den Sonderbelastungen in Folge der Corona-Pandemie – genau so wenig nachhaltig etwas verändert wie an den Wartezeiten für Versicherte auf Facharzttermine (Hermann 2021b: 38, mwNw). Mittlerweile sieht offenbar die Ampelkoalition selbst Korrekturbedarf, wenn sie nunmehr im Entwurf eines GKV-Finanzstabilisierungs­gesetzes ankündigt, die Doppelfinanzierung von Pflegepersonalkosten im Krankenhaus beenden und die extrabudgetäre Vergütung für die (Wieder-)Behandlung von Neupatientinnen und Neupatienten rückgängig machen zu wollen (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz-E: 26 f.).

Wo objektiv seit langem ein massiver gesetzgeberischer Handlungsbedarf auch bereits zu Beginn der letzten Legislaturperiode vorlag – bei der Implementierung zielführender digitaler Verfahren in der bundesrepublikanischen Gesundheits- und Pflegelandschaft –, ließ sich die GroKo III hingegen deutlich Zeit. Dort, wo Strukturierung ebenso wie systemisch akute Fortschritts- und Umsetzungsdefizite mit Händen zu greifen waren, blieb das ansonsten beliebte „Sofortprogramm“ aus.

Zwar widmete der Koalitionsvertrag (KOV) 2018 dem Themenfeld „E-Health und Gesundheitswirtschaft“ erstmals einen besonderen Abschnitt im Kapitel „Gesundheit und Pflege“, doch war dabei viel von Prüfung, Weiterentwicklung und besserer Nutzung die Rede (KOV 2018: 101). Dabei rekurrierte die GroKo offensichtlich auf das Ende 2015 in Kraft getretene E-Health-Gesetz der GroKo II unter BMG Gröhe, das freilich nach einem Dutzend Jahren Stagnation bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und der Infrastruktur für telematische Anwendungen (Knöppler/Bottling et al. 2020: 40 f.; Amelung/Binder et al. 2017: 8 f.) erste eGK-Applikationen, die Etablierung der Telematik-Infrastruktur und die Verbesserung der Interoperabilität versprochen hatte (Bt-Drs. 18/5293: 26 ff.), aber kaum mehr bot als den Versuch, Einzelelemente der Nutzung IT-gestützter Prozesse in der Gesundheitsversorgung voranzubringen. Von einem strukturierten Fahrplan zur umfassenden Digitalisierung des bundesdeutschen Gesundheitswesens war im E-Health-Gesetz nichts zu finden.

In einer Ende 2018 veröffentlichten umfangreichen Vergleichsstudie zum Stand der Digitalisierung des Gesundheitssektors im internationalen Vergleich von 17 EU- und OECD-Ländern landete Deutschland gemeinsam mit der Schweiz, Frankreich und Polen in der Gruppe mit dem am geringsten ausgeprägten Digitalisierungsgrad (Indexwert <50) und selbst dort noch auf dem vorletzten Platz (Digital-Health-Index 30,0; Bertelsmann Stiftung 2018: 224 ff., v.a. Tab. 26, 225). Analytisch hervorgehoben werden dort insbesondere der Mangel „an einer übergeordneten strategischen Orientierung“ und die fehlende „zentrale politische Koordination bei der Etablierung von Digital Health“ (ebd., 255). Die wiederholten Verschiebungen in der (erneut) im E-Health-Gesetz vorgegebenen Terminleiste für die Einführung einzelner IT-Komponenten in der Versorgung (Knöppler/Bottling et al. 2020: 41) lieferten zeitgleich den schlagenden praktischen Nachweis für die Stichhaltigkeit der Diagnose: „Es gibt keine umfassenden verbindlichen Zielformulierungen, Richtlinien oder Fristen für ein digitales Gesundheitssystem als Ganzes“ (Bertelsmann Stiftung 2018: 56).

Auch wenn offen bleiben mag, ob die desaströsen Ergebnisse des internationalen Digital Health-Vergleichs in Deutschland Ende 2018 tatsächlich eine „Welle der Empörung“ auslösten und „die Politik erschütterte“ (Seebach/Wasilewski 2021: 28), fällt für den politischen Prozess gleichwohl auf, dass rund ein Jahr nach Veröffentlichung der Studie mit dem Ende 2019 in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ein (erster) weitergehend angelegter Digitalisierungsversuch für das Gesundheitswesen durch die GroKo III erfolgte.

