Wieviel Markt braucht eine Tarifpflicht?

Tarif-Treue-Regelung in der ambulanten und stationären Pflege vor der Umsetzung

Thomas Meißner, Vorstand Anbieterverband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG)

Von September 2022 an müssen alle Pflegeeinrichtungen ihre Beschäftigten tarifgebunden bezahlen. Wird dem nicht nachgekommen, erhalten die Einrichtungen keinen Versorgungsvertrag mit der GKV – so ist es im Gesundheitsversorgungsentwicklungsgesetz (GVWG) beschlossen. Bis spätestens 31. März 2022 sind alle Pflegeeinrichtungen aufgefordert, den Landesverbänden der Pflegekassen mitzuteilen, ob von September an entweder ein Tarifvertrag, kirchliche Tarifverträge (AVR) oder die von den Landesverbänden veröffentlichten Durchschnittswerte für die Entlohnung der Mitarbeiter in Pflege und Betreuung maßgeblich sind. Was das für die Pflegeeinrichtungen und die Betreuung der Patienten bedeutet: ein Rück- bzw. Ausblick zum Thema.

 

Gliederung:

1. Einleitung

2. Zur Erinnerung

3. Ungerechtfertigte Kritik an der privaten Pflege

4. Schere driftet auseinander

5. Keine gerechte Diskussion

6. Kampf mit den Kostenträgern um gute Bezahlung

7. Winkelzüge und Verhinderungsstrategien

8. Wo bleibt die Refinanzierung der Zuschläge?

9. Vertrauen zählt nicht

10. Richtige Kalkulation enorm schwierig

11. Wirtschaftliches Gefüge bricht schnell zusammen

12. Warum haben private Pflegedienste noch Mitarbeiter?

13. Wer übernimmt ohne private Pflegeeinrichtungen die Versorgung?

14. Preise liegen heute unter denen von 1996

15. Politische Befriedigung nach Tarifverträgen

16. Termine wurden von Kassen und vom Bund gerissen

17. Fristverlängerung um nur einen Monat

18. Größtes Problem: Refinanzierung

19. Veröffentlichungen lassen zentrale Fragen unbeantwortet

20. Gesetzgeber hat keine Plausibilitätsprüfung vorgesehen

21. Tarifbindung hat auch Nachteile

22. Fazit

 

1. Einleitung

Obwohl es in der Pflege bereits Mindestlohngrenzen gab, wurde am 26.02.2021 in erster Lesung der Entwurf für ein Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) beraten. Auf über hundert Seiten wurden verschiedenste Neuerungen angekündigt, und vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war zu hören, dass die damalige Koalition bereits zahlreiche Gesetze vorgelegt habe, um Medizin und Pflege besser auf die zwanziger Jahre vorbereiten zu können. Der damalige Gesetzentwurf löste Spekulationen aus, ob es der Bundesgesundheitsminister zum damaligen Zeitpunkt noch schaffen würde, eine Pflegereform auf den Weg zu bringen.

Der Druck vom damaligen Koalitionspartner SPD und dem heute und damals amtierenden Bundesarbeitsminister Hubertus Heil war nach dem gescheitertem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die Langzeitpflege so hoch, dass das Ping-Pong-Spiel zwischen dem CDU-geführten Bundesgesundheitsministerium und dem SPD-geführten Bundesarbeitsministerium in einem Gesetzesentwurf endete. Entschieden wurde dann auch vom Bundestag und Bundesrat die Regelung, dass ab dem 01.09.2022 Pflegeeinrichtungen in der Langzeit- und ambulanten Pflege nur noch Versorgungsverträge erhalten sollen, wenn sie bezüglich der Entlohnung der Beschäftigten im Pflege- und Betreuungsbereich entweder selbst einen Tarifvertrag (oder Haustarifvertrag) abgeschlossen haben oder an kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind. Die genaue Umsetzung der Reglungen und nähere Ausführungsbestimmungen soll eine Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes festlegen.

