Telematik-Infrastruktur: ein Fiasko für Ärzte, aber noch mehr für die Pflege

Thomas Meißner, Mitglied des Vorstandes im AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG)

Die neue Finanzierungsvereinbarung zur Telematik-Infrastruktur (TI) ist kein Gewinn. Für Ärzte ist das Kostenmodell auf die Bestrafung der Nichtanschaffung ausgelegt. Die Pflege hat erstmal das Nachsehen; allenfalls im Nachgang sind Änderungen zu erwarten. Verpasst wurde zudem, deutlich zu machen, wann die Telematik endlich greift. Warum die Politik dennoch von einer Beschleunigung bei der Digitalisierung spricht, ist rätselhaft.

Es bleibt zu hoffen, dass die Digitalschnecke zumindest in die richtige Richtung läuft. Dafür lohnt ein Blick in die Kostenerstattung, um die Probleme aufzuzeigen. Die Kostenerstattung für die TI im Bereich der Pflege entsprechend des § 106b SGB XI knüpft inhaltlich an die bestehenden Regelungen der Kostenerstattungen für die TI im Bereich der Ärzteschaft nach § 378 SGB V an.

Da jene Neuverhandlungen in der aktuellen Verhandlungsperiode zwischen Ärzte- und Kassenverbänden scheiterten, legte das Bundesministerium für Gesundheit die neuen Modalitäten der TI-Kostenerstattungen fest. Diese wurden gültig zum 1. Juli 2023 und verändern die Grundregeln der Kostenerstattung fundamental.

 

Altes Kostenmodell mit neuem nicht kompatibel

Das alte Kostenerstattungsmodell war geprägt durch die jahrelangen Entwicklungen und Weiterentwicklungen der TI Anwendungen selbst. Folglich hatten alle neu hinzugekommenen Anwendungen einen eigenen Geldwert, den es zu erstatten gab. Denn eine Arztpraxis, die seit der ersten Stunde an die TI angeschlossen war, benötigte bei jeder neuen hinzukommenden Anwendung ein Softwareupdate für die TI-Technik. Das alte Kostenerstattungsmodell war unpolitisch, hatte keine Anreize, um die Digitalisierung zu nutzen und sorgte genau für das, wofür es geschaffen wurde – es erstattete die Kosten, die anfielen. Aufgeteilt war das alte Kostenerstattungsmodell in die Bereiche „Erstausstattung“ und „Betriebskosten“.

Die Erstausstattungs-Pauschalen bezogen sich auf die Hardware und die generellen Kosten für die Inbetriebnahme und den Anschluss an die TI sowie die (teilweise) Kostenkompensation des Praxisausweises und ggf. des Heilberufeausweises und wurden einmalig als großer Geldbetrag erstattet. Die Betriebskosten sollten die „regelmäßigen“ Kosten für die Aufrechterhaltung und Nutzung der jeweiligen Anwendungen kompensieren und wurden daher zyklisch ausgezahlt.

Das neue Kostenmodell ist im Kern auf die Bestrafung der Nichtanschaffung ausgelegt und soll daher mit drastischen Kostenstrafen dafür sorgen, dass alle angeschlossenen Teilnehmer der Telematik Infrastruktur zeitnah auf Änderungen und Modernisierungen selbstständig reagieren und jene unverzüglich umsetzen. Tun sie dies nicht, erleiden sie einen herben finanziellen Verlust. Hierzu werden alle bisherigen Erstausstattungs- und auch Betriebskosten zusammengefasst und fortan zyklisch als sogenannte „TI-Pauschale“ ausgezahlt.

Für eine kleine Arztpraxis mit bis zu drei praktizierenden Vollzeitärzten nimmt das Bundesgesundheitsministerium einen TI-Erstausstattungsaufwand in Höhe von 6.366,50 Euro an. Der TI-Betriebskostenaufwand – gerechnet auf fünf Jahre – soll sich auf 7.900,00 Euro belaufen. Zusammen ergibt dies ein TI-Gesamtkostenaufwand – für fünf Jahre – in Höhe von 1.4266,50 Euro. Um auf einen einzelnen Monat zu kommen, wird die Gesamtsumme durch 60 Monate (= 12 Monate mal 5 Jahre) geteilt. Somit entsteht für eine solche Arztpraxis ein monatlicher TI-Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 237,78 Euro. In diesem monatlichen Pauschbetrag sind die Erstausstattungskosten sowie die Betriebskosten zusammen kumuliert. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen einmaligen Kosten, die zu Beginn als großer Pauschbetrag erstattet werden, und regelmäßige Betriebskosten, die zyklisch erstattet werden.

Damit die Arztpraxis diese neue monatliche TI-Pauschale auch erhält, ist sie verpflichtet, alle TI-Anwendungen „zu unterstützen“. Diese sind derzeit:

  • Notfalldatenmanagement (NFDM)/elektronischer Medikationsplan (eMP)
  • elektronische Patientenakte (ePA)
  • Kommunikation im Medizinwesen (KIM)
  • elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
  • elektronischer Arztbrief (eArztbrief)
  • ab dem 1. Januar 2024: elektronische Verordnungen.

