Der Check heiligt die Mittel – ein Update

Die Debatte um Evidenz von Screening-Maßnahmen braucht mehr Kompetenz und Sorgfalt

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler

Dass sich die derzeitige Gesundheitspolitik durch eine besondere Wertschätzung Evidenz-basierter Medizin auszeichnet, kann man wohl kaum behaupten. Überall wird der Begriff „Evidenz“ vorgetragen, aber was sich wirklich damit verbindet, scheint vielen unklar – oder egal. So fußt schon der aktuelle Hype um Gesundheits-Checks, speziell bei Kindern und Jugendlichen, auf einer fragwürdigen Interpretation von Daten, von einer nach internationalen Maßstäben aufbereiteten und diskutierten Begründung für Vorschläge gar nicht zu reden.

Am 8. Dezember 2023 veröffentlichten die führenden kardiologischen Fachleute Deutschlands auf die hier vorgetragene Kritik eine Art Replik, die speziell ein Screening auf eine familiäre Fettstoffwechselstörung bei Kindern adressiert. Wenn der Inhalt von Stellungnahme und Pressemitteilung ein Maßstab für eine fachwissenschaftliche Diskussion und eine sich darauf gründende Gesundheitspolitik sein soll, dann hat Deutschland erheblichen Nachholbedarf.

 

Wirklich „täuschend einfach“?

Der zentrale Gedanke der frühen Erkennung und Behandlung von Krankheiten ist im Grunde simpel. Der Weg zu einer erfolgreichen Umsetzung mit der Behandlung von Patienten mit zuvor unerkannten Krankheiten und der Vermeidung einer Beeinträchtigung von Patienten, bei denen eine Behandlung nicht notwendig ist, ist jedoch alles andere als leicht, auch wenn er manchmal täuschend einfach erscheint. ” (Wilson & Jungner 1968, eigene Übersetzung)

„Täuschend einfach“ – mit ihrer wegweisenden Arbeit und den bis heute im Grundsatz gültigen Kriterien haben Wilson & Jungner vor 45 Jahren den Grundstein für eine sorgsame Meinungsbildung in Zusammenhang mit Screeningmaßnahmen gelegt (1). Eine Reihe von praktischen Beispielen hat seitdem die Notwendigkeit guter Daten, sehr sorgfältiger Erwägungen und Begründungen untermauert. Es gibt zahlreiche Bücher und Hunderte von Fachartikeln, die sich mit Methoden der Screening-Bewertung befassen. Trotzdem hat es lange gedauert, bis im Bereich der Krebsfrüherkennung die Probleme, umso mehr bei den vergleichsweise begrenzten Effekten eines Screenings, ernst genommen wurden. In anderen Bereichen hat sich die Einsicht, dass hier etwas „täuschend einfach“ aussieht, aber offenbar noch nicht verbreitet.

 

Stellungnahme von Deutscher Gesellschaft für Kardiologie und Deutscher Herzstiftung

In meinem Beitrag „Der Check heiligt die Mittel“ habe ich neben allgemeinen Hinweisen zur Früherkennungsdebatte speziell das „Checken“ (Screening, Früherkennung) von Kindern und Jugendlichen thematisiert und einige aktuelle Vorgänge kritisiert. Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie sowie der Deutschen Herzstiftung sahen sich dadurch und durch eine ähnliche Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) veranlasst, sich gemeinsam in einer Stellungnahme und einer Pressemitteilung zu äußern und der Kritik zu begegnen (2,3). Sie konzentrieren sich dabei auf Kinder mit einer familiären Hypercholesterinämie (FH).

Überzeugend ist das nicht geraten. Die beiden Institutionen kommen zwar „zu dem Schluss, dass der Nutzen die Kosten deutlich überwiegt.“ Eine stringente Argumentation, die heutigen Ansprüchen gerecht wird, fehlt aber. Wichtige Kritikpunkte werden gar nicht oder unzureichend adressiert. Stattdessen werden Argumente angeführt, die mit Screening, speziell bei Kindern, nichts zu tun haben. Ausführungen über prognostische „Zusammenhänge“ und moderne medikamentöse Therapien sind nicht falsch und können allererste Ansätze zu Überlegungen für ein Screening sein, gehen aber an einer tragfähigen Begründung für ein bevölkerungsweites Screening weit vorbei, so wie es als Erweiterung der U9 durch eine LDL-Bestimmung propagiert wird.