Hier wurden nunmehr neben der plakativ medienwirksam gern als „App auf Rezept“ (Brönneke/Debatin et al. 2020: 5 u.ö.; Seebach/Wasilewski 2021: 241 u.ö.) vermarkteten Einführung Digitaler Gesundheitsanwendungen in der GKV (DiGA), die es gleich näher zu betrachten gilt, erstmals insbesondere auch Krankenhäuser sowie Apotheken und damit alle wesentlichen Systemakteure unter Fristsetzung zur Einbindung in die Telematik-Infrastruktur verpflichtet (§§ 291 II c 4, 5 bzw. 31 a III 4 SGB V i.d.F. des DVG). Die DVG-Regelungen wurden von der GroKo denn auch wolkig als „wichtiger Schritt im Rahmen eines iterativen Gesamtprozesses“ gefeiert, den es „auch im Rahmen zukünftiger Gesetzesvorhaben agil fortzusetzen gilt“. Es gehe um ein „stetes Ausbalancieren im Spannungsfeld zwischen der gesellschaftlichen Verantwortung, dem Nutzen für die Versorgung und dem Machbaren“ (Br-Drs. 360: 19).

 

3. Aktionismus und Absentismus II

Auch wenn das BMG seinem selbst ohne Corona-Law insgesamt beispiellosen Gesetzesstakkato entsprechend versuchte, mit dem Patientendaten-Schutzgesetz (PDSG) 2020 und dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungsgesetz (DVPMG) in den letzten Wochen der ausgehenden Legislaturperiode Mitte 2021 dem DVG weitere quantitativ extrem umfangreiche Digitalisierungsregularien mit teilweise weitreichenden Zukunftsfestlegungen nachzuschieben, hinderte dies dessen ungeachtet die Ampel-Koalitionäre nicht daran, in ihrem KOV Ende letzten Jahres gleichwohl zunächst eine Art Reset zu verkünden. Es wird eine neue „regelmäßig fortgeschriebene Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege“ annonciert, die einen „besonderen Fokus auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer“ lege (KOV 2021: 84). Hier wird ganz offensichtlich Anschluss gesucht an die Empfehlungen für strategische Schritte durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem kurz zuvor veröffentlichen Gutachten zur Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen (SVR 2021: v.a. Rn 719 ff.).

Bis zum Sommer 2022 schrumpfte das Projekt allerdings zur bloßen Absichtserklärung einer „Initiierung eines Prozesses zur Erarbeitung einer Digitalisierungsstrategie“. Das BMG bereite, heißt es nunmehr in deutlich defensiver Diktion, lediglich „derzeit einen entsprechenden Strategieprozess sowie einen damit zusammenhängenden breiten Beteiligungsprozess vor“, der „voraussichtlich im Spätsommer 2022 beginnen“ (!) werde (BMG-Bericht 2022: 15).

Damit sind Formulierungen gewählt, die den fatalen Verdacht nähren, dass selbst die schier unendliche Geschichte der Implementierung einer versorgungsförderlichen eGK durchaus ein weiteres Nachspiel finden könnte. Deren Einführung inklusive sinnhafter Anwendungen befindet sich mittlerweile trotz des Neuanlaufs eines E-Health-Gesetzes und der ihm unter BMG Spahn folgenden DVG, PDSG und DVPMG gegenüber der ursprünglichen politisch vorgegebenen Zeitplanung in einem Timelag-Tunnel mit mehr als 15 Jahren Verzug (eGK-Einführung „bis spätestens zum 1. Januar 2006“, § 291a I SGB V i.d.F. des GKV-Modernisierungsgesetzes – GMG – der damaligen rot-grünen Koalition 2003). Die wesentliche Ursache dafür darf neben den Technikproblemen namentlich in der „komplexen Kommunikationsstruktur zwischen einer Vielzahl von Beteiligten mit unterschiedlichsten Interessen“ (Hornung 2022: Rn 4) gesehen werden. Sinnhaftigkeit und genauer Verbleib der dabei bisher verbrauchten GKV-Finanzmittel in Milliardenhöhe näher zu beleuchten wäre eine eigene Untersuchung wert.

Zu den DiGA findet sich im Ampel-KOV direkt kein Bezug mehr. Ihre Einführung bildete indessen – insoweit durchaus berechtigt – das primär hervorgehobene Regelungselement im DVG der GroKo 2019 (vgl. Bt-Drs. 19/13438: 19). Erstmals in der fast 140jährigen Geschichte der GKV wurde hier, wie von den fachlich im BMG Verantwortlichen nachdrücklich betont worden ist, grundsätzlich ein gesetzlicher Anspruch „nicht auf analoge Leistungen, sondern auf digitale Produkte“ geschaffen (Ludewig/Klose et al. 2021: 1198).