 

2. Zur Erinnerung

Die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) hatte unter viel Aufwand, vor allem aber unter viel Öffentlichkeit und unter der Schirmherrschaft dreier Bundesministerien, nämlich Arbeit, Familie und Gesundheit, für viel Aufsehen gesorgt. Lange Debatten und fünf Arbeitsgruppen, Akten und Berichte, viel Papier und Abstimmungsprozesse bestimmten interne und äußere Diskussionen der KAP. Deren großes Ziel war es, die Arbeitsbedingungen im Bereich der Pflege deutlich zu verbessern. Viele gemeinsame Bilder, Veranstaltungen und Diskussionsrunden bestimmten die öffentliche und interne Debatte zu diesen Themen.

 

3. Ungerechtfertigte Kritik an der privaten Pflege

Wo private Träger von Pflegeeinrichtungen zu Beginn der Pflegeversicherung in den neunziger Jahren noch als Innovationsmotor und als positive, dynamische Marktverbesserer gesehen wurden, kamen genau diese Träger von Pflegeeinrichtungen immer mehr in die Kritik, sie würden auf dem Rücken der Mitarbeiter und Patienten „Kasse“ machen.

„Renditeorientierte Pflegeunternehmer“ lautet die neue Schimpfbezeichnung der Einrichtungen, die bei der Umsetzung der Pflegeversicherung als wichtige Innovation explizit durch den Gesetzgeber gewollt waren. Und die Milliarden an Euro in die Versorgungssicherheit von vielen Millionen Pflegebedürftigen investiert haben. Nicht zu vergessen die vielen Hunderttausende an Arbeitsstellen. Doch: Ein neues Feindbild war geboren. Das kam auch gerade recht, um vom eigentlichen Dilemma im Bereich der praktizierenden Pflege abzulenken.

 

4. Schere driftet auseinander

Während auf den verschiedenen Landesebenen in den Entgeltverhandlungen zwischen Pflegekassen, Soziahilfeträger und Einrichtungen nach § 89 SGB XI, zum Teil Punktwerthöhen an Untergrenzen der Löhne und damit auch Entgeltsteigerungen an die Erhöhung von Löhnen gebunden waren, wurde am 02.06.2021 im Bundeskabinett abgesegnet, dass „das Geld der Pflegekassen nur noch an Tarif bezahlende Einrichtungen vergeben wird“. Am 28.06.2021 stimmte der Bundesrat der dann doch etwas umfassender gekommenen Pflegereform als Anhang an das GVWG zu. Die Attraktivität der Pflegeberufe sollte wieder einmal erhöht werden.

Mit der Reform sollte die Bezahlung von Pflegekräften nach Tarif Pflicht werden, ohne dass Mehrkosten auf Pflegebedürftige durchschlagen. So die damalige Intention. Ambulant wurde die Pflegesachleistung etwas erhöht; in Pflegeheimen bezuschusst die Pflegeversicherung vor allen in den ersten Jahren des Aufenthaltes der Pflegebedürftigen im geringen Maß die Heimentgeltzahlungen.

Die damalige Opposition, heute zweitstärkste Regierungspartei, äußerte über ihre pflegepolitische Sprecherin, dass diese Reform bestenfalls ein Pflege-Reförmchen sei. Die auch damals in der Opposition und heute an der Regierung beteiligte FDP machte darauf aufmerksam, dass die Reform nicht gegenfinanziert und verfassungsrechtlich fragwürdig sei. Und von den Linken hieß es, dass die Baustelle für die nächste Regierung noch größer geworden sei. Vonseiten des Bundesarbeitsministeriums, der SPD, wurde darauf hingewiesen, dass von den 1,2 Millionen Beschäftigten nur knapp die Hälfte Tariflohn erhalte.

 

5. Keine gerechte Diskussion

Um dies nochmals zu betonen: Sowohl das Bundesgesundheits- als auch das Bundesarbeitsministerium proklamierten damals, dass ab 1. September 2022 nur noch Einrichtungen Versorgungsverträge erhalten sollten, die nach Tarifverträgen oder mindestens in entsprechender Höhe bezahlen.

Dies solle vor allem für Pflegekräfte in Ostdeutschland Unterschiede machen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil betonte damals, dass über 500.000 Pflegekräfte davon profitieren würden. Die Linke kritisierte, dass es im Gesetz keinen Mechanismus gebe, der Gefälligkeitstarifverträge zwischen Pseudogewerkschaft und Anbietern ausschließt, die weiter „keine fairen Löhne zahlen“ wollen.