Ebenso ist die Praxis verpflichtet, die (technischen) Voraussetzungen, um an die TI angeschlossen zu werden, zu erfüllen. Das heißt, folgende Komponenten zu betreiben bzw. betreiben zu lassen:

  • Konnektor inkl. gSMC-K und VPN-Zugangsdienst, ggf. in Rechenzentrum gehostet, sofern dort zugelassene Komponenten und Dienste zum Einsatz kommen, oder TIGateway in Verbindung mit Nutzung eines Rechenzentrum-Konnektors
  • eHealth-Kartenterminal(s) inkl. gSMC-KT
  • HBA Smartcard oder eID für Ärzte mit gematik-Zulassung
  • SMC-B Smartcard oder SM-B oder eID für Vertragsarztarztpraxen mit gematik-Zulassung.

Unterstützt die Arztpraxis eine einzige der aufgeführten Anwendungen nicht, so wird die monatliche TI-Pauschale in ihrer Gesamtheit auf 50 % gekürzt. Unterstützt die Arztpraxis zwei der aufgeführten Anwendungen nicht, so wird die monatliche TI-Pauschale um weitere 50 % (und somit auf den Wert 0) gekürzt. Dies ist der Kern des neuen TI-Kostenerstattungsmodells.

 

BMG sorgt für Verwirrung

Man merkt schnell, dass das alte Kostenerstattungsmodell mit dem neuen nicht kompatibel ist. Das neue Modell kumuliert Erstausstattungskosten mit den Betriebskosten mit einem 5-Jahres-Zeitraum und errechnet den Monatswert.

Die „Bestandskunden“, also Teilnehmer, welche in den letzten Jahren bereits an die TI angeschlossen wurden, haben aber nach dem alten Kostenmodell bereits die TI-Erstausstattungskosten – also Kosten, für Hardware usw. – als Pauschale erstattet bekommen. Dementsprechend hat das Bundesgesundheitsministerium eine „reduzierte TI-Pauschale“ errechnet, aus jener diese bereits gezahlten Erstausstattungskosten bereits abgezogen wurden. Bestandskunden erhalten daher zunächst eine reduzierte TI-Pauschale. An dieser Stelle sorgt das Ministerium für reichlich Verwirrung, da es im neuen TI-Kostenerstattungsregelwerk den Begriff der „reduzierten TI-Pauschale“ gleichzeitig für zwei unterschiedliche Dinge verwendet.

Zum einen soll die „reduzierte TI-Pauschale“ (nach § 2) eben für alle TI-Teilnehmer gelten, die übergangsweise noch einen bestehenden Vertrag nach den alten Konditionen und somit alten Kostenerstattungsansprüchen haben bzw. hätten. Zugleich benutzt das neue Regelwerk den Begriff „reduzierte TI-Pauschale“ (nach § 5) auch, um die TI-Pauschalen als Strafmaßnahme der Nicht-Unterstützung von TI-Anwendungen zu sanktionieren und tabellarisch darzustellen. Es ist daher recht schwierig, im neuen Regelwerk durch die vielen Tabellen koordiniert durchzusteigen.

 

Angepasste Regelung zügig notwendig

Das neue Regelwerk für die TI-Kostenerstattung des Bundesgesundheitsministeriums bezieht sich im Kern auf die Nichteinigung der Ärzte- und Kassenverbände nach § 378 SGB V. Die Pflege hingegen ist gesetzlich von diesen Regelungen nach Maßgabe des § 380 SGB V bzw. 105b SGB XI abhängig.

Die bisherige Vereinbarung des Verfahrens zur Kostenerstattung gemäß § 106b Absatz 1 Satz 2 SGB XI in Verbindung mit § 378 Absätze 1 und 2 SGB V zwischen GKV Spitzenverband und den Verbänden der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene vom 31.05.2021 ist daher hinfällig. Zum einen beizieht sie sich inhaltlich auf nicht mehr existierende Regelungen. Zum anderen wurde die neue TI-Kostenerstattung derart radikal umgebaut, dass eine simple „analoge“ Anwendung für die Pflege nicht mehr aus dem Regelwerk heraus interpretierbar ist.

Es bleibt daher zu hoffen, dass der GKV-Spitzenverband mit den Verbänden der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene nun erneut eine angepasste Regelung erstellt, und dies recht zügig. Eine reine analoge Anwendung des neuen Regelwerks – ohne eine solche Ergänzungsvereinbarung wie sie gesetzlich vorgesehen ist – wäre fatal.

 

Pflege hat keinen Zugriff auf TI-Anwendung

Das neue Regelwerk gibt vor, dass bei Nichtunterstützung einer einzigen TI-Anwendung die monatliche Gesamtpauschale um (auf) 50% gekürzt wird. Aktuell würde dies jeden Pflegebetrieb treffen, denn eine der TI-Anwendungen ist gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 die TI-Anwendung: „elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)“. Jene TI-Anwendung wird benötigt, um Arbeitnehmer krankzuschreiben. Eine Funktion und TI-Anwendung die in jeder Arztpraxis zwingend vorhanden sein sollte.