 

4. Analogieansagen und ein weites Feld

In der Tat erschließen die Regelungen des DVG sowie die damit verbundenen Anschlussregularien namentlich der Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) aus dem Frühjahr 2020 Neuland für das deutsche Gesundheitssystem insgesamt. Die DiGA-Konstruktion umschließt insbesondere die grundsätzliche Einführung eines eigenständigen Leistungsanspruchs von GKV-Versicherten auf „Versorgung mit Medizinprodukten niedriger Risikoklasse, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht und die dazu bestimmt sind“, Versicherte in ihrer Versorgung „zu unterstützen (digitale Gesundheitsanwendungen)“ (§ 33a I [hier 1] SGB V), ein originäres Zulassungs- und Bewertungsverfahren für DiGA in § 139e SGB V und die Gestaltung der Preisbildung über besondere Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen (bzw. dem Zentralverhandler GKV-Spitzenverband) und Leistungserbringern (Herstellern von DiGA) in § 134 SGB V. Es wird ein „vollständig neuer Produktmarkt“ im GKV-System eröffnet (Stallberg 2022: Rn 245).

Die offiziösen Verlautbarungen zur DiGA-Etablierung werden deshalb auch nicht müde, „die weltweite Aufmerksamkeit“ zu betonen, die die „wirkmächtige Neuerung“ der DiGA-Einführung erfahren habe. In „keinem anderen zusammenhängenden Gesundheitsmarkt der Welt“ gebe es „klare Anforderungen, einen strukturierten Prozess und gleichzeitig auch klare Vergütungsregelungen für DiGA“. Das Vorgehen stelle gar eine „Zeitenwende“ (!) im deutschen Gesundheitswesen dar (Brönneke/Debatin et al. 2020: 15; ebenso Debatin 2020: 10; ders. 2022: 23). Innerhalb „einer Legislatur“ habe der Gesetzgeber „die App auf Rezept von einem abstrakten Konzept“ in die „Versorgungsrealität der Patienten überführt“ (Debatin 2022: 23). Die ersten Zulassungen von DiGA Ende 2020 sind dementsprechend auch als „Meilenstein“ gefeiert worden (Debatin 2020: 10).

Das DiGA-Regelungsregime ist namentlich im Kontext der Vergütungskonzeption nach der in der Begründung ausdrücklich bemühten Analogie den Regelungen für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen nach § 130b SGB V (AMNOG-Verfahren) nachgebildet. Die dortigen Vorschriften seien „soweit passend“ in die DiGA-Welt übernommen worden (Bt-Drs. 19/13438: 58; Brönneke/Debatin et al. 2020: 28).

Allerdings beschränken sich die Parallelen bei genauerer Betrachtung allenfalls auf rein fristenbezogene Anleihen. Die verfahrens- und materiellrechtliche Ausgestaltung weicht in den Kernelementen viel eher gravierend vom AMNOG-Regime ab, als dass sich analoge Verfahrensweisen finden ließen.

 

4.1. Neue Player und neues Procedere

Schon die Gestaltung des grundsätzlichen Zugangs zum Leistungsanspruch von Versicherten ist alles andere als parallel zum 2010 entwickelten AMNOG-Verfahren ausgelegt. Während bei neu auf den Markt kommenden Arzneimitteln die arzneimittelrechtliche (EMA-)Zulas­sung zunächst unmittelbar das Leistungsversprechen für Versicherte auslöst (§ 31 I SGB V), bedarf eine DiGA zur Verordnungs- oder Erstattungsfähigkeit im Rahmen der GKV zunächst ihre Aufnahme in das eigens beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geführte Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen nach § 139e SGB V (§ 33a I 2 SGB V; §§ 20-22 DiGAV).

Die Eintragung in das DiGA-Verzeichnis im Sinne einer „Positivliste“ der GKV-finanzierten Produkte (Kircher 2022: Rn 1; Stallberg 2022: Rn 251; Axer 2022: 271 mwNw) erfolgt im Anschluss an das erfolgreiche Durchlaufen eines maximal auf drei Monate begrenzten neuartigen „Fast Track“-Verfahrens beim BfArM. Zentrales Element dieses Vorgangs bildet neben den vom Hersteller zu erbringenden Nachweisen zu (Daten-)Sicherheit oder Interoperabilität des Produkts der Nachweis eines positiven Versorgungseffekts der DiGA (§ 139e II, III 1 SGB V).