 

6. Kampf mit den Kostenträgern um gute Bezahlung

Vergessen wurde, damals wie heute, dass es sich gerade bei ambulanten Pflegediensten um über 14.000 klein- und mittelständische Unternehmen handelt, die seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 sich permanent im Kampf und unter dem Diktat der Kostenträger befinden, um für ihre Mitarbeiter einen gerechten Lohn zu erhalten. Gleiches galt damals wie heute auch für den Bereich der häuslichen Krankenpflege.

Hinzu kommt, dass es bis heute kein anwendbares Kalkulationsmodell gibt, um einen Zusammenhang und eine Relevanz herzustellen, dies zwischen der Höhe von Leistungsentgelten für die Pflege oder häusliche Krankenpflege und einer nachweisbaren Rehfinanzierung einer gerechten Bezahlung. Betrachtet man die letzten 30 Jahre dieses sogenannten „Marktes“, hat der Markt versagt und damit auch die so oft beschworene Selbstverwaltung bei der Preisfindung zwischen Kostenträgern und Pflegediensten.

Auch wenn der Gesetzgeber an vielen Stellen „Stellschrauben“ eingebaut hat, um das Verhandeln und die Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen Leistungserbringern und ihren Verbänden und den Kostenträgern sicherzustellen, sieht die Praxis der Entgeltverhandlungen völlig anders aus. Es ist ein sehr gering ausgeprägtes Interesse der Kostenträger, gerade bei ambulanten Leistungen sowohl im SGB V als auch im SGB XI, die Pflegedienste auskömmlich zu finanzieren.

 

7. Winkelzüge und Verhinderungsstrategien

Würde man die einzelnen Strategien der Verhandler auf Kostenträgerseite – soweit man diese als solche bezeichnen kann – zusammenstellen, entstünde ein Fachbuch für Winkelzüge, Verhinderungsstrategien, strukturellem Bürokratieaufbau und transparentem Wahnsinn.

Zugegeben, auch auf der Seite der Leistungserbringer und deren Verbände besteht viel Nachholbedarf, was Strategie und fachorientiertes, vor allem gemeinsam abgestimmtes Handeln anbelangt. Erst seit wenigen Jahren können die ambulanten Pflegedienste mit zumindest kleinen, kontinuierlichen Steigerungen rechnen. Dies bei kürzer gewählten Laufzeiten, hier meistens von einem Jahr. In dieser Zeit sind auch die Löhne der eingangs erwähnten Kopplung an Mindesthöhen im Verhältnis zum Punktwert kontinuierlich gestiegen. Belegbar ist allerdings, dass beispielsweise in Berlin weder Wochenend- noch Feiertagszuschläge, Zuschläge für Spätdienst oder Nachtzuschläge von den Kostenträgern sowohl im SGB XI, SGB XII als auch im SGB V finanziert werden.

 

8. Wo bleibt die Refinanzierung der Zuschläge?

Die Erbringung von Leistungen zu ungünstigen Zeiten hat für Patienten und Kostenträger den gleichen Preis, wie in der Woche, obwohl die Nebenkosten deutlich höher sind. Wie also ist der Ruf nach Tariftreue auf der einen Seite vereinbar mit der Verweigerung dieser Zuschläge auf der anderen Seite?

Im Land Berlin gab es bis 1996 Sonntagszuschläge von 30 %, die damals ersatzlos gestrichen wurden. Heute behaupten die von den Kostenträgern eingesetzten Verhandler, dass alle Zuschlagsformen in pauschalierter Form in den Entgelten enthalten seien. Ein Beweis dieser „Kalkulation“ konnte bis heute von den Kostenträgern nicht erbracht werden.

Interessant ist auch, dass das Land Berlin als zugleich kommunaler Träger auch die genannten Zuschläge im Bereich der ambulanten Pflege verweigert. Lediglich im Bereich des SGB XI existieren am Wochenende doppelte Anfahrtspauschalen, mehr aber nicht.