 

Wichtige Kritikpunkte nicht oder unzureichend adressiert

Für genau diese Diskussion ist es interessant, zu betrachten, was betont wird und besonders, was fehlt. Beginnen wir mit einigen Details:

  • In beiden Überschriften wird der Begriff „Kostenfalle“ benutzt und in Gegensatz zu „Chance“ oder – warum kleckern, wenn man klotzen kann – zum „Nonplusultra“ gestellt. Auch im weiteren Text wird dann die Kosten“effizienz“ wiederholt verteidigt. Es wird damit so getan, als ob die Kosten das wesentliche Moment der Kritik wären. Diese Argumentationsfigur ist (mir) seit vielen Jahren bekannt. Ja, natürlich sind auch Kosten relevant. Aber es ist für Protagonisten einer Maßnahme offenbar unvorstellbar, dass es zunächst einer ernsten inhaltlichen Debatte bedarf und dass es bedenkenswerte fachliche Gegenargumente geben könnte – die vielleicht auch nicht im Kompetenzbereich der Protagonisten liegen. Das ist keine Schande – obwohl ich weiß, wie das Herz aussieht und Herzkatheter kenne, bin ich nicht kompetent, Herzkatheter zu legen. Aber ich äußere mich auch nicht dazu, wie man das am besten macht.
    Der vorgebliche Kostenfokus lenkt ab und wird dann auch mit Zahlenspielen bedient, die dem bekannten Milchmädchen (oder gendergerecht: der Milchperson) ziemlich nahekommen.
  • Die „Vroni-Studien“ (eigentlich ist es nur eine an zwei Standorten) „werden“ (!) den „Nutzen untersuchen und bestätigen“, so heißt es in der Pressemitteilung. Nun ja, Studien, bei denen schon feststeht, was rauskommt, braucht man eigentlich nicht. Die „Studie“ ist als „feasibility-study“ ausgewiesen (4). Von „Nutzen untersuchen“ ist da nirgends die Rede, und die „Studie“ dafür auch vollkommen ungeeignet.
  • In der Pressemitteilung wird beklagt, dass zum Erkennen einer FH „ein simples Anamnesegespräch beim Kinderarzt … versagt (hat). 95% der Fälle werden hierzulande nicht entdeckt.“ Keine Quellenangabe, nichts. In der Stellungnahme selbst findet sich die Angabe, dass mit der Familienanamnese „bis zu 9 von 10 Kindern mit FH schlichtweg nicht identifiziert werden.“ Die Sensitivität würde dann also nur 10% betragen. Als Referenz werden zwei Quellen angegeben.
    – Die eine Arbeit aus den USA befasst sich mit den sogenannten AAP-Kriterien, um Kinder mit einer Hypercholesterinämie zu identifizieren. Der Tabelle 2 der Arbeit ist zu entnehmen, dass die Sensitivität der alleinigen Familienanamnese für ein erhöhtes LDL 41,3% (Konfidenzintervall 31,2%; 51,4%) beträgt (hier wird die 90%-Percentile der LDL-Werte verwendet, und die Sensitivität dürfte bei Verwendung der 95%-Percentile etwas niedriger liegen). Die Autoren geben ergänzend an, dass in anderen Studien eine Sensitivität zwischen 33% und 80% gefunden wurde. Nirgendwo ist aus dieser Arbeit eine Rate von „bis zu 9 von 10 … schlichtweg“ übersehener FH-Kinder zu erkennen.
    – Die zweite Arbeit, die als Referenz für „9 von 10“ angeführt wird – ein 10 Jahre altes „Consensus Statement“ der „European Atherosclerosis Society“ – enthält bereits im zweiten Absatz den bemerkenswerten Satz: „The extent of underdiagnosis and undertreatment of individuals in the general population with FH is largely unknown.“ Es folgt dann eine Tabelle mit Angaben aus 22 Ländern. Deutschland ist nicht dabei. Die Autoren schlussfolgern, dass die 180 Länder, für die keine Daten vorliegen, eine Erfassung von FH-Patienten von unter 1% hätten. Man würde dies wohl am ehesten als wüste Spekulation bezeichnen.
    Es ist als sicher anzunehmen, dass ein Teil der FH betroffenen Personen derzeit nicht diagnostiziert ist. Aber die beiden als Referenz angeführten Arbeiten enthalten nicht die Spur eines Hinweises, dass dies „hierzulande 95%“ oder „bis zu 9 von 10 Kindern“ sind. Welche Grundlage die Stellungnahme und die Pressemitteilung für ihre Aussagen haben, bleibt ihr Geheimnis – ebenso allerdings, wie man mit solchem Vorgehen Vertrauen gewinnen will.