Während indessen der Nutzen von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen in einem nach den Regeln HTA-basierter Erkenntnis gestalteten besonderen Bewertungsverfahren durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) unter Einbeziehung des den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin verpflichteten Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG; vgl. § 139a IV SGB V), also regelmäßig anhand der Vorlage klinischer Studien höherer Evidenzstufen, erfolgt (§ 35a SGB V), kennt das DiGA-Verfahren kein vergleichbares Vorgehen. Das BfArM stellt zum Nachweis eines positiven Versorgungseffekts, wie in der DVG-Begründung ausdrücklich hervorgehoben wird, „keine vergleichbar hohen Evidenzanforderungen“. Dies sei insbesondere durch das „geringe Risikopotential“ und die „vergleichsweise niedrigen Kosten“ von DiGA gerechtfertigt (Bt-Drs. 19/13438: 59). Dabei gilt als positiver Versorgungseffekt neben dem „klassischen“ medizinischen Nutzen auch eine „patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung“ (§ 139e II 3 SGB V).

Anders als im Kontext der AMNOG-Regelung, wo mit dem G-BA aufgrund der dort konzentrierten Entscheidungskompetenzen zum GKV-Leistungs- und Leistungserbringungsrecht die „beherrschende Steuerungsinstanz“ (Hollo 2022: Rn 4) der gemeinsamen Selbstverwaltung in der GKV agiert, erfolgt im DiGA-Bereich die Konkretisierung des Leistungsumfangs – den Maximen der sukzessive verschobenen Systemsteuerung nach Art des exekutiven Dirigismus folgend – gerade nicht innerhalb der Strukturen der Selbstverwaltung, sondern mit dem BfArM durch eine Bundesoberbehörde im Zuständigkeitsbereich des BMG – also durch unmittelbare Staatsverwaltung.

Die Behörde direkt prüft im „Fast Track“-Verfahren die normativ reduzierten Anforderungen an das Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot des Krankenversicherungsrechts. Der positive Versorgungseffekt im DiGA-Zusammenhang wird definiert durch den Nachweis, dass die DiGA-Anwendung „besser ist als deren Nichtanwendung“, wobei Nichtanwendung in diesem Sinne eine „Nichtbehandlung oder eine Behandlung ohne“ DiGA sein kann (§ 10 I, IV 1 DiGAV). Ein definierter Zusatznutzen gegenüber zweckmäßigen Vergleichstherapien (zVt) und deren weiterer Bewertung, wie sie für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen gesetzlich explizit gefordert ist (§ 35a I SGB V), wird somit gerade nicht verlangt (vgl. Braun 2019: 769). Auch in dem Fall, dass es sich bei der DiGA um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode handeln sollte, bleibt der GBA außen vor. Einer entsprechenden GBA-Richtlinie bedarf es ausdrücklich nicht (§ 33a IV 2 SGB V), so dass auch das im ambulanten Bereich hier grundsätzlich geltende Verbot der Leistungserbringung ohne entsprechende GBA-Richtlinie nicht greift (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt; § 135 I SGB V). Das „Fast Track“-Verfahren kann deshalb beim Vergleich mit dem AMNOG-Regime als eine Art „Aufnahmeverfahren light“ (Axer 2022: 270 f.) charakterisiert werden (vgl. auch SVR 2021: Rn 361 f., 427 f.).

Zudem brauchen positive Versorgungseffekte vom Hersteller nicht unmittelbar zum Zeitpunkt des Aufnahmeantrags in das DiGA-Verzeichnis beim BfArM nachgewiesen zu werden. Sie können auch erst während des Zeitraums einer ansonsten im GKV-Recht grundsätzlich unbekannten vorläufigen Aufnahme auf „Erprobung“ erfolgen, für die regelhaft zwölf Monate und im Einzelfall bis zu 24 Monate vorgesehen sind (§ 139e IV SGB V). Die Leistungsverpflichtung der Sozialversicherung (und der Leistungsanspruch der Versicherten) besteht damit für eine durchaus beachtliche Zeitspanne im Zweifel unabhängig von einem belegten positiven patientenrelevanten Nutzennachweis. Beizubringen sind zunächst allein eine systematische Datenauswertung zur bisherigen Nutzung der DiGA im zweiten Gesundheitsmarkt und ein unabhängig erstelltes wissenschaftliches Evaluationskonzept, das die Erkenntnisgenerierung während der Erprobungsmonate erwarten lässt (§ 134 IV 2 SGB V; §§ 14 f. DiGAV).