 

9. Vertrauen zählt nicht

Das Prinzip Markt und das hierfür notwendige gegenseitige Vertrauen, dass die Sicherstellung der Versorgung auch gut bezahlt wird, gilt gegenüber den ambulanten Pflegediensten weitgehend nicht. Damit stehen der Kunde als Patient und Pflegebedürftiger und seine Bedürfnisse bei den Kassen außen vor.

Der Pflegedienst als Leistungserbringer hat spätestens ab dem 01.09.2022 seine Leistung vom Markt zu nehmen oder sich den Vorgaben der Kostenträger anzupassen. Was aber ist mit der kalkulierbaren, rechnerischen und nachweisbaren Refinanzierung? Das ist paradox. Ein Verantwortungsgefühl seitens der Kostenträger für die ambulanten Pflegedienste als auch für ihre eigenen Kassenmitglieder gibt es allenfalls rudimentär.

Anders als in der stationären Langzeitpflege, wo Kalkulationen der Leistungsentgelte mit feststehenden Parametern wie Versorgungszeit, Platzzahl, Versorgungsweg, Qualifikationsmix, Pflegeausstattung und andere verwendet werden können, ist dies in der ambulanten Pflege – wie bereits erwähnt – mehr als schwierig – nahezu unmöglich.

 

10. Richtige Kalkulation enorm schwierig

Durch die ständig wechselnden Versorgungszahlen, Versorgungszeiten, Qualifikationsanforderungen und Wegezeiten ist die Kalkulation von Preisen, die gute Löhne refinanzieren, bei Pflegediensten enorm schwierig.

Die vielen unterschiedlichen Leistungsentgelte der vorrangig drei für die Pflege geltenden Sozialgesetzbücher SGB V, SGB XI und SGB XII machen es kaum möglich, eine kalkulierbare Refinanzierung zu belegen. Dazu kommen dann Vorschläge von Theoriemanagern der Kostenträger, Straßenzüge oder Wohngebiete pro Einrichtung zuzuordnen. Wahlfreiheit am Markt, was gerade und immer wieder durch den Gesetzgeber favorisiert wurde, geraten dabei in den Hintergrund.

Somit besteht das Hauptproblem der ambulanten Pflegedienste in der Kalkulation der kostendeckenden Leistungsentgelte. Die damit verbundene Kernfrage liegt im Vergütungssystem selbst. Was wird gewählt? Einzelleistungen, Pauschalen (klein /groß) oder eine Zeitvergütung (genau nach Minuten oder Einheiten)?

Hierzu gibt es unzählige Ausführungen und viele unterschiedliche Lösungen. Immer mit den gleichen Defiziten: Es fehlt ein direkter Zusammenhang zwischen dem Entgelt einer Leistung (Kosten) und der damit verbundenen wirtschaftlichen Zahlung eines (tariflichen) Entgelts eines Mitarbeiters (Stundenlohn).

Ein solcher Zusammenhang ist schwer darzustellen und betriebswirtschaftlich nur bedingt zu belegen. Begründet liegt dies im immer wieder wechselnden Mix bzw. der unterschiedlichen Zusammensetzung der Leistungsentgelte nach den Sozialgesetzbüchern V, XI und XII sowie einer privaten Zahlung. Hinzu kommt die Berücksichtigung der bereits mehrfach angesprochenen Variablen (Versorgungszeit, Platzzahl, Versorgungsweg, Qualifikationsmix, Pflegeausstattung etc.).

In der Regel (auch darauf wurde schon hingewiesen) ist in der Pflege von einem klein- und mittelständischem Unternehmensmarkt auszugehen. Je nach Einrichtung sind dabei zwischen zehn und 150 Mitarbeiter beschäftigt. Dies bei einer zugleich relativ kleinen und instabilen Kapitaldecke. In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass das Kapital im Betrieb für maximal acht, höchstens zwölf Wochen im besten Fall, in den meisten Fällen eher darunter, ausreicht, um die Kosten zu decken.

 

11. Wirtschaftliches Gefüge bricht schnell zusammen

Kommt also kein erwirtschaftetes Geld in den Betrieb, bricht sehr schnell das gesamte wirtschaftliche Gefüge der Einrichtung zusammen. Der Druck, immer schneller, wirtschaftlicher, effizienter Leistungen durchzuführen, noch schneller die Rechnungen zu stellen, bringt die meisten Einrichtungen dazu, Abrechnungsunternehmen zu beauftragen, die wiederum der Einrichtung viel Kapital entziehen.