  • Der von mir allgemein für Gesundheits-Check-ups zitierte Cochrane-Review aus 2019 wird als outdated abgelehnt: „Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse in die Gegenwart (ist) nicht möglich.“ Abgesehen davon, dass die Autoren des Reviews genau diesen Aspekt und seine Implikationen selbst diskutieren, wäre das Argument in Zusammenhang mit einer Positiv-Empfehlung dann relevant, wenn zu dieser Empfehlung belastbare Studienergebnisse aus der „Gegenwart“ vorgelegt würden. Leider schweigt sich die Stellungnahme dazu aus. Möglicherweise hat dieses Schweigen seine Ursache in einem anderen Schweigen: Zwei relevante, aktuelle Arbeiten werden in der Stellungnahme gar nicht erwähnt. In der einen, einem Cochrane-Review zur FH aus 2021, stellen die Autoren fest, dass sie keinerlei geeignete Studien zu einer sinnvollen Screening-Strategie finden konnten (5). Und eine Institution, die weltweit als Maßstab in der Bewertung von Screening-Maßnahmen gilt, hat gerade (2023) ihre Empfehlung publiziert: „The USPSTF concludes that the current evidence is insufficient to assess the balance of benefits and harms of screening for lipid disorders in children and adolescents 20 years or younger“ (6). Auch diese Quelle aus der „Gegenwart“ wird in der Stellungnahme nicht erwähnt. Die Bewertung der Evidenzlage durch diejenigen, die in solchen Bewertungen über die notwendige Expertise verfügen, ist eindeutig und der Grund dafür auch: Geeignete Studien gibt es nicht.
  • Dazu führt die Stellungnahme weiter aus, dass „keine klinische Studie einen entsprechenden Effekt des Screenings bei Kindern und Jugendlichen wird abbilden können“, weil Kinder „die klinische Manifestation einer relevanten kardiovaskulären Erkrankung in aller Regel frühestens in 30 Jahren erleben“ werden. Das ist ein durchaus bedenkenswertes Argument. Es fragt sich nur, woher man wissen soll, dass es einen Effekt gibt, wenn ihn keine Studie abbilden kann, man ihn sozusagen nicht sichtbar machen kann. Man fragt sich weiter, wie man bei einem unsichtbaren Effekt so sicher sein kann, dass die Kosten vertretbar sind. Dann fragt man sich, ob Effekte, die man „nicht abbilden“ kann, eine Rechtfertigung dafür sein können, flugs 8% aller Kinder für krank und kontrollbedürftig zu erklären (s.u.). Und schließlich, nun wirklich erstaunt, fragt man sich, wie es möglich ist, dass die Anfang 2021 begonnene „Vroni-Studie“ „gezeigt“ haben soll, „dass ein Behandlungsbeginn im Kindesalter bedrohliche koronare Folgeereignisse kosteneffizient verhindern, die Lebensqualität verbessern und die Sterblichkeit senken kann“ – nach knapp 3 Jahren? Kannte da jemand eine Abkürzung?
  • Meine Darstellung der Kinder-Studie aus dem Jahr 1967 war offenbar nicht so recht verständlich, wie die Kommentare in der Stellungnahme nahelegen. Für das Ergebnis dieser Studie, dass der Verdacht auf eine Erkrankung (oder die Etikettierung als „Risiko“) auch nach Ausräumen des Verdachts noch unangemessene und nicht mehr gerechtfertigte Verhaltensänderungen bestehen lässt, ist der Hinweis auf die thorakale Echokardiographie sinnfrei. Und es erscheint bezeichnend für die gesamte Linie der Argumentation, dass als zweiter Einwand FH-Kinder erwähnt werden, die „über keine Belastungen, sondern teilweise sogar positive Aspekte durch das Screening und die Diagnose der FH berichteten“. Das ist erfreulich, aber die zitierte Arbeit betrachtet gerade nicht die Auswirkungen auf Kinder mit einem bestätigten Verdacht, sondern solche, bei denen ein Anfangsverdacht ausgeräumt wurde, weshalb der Titel auch heißt: „The morbidity of cardiac non-disease …“. Auch diese Gruppe von Kindern ist für die Rechtfertigung eines Screenings von Bedeutung. Sie kommt in den aktuellen Ausführungen nirgends vor.