Seitdem DiGA erstmals ab Herbst 2020 als GKV-Leistung zur Verfügung stehen, zeigt sich in der Versorgungsrealität durchgängig, dass die ohne vorliegenden Nutzennachweis (zunächst) temporär in das BfArM-Verzeichnis aufgenommenen Anwendungen ein deutliches Übergewicht unter den gelisteten Produkten ausmachen. Nach einem Jahr „Fast Track“-Verfahren waren im Herbst 2021 von insgesamt 15 im Verzeichnis aufgeführten DiGA lediglich fünf dauerhaft, also mit Nutzennachweis aufgenommen (Bt-Drs. 20/1647: 9), Mitte Juli 2022 von mittlerweile insgesamt aufgeführten 33 DiGA zwölf (BfArM 2022; eigene Auswertung). Von den beim BfArM seit Aufnahme des Verfahrens insgesamt bis Juli 2022 dort eingereichten 142 Anträgen erfolgten ohnehin mehr als drei Viertel (107) zur vorläufigen Aufnahme auf Erprobung (ebd.).

Die Anzahl der im ersten Jahr bis Herbst 2021 verordneten oder genehmigten DiGA belief sich auf insgesamt 50.112 (Bt-Drs. 20/1647: 12), was im Vergleich zu den gleichzeitig erfolgten Verordnungen von Arzneimitteln in der GKV (2020: 684 Millionen) einem verschwindend geringen Anteil von lediglich 0,007% entspricht (Telschow/Schröder et al. 2021: 242 f.).

 

4.2. Bekannte Player und neues Procedere

Eine nachvollziehbare Parallelität von AMNOG- und DiGA-Regime erschließt sich aufgrund von einzelnen Formulierungen und der Systematik auch auf der Ebene der Preisgestaltungsregularien allenfalls vordergründig. Ebenso wie bei Erstattungen von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen das pharmazeutische Unternehmen können DiGA-Hersteller im ersten Jahr der Vermarktung den Preis des Produkts und damit gleichzeitig den von der GKV-Solidargemeinschaft aufzuwendenden Betrag grundsätzlich frei festlegen. Verhandelte Preise zwischen dem GKV-Spitzenverband und den pharmazeutischen bzw. DiGA-Herstellern („Erstattungsbetrag“ hier, „Vergütungsbetrag“ dort) gelten übereinstimmend jeweils „ab dem 13. Monat“ bzw. „nach dem ersten Jahr“ der Markteinführung (§§ 130b III a 2 bzw. 134 I 1 SGB V).

Sollte die Regelung aus dem derzeit verhandelten Regierungsentwurf des GKV- Finanzstabilisierungsgesetzes im Hinblick auf die AMNOG-Arzneimittel gesetzgeberisch abschließend realisiert werden, wonach – in Übereinstimmung mit der Vereinbarung der Koalition (KOV 2021: 88) – die Geltung des Erstattungsbetrages auf den siebenten Monat vorgezogen wird (Art 1 Nr 12e GKV-Finanzstabilisierungsgesetz-E), wäre zukünftig freilich auch dieser faktische Gleichklang nicht mehr gegeben. Zu den DiGA-Regularien verhält sich der Regierungsentwurf nicht. Im Arzneimittelbereich sollen durch die Novellierung Einsparungen von rd. 150 Millionen Euro jährlich erzielt werden (ebd., Begr A. IV 3.3: 30).

Unabhängig davon verdeckt die (ggfs. noch) Fristparallelität ohnehin leicht eine in den möglichen materiellen Konsequenzen wesentliche Differenz der betrachteten Regelungen. Während im AMNOG-Kontext der verhandelte (oder durch die Schiedsstelle festgesetzte) Arzneimittel-Erstattungsbetrag gleichzeitig in jedem Fall unmittelbar einen neuen allgemein gültigen Abgabepreis für das Pharmaunternehmen bestimmt (§ 78 III 1 AMG), besteht jedenfalls eine vergleichbare, die DiGA-Hersteller für den Vergütungsbetrag verpflichtende Norm dort nicht. Vielmehr haben hier Versicherte, die eine DiGA wählen, „deren Kosten die Vergütungsbeträge nach § 134“ übersteigen, „Mehrkosten selbst zu tragen“ (§ 33 a I 4 SGB V; Bt-Drs. 19/13438: 57; vgl. auch Kluckert 2020: 202).