Wer heute also behauptet, über die Hälfte der Einrichtungen in Deutschland würde schlechte Löhne bezahlen, muss sich zum einen die Frage stellen, woran das liegt, wie die Refinanzierung in den letzten Jahren sichergestellt wurde, Leistungsentgelte und geforderte Lohnentwicklungen angepasst wurden.

 

12. Warum haben private Pflegedienste noch Mitarbeiter?

Und er muss sich zwei weitere Fragen stellen, die heute leider in den Hintergrund geraten.

Wenn private Pflegeinrichtungen so schlecht bezahlen, warum haben sie überhaupt Mitarbeiter? Denn diese wollen auch gut bezahlt werden! Stimmt die Pauschalität von der schlechten Bezahlung überhaupt? Gibt es bei diesen Einrichtungen heute schon bessere Vergütungsreglungen, als eine Tarifbezahlung dies vorsieht?

Und drittens: Wer wird die Versorgung ab dem 01.09.2022 übernehmen? Wird Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, das Bundesgesundheits- oder das Bundesfamilienministerium mit seinen vielen Mitarbeitern in die große Lücke der Versorgung einspringen? Wohl eher nicht.

 

13. Wer übernimmt ohne private Pflegeeinrichtungen die Versorgung?

Was ist, wenn die vielen privaten Einrichtungen, die mit Einführung der Pflegeversicherung als Marktgarant und Innovator gefeiert wurden, vom Markt verschwinden und nur noch kommunale und Einrichtungen der Freien Wohlfahrt zur Patientenversorgung zugelassen werden?

Diese Fragen sollten in den Mittelpunkt der Debatte gestellt werden, statt auf diesen Teil der Einrichtungen, vorwiegend auf die der privaten Seite, immer mehr Druck und pauschale, verbale Beschuldigungen und Vermutungen auszuüben bzw. auszusprechen.

 

14. Preise liegen heute unter denen von 1996

Ein Beispiel aus der häuslichen Krankenpflege, wie die Leistung der Medikamentengabe von 1996 bis heute verlaufen ist, verdeutlicht, wie wenig Substanz hinter der öffentlichen Äußerung der Kostenträger steckt, die Leistungsentgelte seien auskömmlich und würden die Steigerung der Löhne in den letzten Jahren refinanzieren.

 

Beispiel AOK Nordost – Medikamentengabe

 

Zeitpunkt Entgelt in Euro (bis 2002

umgerechnet von DM)

01.01.1996 14,95
01.10.1996 15,90
01.01.1997 14,31
01.01.1998 14,95
01.09.1999 15,20
01.06.2001 13,98
01.06.2002 13,23
01.06.2003 13,23
01.11.2006   9,16
01.01.2014 10,28
01.01.2015 10,76
01.01.2016 11,10
01.01.2017 11,38
01.02.2018 12,00
01.01.2019 12,26
01.01.2020 12,70 (7,77 LG 1 + 4,93 volle WP)
01.01.2021 13,11 (8,02 LG 1 + 5,09 volle WP)
01.01.2022 13,55 (8,29 LG 1 + 5,26 volle WP)
(LG: Leistungsgruppe; WP:
Wegepauschale)

 

 

 

Eigene Darstellung

 

Die Realität ist, dass private ambulante Pflegedienste in Berlin im Bereich der Medikamentengabe heute unter den Sätzen des Jahres 1996 liegen. Das ist die gelebte Realität und objektive Wirklichkeit.

 

15. Politische Befriedigung nach Tarifverträgen

Jetzt also befinden wir uns auf der Zielgeraden der politischen Befriedigung nach Tarifverträgen als Ultima Ratio. Festzuhalten ist, dass der GKV-Spitzenverband als zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland bis zum 30.09.2021 die Richtlinie zur Umsetzung der sogenannten Tarif-Treue-Regelung erlassen sollte. Das hat er auch getan, aber dennoch wurde diese erst Anfang Februar 2022 durch das Bundesministerium für Gesundheit genehmigt.