 

Zentrale Aspekte einer Screening-Diskussion nicht erörtert

Neben diesen und weiteren Details und Inkonsistenzen, die hier nicht vertieft werden sollen, ist das wirklich Interessante und in mehrfacher Hinsicht Bezeichnende der beiden Äußerungen aber, dass die ganz zentralen Aspekte einer Screening-Diskussion gar nicht erörtert werden. Weit entfernt davon, hier Absicht zu unterstellen, ist dies ein Indiz dafür, dass die Anforderungen an eine solche Diskussion gar nicht bekannt sind. Und ein zweites Indiz unterstützt das erste eindrucksvoll: Das wirklich Bemerkenswerte ist nämlich, dass Daten vorliegen und Aussagen zu einigen Aspekten gemacht werden, die Autoren dies aber anscheinend gar nicht bemerken.

Es geht dabei um drei sehr wichtige Punkte. Die Autoren stellen fest, dass es für meine (nun ja, mal darf wohl sagen: die allgemein bekannte) Aussage, dass „der Schaden durch Überdiagnostik immer bestehe…“ für das FH-Screening keine Evidenz gebe. Sie zitieren als Beleg für ihre Ansicht eine Arbeit, die mit Überdiagnostik gar nichts zu tun hat, sondern sich statt der Überdiagnostik bei Kindern mit der Lebensqualität von erwachsenen Männern befasst. Die Stellungnahme liefert aber die Evidenz für Überdiagnostik selbst – sie merkt es nur nicht. Die relevante Aussage lautet: „Von den 156 unbehandelten Patienten starben 11 vor dem 40. Lebensjahr an Herzinfarkten …“. Diese Aussage bedeutet, dass 145 von 156 Patienten (unbehandelt !) nicht vor ihrem 40. Lebensjahr an Herzinfarkten verstarben. Diese 145 Patienten würden mit einem Screening im Alter von 5 Jahren entdeckt und 35 Jahre lang medikamentös behandelt (um einen frühzeitigen Tod zu verhindern), obwohl sie auch ohne Therapie in dieser Zeit nicht verstorben wären. Sie hätten keinen Vorteil von der Behandlung gehabt, stattdessen das Wissen um ein Risiko, regelmäßige Arztbesuche und Laboruntersuchungen sowie Nebenwirkungen der Therapie. Ja, natürlich: Wenn das Ziel ein anderes ist, etwa, einen frühzeitigen Herzinfarkt zu verhindern oder den Tod vor dem 60. Lebensjahr, dann sehen die Zahlen anders aus. Aber immer bleibt ein Teil der Gescreenten, bei denen das Zielereignis auch ohne Behandlung gar nicht eingetreten wäre. Sie haben nur Nachteile davon, dass „gecheckt“ wurde. Die Evidenz dafür, dass „ein Schaden durch Überdiagnostik immer besteht“, liegt klar und deutlich auf dem Tisch – übrigens noch klarer und deutlicher als bei anderen Situationen, wo Informationen über unbehandelte Krankheitsverläufe fehlen.

Dies ist keine Kritik an haus-, kinderärztlicher oder kardiologischer Behandlung, denn niemand kann wissen, welches Kind in den nächsten Jahrzehnten einen Herzinfarkt erleiden wird und welches nicht. Dies ist eine Kritik an einer Früherkennungsdiskussion und -euphorie, die Überdiagnostik nicht versteht und in den Erwägungen nicht berücksichtigen will. Zu behaupten, diese Waagschale sei leer, obwohl man das zu Wiegende selbst in der Hand hält, kann man nur als Unkenntnis oder mangelnde Sorgfalt bezeichnen.

Der zweite sehr wesentliche Aspekt ergibt sich aus der schon zitierten, ohne erkennbare Grundlage locker hingeworfenen Behauptung, „die aktuelle Früherkennungsmaßnahme, nämlich ein simples Anamnesegespräch beim Kinderarzt, hat versagt.“ (Wie hier gleich noch sprechende Medizin diskreditiert wird, wäre einen eigenen Kommentar wert).