Der DiGA-Vergütungsbetrag bekommt damit zumindest auf den ersten Blick leistungsrechtlich eher die Gestalt eines Festbetrages (so Kluckert: ebd.; Krasney 2020: 455), obwohl andererseits im Unterschied zu den Festbetragsregelungen im GKV-Recht DiGA-Vergütungsbeträge gerade nicht für eine ganze Gruppe austauschbarer Produkte festgelegt werden, sondern das Ergebnis der DiGA-spezifischen Verhandlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem jeweiligen DiGA-Anbieter sind (Kircher 2022: § 134 Rn 5; Axer 2022: 275). Völlig anders als das schon auf gesetzlicher Grundlage strikt durchnormierte Festbetrags-Regime (vgl. §§ 31 II, 35 SGB V) haben es die DiGA-Konstrukteure einzig bei dem letztlich kryptischen Hinweis auf vom Versicherten zu tragende Mehrkosten belassen. Tatsächliche Anwendungsfälle für diese Regelung bleiben damit aber weithin „unklar“ (Kircher 2022: § 33a Rn 19).

Wird zudem die ebenfalls völlig unterschiedliche Gestaltung bei den Zuzahlungsregularien einbezogen, trägt auch dies nicht gerade zur Verklarung der Strukturmerkmale des DiGA-Vergütungsregimes bei. Im Gegenteil löst es allenthalben „Befremden“ (Axer 2022: 275) aus. Versicherte haben bei Arzneimitteln unabhängig von der Begrenzung der Kostenübernahme durch die Krankenkasse bei Bestehen eines Festbetrages grundsätzlich eine Eigenbeteiligung von bis zu 10 Euro je Arzneimittel zu leisten (§§ 31 III 1, 61 1 SGB V; 2019: insgesamt 2,39 Milliarden Euro; WIdO 2020: 8), für eine gelistete DiGA fällt jedenfalls eine unmittelbar gesetzlich verfügte Selbstbeteiligung nicht an.

Auch eine zunächst plausibler erscheinende Parallele zwischen den Festbeträgen im Arzneimittelsektor und dem DiGA-Vergütungsregime führt nicht sehr weit. Zwar ist, wie bei der Festsetzung von Festbeträgen für vergleichbare Gruppen von Arzneimitteln, ebenfalls die Vereinbarung von Höchstbeträgen für die Vergütung von Gruppen vergleichbarer DiGA durch den GKV-Spitzenverband und die maßgeblichen Spitzenorganisationen der Hersteller auf Bundesebene vorgesehen (Rahmenvertragspartner; § 134 V 3 Nr 2 SGB V). Höchstbetragsgruppen werden allerdings anders als bei Arzneimittel-Festbeträgen von vornherein nicht für einen letztlich unbestimmten Zeitraum gebildet, sondern ausschließlich für das erste Jahr des Marktzugangs, für den (zunächst) – als vordergründige AMNOG-Parallele – die bekannte freie Preisgestaltung durch den DiGA-Hersteller gilt. Hier – und ausschließlich hier – greifen Höchstbeträge GKV-erstattungsbegrenzend ein. Die Preisfestsetzung durch die Hersteller wird rechtlich direkt gar nicht adressiert, wenn sie auch praktisch (meist) mittelbar beeinflusst werden dürfte.

 

5. Exekutiver Dirigismus und DiGA-Konstrukt

Die Festlegung von Höchstbeträgen ist im Unterschied zu Festbeträgen freilich normativ nicht zwingend vorgegeben, sondern bleibt (formal) fakultativ ausgestaltet. Indessen kann das BMG spätestens seit der Ergänzung durch das DVPMG im letzten Jahr durch administrative Anweisung von den Rahmenvertragspartnern (oder an deren Stelle durch die Schiedsstelle) letztlich die Vereinbarung von Höchstbeträgen diktieren (§ 134 V 6 SGB V), so dass hier von einer Art „freiwilligem Zwang“ der Vertragsparteien ausgegangen werden muss. Deren Ermessen darf jedenfalls als „gegen Null tendierend“ (Axer 2022: 276; s. auch SVR 2021: Rn 399, 435) gelten.

Normative Vorgaben oder Kriterien für die Gruppenbildung, die Berechnung von Höchstbeträgen oder ihre Anpassung, ganz zu schweigen von Verfahrensregelungen sucht man allerdings ansonsten auch nach der DVPMG-Novellierung vergeblich. Die preisliche Abstufung innerhalb einer (wie auch immer zu bildenden) Höchstbetragsgruppe im Hinblick auf den aktuellen DiGA-Zulassungs­status (zur Erprobung oder dauerhaften Aufnahme) ist bereits durch das DVG vorgegeben worden (§ 134 V 4, 5 SGB V); damit hat es sein Bewenden. Diametral gegensätzlich zum Arzneimittel-Festbetragsregime bleibt die konkrete Gestaltung der Implementierung von DiGA-Höchstbeträ­gen ohne gesetzliche Leitplanken und in den wesentlichen Elementen allein den Partnern des Rahmenvertrags überlassen.