Fakt ist auch, dass bis zum 31.10.2021 die Landesverbände der Pflegekassen die in der Region anwendbaren und zum Tragen kommenden Tarifverträge mit den entsprechenden Lohnhöhen veröffentlichen sollten, um den Einrichtungen, die keinen Tarifvertrag haben, eine Entscheidungsgrundlage zu geben. Gekommen sind diese Übersichten Anfang Februar 2022.

Fest steht auch, dass sich die Einrichtungen bis zum 28.02.2022 entscheiden müssen, um den Pflegekassen mitzuteilen, welchem Tarifwerk bzw. welchen Lohnhöhen sie sich anschließen. Bis zum 31.08.2022 soll dann die Anpassung der Versorgungsverträge erfolgen. Dies mit dem Ziel, dass nur noch Einrichtungen mit tariflicher Bindung oder Zahlung der „regional üblichen Lohniveaus“ ab September 2022 am Markt sind.

 

16. Termine wurden von Kassen und vom Bund gerissen

Betrachtet man diesen Zeitstrahl, dann wird relativ schnell deutlich, dass die anfänglichen Termine alle gerissen wurden. Damit stehen die betroffenen Einrichtungen jetzt unter enormem Druck. Innerhalb von acht bzw. neun Wochen (nach der Veröffentlichung der Lohnhöhen bzw. der Richtlinien) müssen diese fundamentalen Entscheidungen treffen, um das eigene wirtschaftliche Überleben zu sichern, Versorgungssicherheit zu gewährleisten und – auch das gehört zur Wahrheit dazu – nicht zu wissen, ob die Arbeitsplätze im Betrieb ab dem 01.09.2022 noch haltbar sind.

Die Fristverlängerung vom 28.02.2022 auf den geduldeten 31.03.2022 soll die verstrichenen Monate wettmachen, den Einrichtungen „ausreichend Zeit zur Verfügung stellen“, so das Bundesgesundheitsministerium und der GKV-Spitzenverband.

 

17. Fristverlängerung um nur einen Monat

So sieht also Anerkennung und gelebtes Miteinander auf Augenhöhe aus. In diesen wenigen Wochen sollen klein- und mittelständische Betriebe zum Teil nicht veröffentlichte und nicht zur Verfügung stehende Tarifverträge prüfen und ggf. sich an diese anlehnen. Sie sollen die Strukturen vergleichen für ihre Einrichtung, Entscheidungen fällen, die dem gesetzlichen Rahmen entsprechen und gleichzeitig mit eigenen Arbeitsplätzen die Versorgung der Patienten sicherstellen.

Mit der Brechstange sollen sie sich einen Weg durch einen Dschungel von Vorschriften bahnen, unter massiven Versorgungsdruck, mit wenig Zeit und das Ganze unter Pandemiebedingungen, Quarantänereglungen und bei gleichzeitiger Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht.

So also sieht die Wertschätzung einer Berufs- und Unternehmensgruppe aus, die seit Jahrzehnten am Limit arbeitet und dabei immer (nur) mehr Ratschläge von außen bekommt. Wo Theorie und Praxis immer weiter auseinanderweichen. Und die gerade in den letzten zwei Jahren gezeigt hat, mit welchem hohen Engagement, welcher Flexibilität und Einsatzbereitschaft sie in unserer Bevölkerung eine zentrale Rolle für gute Patientenversorgung spielt.

Die ganze Diskussion um die Tarif-Treue-Regelung steht zudem unter dem Versuch der Spaltung. Zum einen in diejenige, die in sogenannten „guten Einrichtungen“ (tarifgebunden) arbeiten, zum anderen in diejenige, die in sogenannten „schlechten“, das heißt nicht-tarifgebundenen privaten Einrichtungen arbeiten. Ist das das Finale der eingangs angesprochenen Konzertierten Aktion Pflege?

 

18. Größtes Problem: Refinanzierung

Natürlich braucht die Profession Pflege wie alle anderen Berufe in Deutschland auch, gute Arbeitsbedingungen. Natürlich brauchen Mitarbeiter gute und faire Löhne. Diese müssen aber nachhaltig, strukturiert, vor allem aber verlässlich und gut kalkuliert refinanziert werden. In der Refinanzierung besteht das größte Problem, zumindest bei ambulanten Pflegediensten. Denn der Nachholeffekt der letzten 30 Jahre ist enorm. Das zeigt eindeutig das bereits erwähnte Beispiel der Vergütung der Medikamentengabe in Berlin.