Für die Pflege trifft dies jedoch nicht zu. Tatsächlich darf die Pflege keine Arbeitnehmer krankschreiben und hat daher auch keinerlei Zugriff auf diese TI-Anwendung. Würde man also das neue Regelwerk rein analog und somit ohne entsprechende neue Vereinbarung für das Verfahren zur Kostenerstattung gemäß § 106b Absatz 1 Satz 2 SGB XI in Verbindung mit § 378 Absätze 1 und 2 SGB V (im Bereich der Pflege) anwenden, würde dies zu einem kuriosen Ergebnis führen: Alle Pflegeeinrichtungen in Deutschland bekämen die monatlichen TI-Pauschalen um 50% gekürzt, ohne dies verschuldet zu haben. Denn laut dem neuen Regelwerk (§ 5) müssen alle TI-Anwendungen unterstützt werden, auch die „elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)“, wenn es zu keiner finanziellen Kürzung kommen soll. Wird diese TI-Anwendung nicht unterstützt – und im Bereich der Pflege ist dies stets der Fall – wird die monatliche Kostenpauschale daher um 50% gekürzt.

 

Vertragskosten im Blick haben

Zwar ist das neue Regelwerk des Bundesgesundheitsministeriums für die TI-Kostenerstattung direkt „nur“ auf die Ärzteschaft nach § 378 SGB V anwendbar, jedoch bildet es die Basis für weitere Berufsgruppen nach § 380 SGB V sowie die Pflege nach dem SGB XI. Dementsprechend kennt das neue Regelwerk unter § 3 Abs. 10 auch gleich eine Kostenreduzierung für alle weiteren Leistungserbringer nach § 380 SGB V, wie beispielsweise Hebammen, Physiotherapeuten und auch die Pflege.

So wurde die für die Ärzteschaft neu berechnete monatliche TI-Pauschale in Höhe von 237,78 Euro für die sonstigen Leistungserbringer (gemäß § 3 Abs. 10) gekürzt auf nur noch 192,80 Euro. Eine transparente Erklärung und Berechnung, welchen Grund es für diese Kürzungen gibt, erfolgt nicht.

Hoffnungsvoll stimmt hingegen die Regelung, dass pro weiteren Heilberufeausweis ein monatlicher TI-Kostenerstattungsanspruch in Höhe von zusätzlichen 7,20 Euro erfolgen soll. Dies entspräche tatsächlich den Kosten eines eHBA abzüglich der MWSt., berechnet auf die volle Vertragslaufzeit von 5 Jahren. Inwieweit diese Regelungen auch auf die Pflege Anwendung finden wird, bleibt abzuwarten, da es aktuell an einer neuen Vereinbarung für das Verfahren zur Kostenerstattung gemäß § 106b Absatz 1 Satz 2 SGB XI in Verbindung mit § 378 Absätze 1 und 2 SGB V mangelt. Pflegeeinrichtungen, die nun aktuell Verträge zur Anbindung an die TI eingehen, sollten auf die konkreten Vertragskosten achten.

Viele namhafte TI-Anbieter haben immer noch die „alten“ TI-Kostenerstattungssätze in den Verträgen und werben aktuell damit. Konkret würde dies bedeuten, dass man mit hohen Zahlungen gegenüber dem TI-Anbieter in finanzielle Vorleistung geht und die Kosten nur Stück für Stück, Monat für Monat in kleinen Pauschalen über die GKV zurückerstattet bekommt. Ebenso sind bereits TI-Anbieter auffindbar, die die neuen monatlichen TI-Pauschbeträge als Vertragsbasis anbieten. Auch hier sollte darauf geachtet werden, ob die TI-Pauschalen für die Ärzte (237,78 Euro) oder die gekürzten Pauschalen für die sonstigen Leistungserbringer (192,80 Euro) Vertragsbestandteil werden. Die monatliche Differenz in Höhe von 44,98 Euro mag klein erscheinen. Da es sich regelmäßig um 5-Jahresverträge handelt, würde die Pflegeeinrichtung jedoch auf der Differenz in Höhe von insgesamt 2.698,80 Euro sitzenbleiben.

Die meisten TI-Anbieter haben derzeit ihre Zahlenwerte von ihren Werbeseiten komplett entfernt und gehen in ihrer Werbung darauf ein, dass man schnell TI-Kunde werde. Dies ist kein gutes Zeichen und sollte jede Geschäftsführung noch sensibler machen, wenn es aktuell um die Vertrags- und Kostengestaltung der TI-Angebote geht.

 

Lesen Sie weitere Beiträge des Autors: 

„Wieviel Markt braucht eine Tarifpflicht?“, Observer Gesundheit, 22. Februar 2022,

„Relativiert statt reformiert“, Observer Gesundheit, 3. Juni 2021,

„Pflegekammer: Warum die Selbstbestimmung entscheidend ist“, Observer Gesundheit, 25. März 2021.


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