Freilich handelt es sich an dieser Stelle mitnichten etwa um eine ungeahnte Renaissance der einstmals vom damaligen BMG Seehofer Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts mantrahaft verkündeten „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ (Hermann 2020: Kap 6 mwNw). Die seinerzeit bemühte Beschwörungsformel des BMG suchte vornehmlich die eigene konzeptionelle Agonie bei der Bewältigung der strukturell aufgelaufenen GKV-Defizitsituation zu kaschieren (Knieps/Reiners 2015: 235).

Insoweit stieß der von BMG Spahn vorangetriebene Systemsteuerungsmodus des exekutiven Dirigismus, der substantiell gar keine originär gesundheitspolitische Agenda verfolgte, bei der DiGA-Implementierung im Weiteren schlicht an Grenzen. Das ausdrückliche Rekurrieren auf ein vermeintliches AMNOG-Vorbild mochte dem Vorgehen nach außen einen besonders modernistischen Anspruch verleihen, konkret bleibt die Analogie – wie gesehen – schnell im Oberflächlichen hängen. Normative Leitplanken für den von der Selbstverwaltung sodann näher auszufüllenden Prozess der formellen Ausgestaltung eines neuartigen Versorgungssegments zu entwickeln erfordert einen ordnungspolitischen Kompass und systemische Antworten.

Der an dieser Stelle bei der DiGA-Etablierung dokumentierte Absentismus reiht sich somit auch ganz in das politische Schicksal der im KOV der GroKo III 2018 vereinbarten potentiell strukturrelevanten versorgungspolitischen Projekte ein (s. oben Kap. 1), die alle allenfalls dilatorisch angegangen worden sind. Der Hyperaktionismus des GroKo III-BMG mit zahllosen Sofortprogrammen, Stärkungs-, Modernisierungs- und Sonstwie-Gesetzen hat ein ums andere Mal gouvernemental das tradierte Systemgefüge zu Gunsten direkter zentralstaatlich-administrativer Intervention verschoben, den Versorgungsalltag aber auf Dauer wenig tangiert.

Genau in dieser Logik bewegt sich letztlich auch das DiGA-Konstrukt, wenn es die ansonsten über Jahre immer wieder düpierte Selbstverwaltung weithin „blank“ dastehen lässt. Die für den exekutiven Dirigismus wesentlichen Kompetenzen sind eindeutig verteilt. Oder metaphorisch gewendet: Die Frage, wer Koch und wer Kellner sei, stellt sich nicht. Im Zweifel diktiert die Administration das Menü. Ob die DiGA-Normen im Weiteren „im Hinblick auf die Eigenart dieses zu ordnenden Sachverhalts dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot“ genügen (BVerfG 106, 275 ff., Festbetragsurteil 2002), darf einstweilen dahinstehen (dazu Axer 2022: 272 f.; Stallberg 2022: Rn 262).

 

6. Startaufstellung und der operative Dreh

Es nimmt bei diesem volatilen Fundus nicht Wunder, dass die Vertragspartner trotz eines eineinhalbjährigen Verhandlungsmarathons kein Einvernehmen insbesondere über Höchstbeträge und insgesamt über die „Maßstäbe für die Vereinbarungen der Vergütungsbeträge“ (Rahmenvereinbarung (RV); § 134 IV 1 SGB V) erzielen konnten. An deren Stelle musste die Schiedsstelle (§ 134 III, IV 3 SGB V) entsprechende Festlegungen im Wege der für GKV-Schiedsverfahren typischen Kompromissfindung (vgl. nur Schnapp/Düring 2016: Rn 12 ff.) treffen (RV-Entscheidungen vom 16.04. und 16.12.2021; Bt-Drs. 20/1647: 2 f.).

Neben den (minimalistischen) gesetzgeberischen Leitplanken und den einschlägigen Regelungen der DiGAV stellt die Rahmenvereinbarung für die DiGA-Preisfindung ausdrücklich fest, dass „im Besonderen“ das Ausmaß des positiven Versorgungseffekts zu berücksichtigen sei (§ 8 II RV). Die vorliegenden Preisvereinbarungen, die sämtlich auf Moderation oder abschließender Entscheidung der Schiedsstelle zustande gekommen sind, lassen durchgängig die Rationale erkennen, vornehmlich durch eine angemessene Einordnung der Qualität des Evaluationsstudiendesigns einerseits und durch das öffentlich dokumentierte Ausmaß des nachgewiesenen medizinischen Nutzens und/oder der nachgewiesenen patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen andererseits letztlich die Angemessenheit der jeweiligen Vergütungshöhe für eine DiGA zu ermitteln. Dieses Vorgehen folgt nicht zuletzt dem Ziel, gerade vor dem Hintergrund des Fehlens einer dem Nutzenbewertungsbeschluss des G-BA im AMNOG-Prozess nachempfundenen Grundlage (§ 35a III, IIIa SGB V) über Strukturierung und Systematisierung Plausibilität und Vergleichbarkeit bei der DiGA-Preisfestsetzung zu generieren.