Es geht nicht um das Wegschieben von Verantwortung. Es geht um einen Faktencheck, um eine objektivierte Beurteilung der Situation. Es geht um die Ehrlichkeit der Argumente und das Weglassen von verbalen Negativ-Äußerungen gegen die private Pflege – von allen beteiligten Akteuren. Bis in die höchsten Kreise!

 

19. Veröffentlichungen lassen zentrale Fragen unbeantwortet

Die Anfang Februar vorgelegte „Veröffentlichung nach § 82c Abs. 5 SGB XI: Übersicht der nach § 72 Abs. 3e SGB XI mitgeteilten Tarifverträge und kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, die eine Entlohnung vorsehen, die das regional übliche Entgeltniveau nicht um mehr als 10 Prozent überschreitet“ lässt zentrale Fragen unbeantwortet:

  • Warum spricht man von einem „regional üblichen Entgeltniveau“, wenn rund 70 Prozent der Einrichtungen nicht einem Tarif unterliegen und bei der Berechnung nicht berücksichtigt wurden? In manchen Ländern sind dies bis zu 90 Prozent.
  • Wurden die eingegangenen Zahlen der Einrichtungen auf Plausibilität geprüft? Wenn ja, von wem?
  • Was geben die von den tarifgebundenen Einrichtungen gelieferten Zahlen an, die tatsächliche Zahlung oder die Vorgabe nach Tarif?
  • Waren Wirtschaftsprüfer etc. der Verbände (auch private Verbände) bei der Auswertung der eingegangenen Zahlen mit beteiligt?
  • Kann es sein, dass bei der Meldung der Entgelte auch Zuschläge für Nachtarbeit, Sonntagsarbeit, Feiertagsarbeit etc. in die Berechnung des regional üblichen Entgeltniveaus aufgenommen wurden? Konnte dies bei der Prüfung der Daten abschließend geprüft und somit ausgeschlossen werden?

Zweifel gibt es auch an der Richtigkeit der gemeldeten prozentualen Zuschläge, die ab dem 01.09.2022 von den Pflegeeinrichtungen einzuhalten sind.

 

20. Gesetzgeber hat keine Plausibilitätsprüfung vorgesehen

Der Gesetzgeber selbst hat keine Plausibilitätsprüfung und Validierung der Daten vorgesehen. Auch die Pflegekassen lehnen eine Verantwortung für die Daten ausdrücklich ab. Sie wollen weder für die Vollständigkeit noch für die Richtigkeit Gewähr und Verantwortung übernehmen. Das sei auch nicht so vorgesehen.

Doch geht dieses Vertrauen in eine verlässliche, unter Zeitnot erbrachte Datenlieferung durch die tarifgebundenen Einrichtungen selbst nicht zu weit? Was fehlt, ist die intensive Prüfung der eingegangenen Daten der tarifgebundenen Einrichtungen. Und doch sollen diese „regional üblichen Entgeltniveaus“ unter Zeitdruck eine Geltung erlangen wie kaum ein Maßstab zuvor in der Pflege. Und auch ohne eindeutige Klärung der oben und nachfolgend genannten Fragen.

Hinzu kommt, dass es auch auf der globaleren Ebene eine Vielzahl von Fragen gibt, die beantwortet werden müssen. Diese sind:

  • Wie viel Einrichtungen sind nach Berechnung der Ministerien und Kostenträger von der Versorgung ab dem 01.09.2022 ausgeschlossen? Wird es eine tagesgenaue Schließung der Einrichtungen geben?
  • Wie wird die Versorgung bei Wegfall der Zulassung sichergestellt? Wie wird mit den Patienten/ Bewohnern verfahren, wenn die Einrichtung plötzlich keinen Vertrag und damit keine Versorgung anbieten darf?
  • Wie sind die arbeitsrechtlichen Reglungen, wenn ein Betrieb die Zulassung verliert, einen Mitarbeiterstamm hat, aber nicht versorgen darf?
  • Gibt es Entschädigungen, wenn es keinen Versorgungsvertrag gibt? Sind die Bescheide klagefähig?
  • Was passiert, wenn in einem Betrieb die Anforderungen nicht erfüllt werden, die Mitarbeiter aber weiterarbeiten wollen? Wird hier Zwang oder Druck ausgeübt?
  • Wie kann sichergestellt werden, dass es für die rund 19.000 (von insgesamt rund 30.000 betroffenen Pflegeeinrichtungen (amb. & Station. SGB XI) Lösungsansätze mit einer vollständigen Refinanzierung gibt?
  • Gibt es eine Höchstgrenze der finanziellen Anpassung (Refinanzierung der Anhebung), wenn die Einrichtung Anpassungsbedarf hat?
  • Sollen mit dem politischen Druck und dem Druck der Kostenträger so viele Unklarheiten bei Mitarbeiter geschaffen werden, dass extreme Unsicherheit und eine mögliche Kündigungswelle im Sommer ansteht?
  • Gibt es Übergangsfristen und wenn ja, wie lange sind diese?
  • Wie ist die parallel stattfindende Mindestlohndebatte unter gleichzeitiger transparenter Tarifforderung zu bewerten?

Dieses Bündel an Fragen muss geklärt werden, bevor die nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen in die praktische Umsetzung der zum 01.09.2022 geltenden Tarif-Treue-Regelung gehen.

 

21.Tarifbindung hat auch Nachteile

Nicht von der Hand zu wischen ist, dass eine Tarifbindung per se nicht generell gut ist. Sie kann auch ein Innovationsverhinderer sein. Ein auf die Gegebenheiten vor Ort ausgerichtetes Lohn- und Vergütungsmodell ist ihr überlegen.

Zudem gibt die Tarifbindung den Kostenträgern die Chance, die Refinanzierung in der tariflich bedingten Höhe zu begrenzen. Dies greift vor allem dann, wenn es schwierig ist, einen Zusammenhang zwischen der Höhe des Entgelts und der gerechten Bezahlung herzustellen. Dies betrifft – wie zuvor aufgezeigt wurde – vor allem die ambulanten Pflegedienste.

Ist eine Tarifbindung und ist die zum 01.09.2022 verpflichtend greifende sogenannte Tarif-Treue-Regelung eher eine Höhenbegrenzungsregelung für die Löhne und deren Refinanzierung? Wird damit eine große Chance zur notwendigen Anhebung der Entgelte, um innovative Löhne auch in einer überbetrieblichen Zahlung zu ermöglichen, vertan? Zu fragen ist letztlich auch: Wenn wirklich so viele private Einrichtungen solche schlechten Arbeitsbedingungen und Lohnhöhen haben, wie dies oft dahingesagt wird, ist es dann nicht erstaunlich, dass diese Einrichtungen noch Mitarbeiter finden?

 

22. Fazit

Klar ist, die Intention, die Löhne für die Profession Pflege zu erhöhen, ist das richtige Ziel.

Eine eindeutige Refinanzierung zu sichern, wäre jedoch zweifelsfrei besser, als auf ein Tarifsystem zu setzen, welches überholungsbedürftig ist und in den tarifgebundenen Einrichtungen sehr unterschiedlich, teilweise auch mit der Hilfe von Nottarifverträgen umgesetzt bzw. umgangen wird. Auch die Kernfrage, ob wir einen Markt im Gesundheits- und Pflegesystem brauchen oder wollen, muss gesamtgesellschaftlich debattiert werden. Die meisten wollen den Markt mit Schnäppchen und Vorteilen, aber nicht den Markt, aus dem sich auch Konsequenzen ergeben.

Wer Markt will – und das hat der Gesetzgeber 2015 ganz klar mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz unterstrichen –, muss auch mit den Marktmechanismen leben können. Nach dem Markt rufen, dann vieles zu regulieren und die wirklich Verantwortlichen für ein „Scheitern des Marktes“ nicht zu benennen, ist Heuchlerei und eine Verdrehung der Tatsachen.

Wir brauchen in der Pflege ein gemeinsames Handeln mit allen an der Versorgung Beteiligten. Kein Schwarz-Weiß zwischen kommunalen, gemeinnützigen und privaten Trägern!


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