Höchstbeträge für (maximal 34 nach Indikation und Art des Versorgungseffekts gebildete) Gruppen vergleichbarer DiGA (§ 3b RV) wird es nach einer weiteren Entscheidung der Schiedsstelle im Juli diesen Jahres erstmals zum 01.10.2022 geben – annähernd drei Jahre nach Verabschiedung des DVG. Das 2019 politisch als hübsches Mauerblümchen ins medienaffine Schaufenster gestellte Projekt „App auf Rezept“ erhält damit endlich operativ ein brauchbares Kleid.

 

7. Analogie zum Letzten

Weshalb indessen die DiGA-Schiedsstelle gesetzlich gezwungen wird, vor allen ihren Entscheidungen dem PKV-Verband stets „Gelegenheit zur Stellungnahme“ zu geben (§ 134 II 4, III 5 SGB V), macht ein letztes Mal die Vordergründigkeit der krampfhaft bemühten AMNOG-Parallelität bei der Entwicklung der DiGA-Konzeption deutlich. Im AMNOG-Kontext bezieht die dort seit jeher implementierte, an dieser Stelle tatsächlich absolut wortidentische Vorgabe (§ 130b 4 IV SGB V) ihre Legitimation zweifellos bereits aus der Tatsache, dass der dort zwischen dem GKV-Spitzenver­band und dem Pharmaunternehmen vereinbarte Erstattungsbetrag als einheitlicher, überall geltender Arzneimittelabgabepreis damit auch im Bereich der PKV unmittelbar Wirkung entfaltet (s. oben Kap. 4.2.).

Im DiGA-Kontext existiert eine entsprechende Wirkung aber schlichtweg gar nicht.

 

Literatur

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  • BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) 2022: DiGA-Verzeichnis, Download und Stand 20.07.2022, https://DiGA.bfarm.de/de/verzeichnis
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  • Séville A 2018: Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft, München
  • Stallberg C 2022: Erstattungsrecht, in: Rehmann/Tillmanns, 67-102
  • SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) 2021: Digitalisierung für Gesundheit. Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems, Gutachten, Bonn/Berlin
  • Telschow C/Schröder M et al. 2021: Der Arzneimittelmarkt 2020 im Überblick, in: Schröder H/ Thürmann P et al. (Hg): Arzneimittel-Kompass 2021. Hochpreisige Arzneimittel – Herausforderungen und Perspektiven, Berlin, 241-271
  • Ulrich V/Wille E 2021: Haushalts- und wirtschaftspolitische Illusionen und Gefahren der Steuerfinanzierung von Sozialversicherungssystemen, Gesellschaftspolitische Kommentare, Sonderausgabe 2, 1-14
  • Verbände der Krankenkassen 2022: Im Interesse der Beitragszahlen: Verbände fordern dringend Nachbesserungen am Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, gemeinsame Pressemitteilung 13.07.2022
  • Wallet N 2022: Die Pflegeversicherung fährt auf Reserve, Stuttgarter Nachrichten, 25.06.2022, 4
  • Wasem J 2022: Status quo und Perspektiven der aktuellen Finanzsituation der GKV, Folienvortrag 1/2022
  • WIdO (Wissenschaftliches Institut der AOK) 2020: Der GKV-Arzneimittelmarkt: Klassifikation, Methodik und Ergebnisse 2020, Berlin

 

 

Weitere Beiträge zu DiGA im Observer Gesundheit: 

Höchstbetrag und Schwellenwert für DiGA entschieden, Pia Maier, Oberserver Gesundheit, 13. Juli 2022

Höchstbeträge für DiGA, Pia Maier, Observer Gesundheit, 23. Dezember 2021,

Verhandeln mit der Rahmenvereinbarung, Pia Maier, Observer Gesundheit, 16. April 2021,

Droht das Aus vor dem Durchstarten?, Pia Maier, Observer Gesundheit, 15. Dezember 2020,

Was dürfen DIGA kosten?, Pia Maier, Observer Gesundheit, 2. Oktober 2020,

Digitale Gesundheitsanwendungen – Chance für das Gesundheitswesen, Pia Maier, Observer Gesundheit, 24. Januar 2020.

 


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