Dass es unerkannte Fälle gibt, kann man als sicher annehmen, wie hoch die Rate auch immer sein mag. Nun könnte man nach den Gründen fragen. Der erste Grund könnte sein, dass die Kinderärzte gar nicht (richtig) fragen. Dann müsste man dies verbessern – ein Anlass, ein allgemeines Screening einzuführen, ist dies nicht. Ein zweiter Grund könnte sein, dass Kinderärzte zwar fragen, aber die Eltern sich nicht erinnern oder aus anderen Gründen keine zuverlässige Auskunft geben können. Dann könnte man auch hieran arbeiten und versuchen, die Erhebung zu verbessern. Der dritte Grund könnte sein, dass Kinderärzte sorgfältig fragen und die Eltern über sich, Geschwister und Großeltern auch erschöpfend Auskunft geben können, aber ein Indexereignis bei diesen Personen gar nicht aufgetreten ist und deshalb kein Anlass gesehen wird, das Kind weiter zu untersuchen. Wenn man mal außer Acht lässt, dass es sich bei dem untersuchten Kind um eine Neumutation handeln könnte, dann wäre der Befund einer „leeren“ klinischen Familienanamnese (allein) kein guter Indikator für die Nicht-Existenz einer FH. Umgekehrt aber viel bedeutsamer: Der genetische Befund einer FH wäre kein guter Indikator für das spätere frühzeitige Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse. Da es für die FH verschiedene Mutationen gibt, ist es auch gar nicht unplausibel, dass es prognostisch günstigere und besonders ungünstige Formen gibt. Diese Situation erinnert stark an die Diskussion um prognostisch günstige Prostatakarzinome oder DCIS beim Mammakarzinom, wo das Problem der Überdiagnostik noch einmal erheblich an Bedeutung gewinnt. Eine sehr wichtige Diskussion und Abwägung – nichts dazu in den Stellungnahmen der Kardiologen.

Und zum dritten erlaubt die Design-Publikation der Vroni-„Studie“ (4) – es sei lobend hervorgehoben, dass es diese Publikation gibt – interessante Einblicke. Wie schon in dem früheren Beitrag erwähnt: Eine Forschungsfrage gibt es gar nicht. Es geht vielmehr darum, ausgehend von der Hypothese „the most effective approach for detecting FH seems to be a population-based screening“ („seems to be“ !) ein Screeningprogramm zu etablieren („establish a screening program“). Dies dient dazu, vollendete Tatsachen zu schaffen und politischen Druck aufzubauen, weshalb in Stellungnahme und Pressemitteilung auch immer wieder der Schulterschluss mit dem Gesundheitsministerium betont wird. Aber das nur nebenbei.

Viel wichtiger wird aus dieser Publikation etwas zum „Mengengerüst“ deutlich, das nirgendwo in den Stellungnahmen erwähnt wird und doch wesentlich für Erwägungen zum Screening wäre: Bei einem Cut-off für LDL von 130 mg/dl wurden unter 5000 Kindern 8% als „auffällig“ identifiziert. Die Häufigkeit der FH wird in der Stellungnahme mit 1:250 angegeben (das ist allerdings – man ist es ja schon gewohnt – durch die angegebene Referenz nicht gedeckt). Legt man diese Angabe, also 0,4%, zugrunde (und geht davon aus, dass unter den 8% auch alle FH-Kinder sind), dann hat 1 von 20 „auffälligen“ Kindern (0,4%/8%) tatsächlich eine FH; technisch gesprochen beträgt der positive prädiktive Wert 5%. Die weit überwiegende Mehrzahl der „Alarme“ auf FH (95%) ist also falsch.

Werden dabei eigentlich auch FH-Kinder übersehen? Keinerlei Informationen in den aktuellen Äußerungen. Eine ganz aktuelle Publikation (7) lässt vermuten, dass mit einem Cut-off von 130 mg/dl (3,36 mmol/l) wohl weniger als 5% FH-Kinder nicht erkannt würden. Es wäre nun angesichts von 95% Fehlalarmen zu diskutieren, den Cut-off (für ein FH-Screening) zu erhöhen. Dann würden mehr FH-Kinder nicht erfasst (vielleicht gerade die mit den günstigeren Verläufen ?), aber es würde auch die Zahl der Alarme sinken und damit auch die der falschen. In einer groben Abschätzung (mit Angaben aus 7 und 8) würde z.B. eine Anhebung des Cut-offs auf 160 mg/dl ca. 20% der FH-Kinder übersehen, aber die Fehlalarme auf FH auf ein Drittel von 1:20 auf 1:7 reduzieren.

Wie immer auch die Abwägung und Bewertung ausfällt: Sie gehört essenziell zu einer Diskussion über Screening. Dazu hätte man irgendwo in den vielen euphorischen Statements gerne etwas gelesen und diskutiert bzw. eingeordnet gesehen. Sie und weitere Informationen wären Grundlage einer informierten Entscheidung zur Teilnahme und gehörten im Übrigen auch zu einer angemessenen Aufklärung von Interessenten / Teilnehmern am Screening (§ 630 BGB). „Hätte“, „wären“, „gehörten“ – Konjunktive! Statt dessen ist die Seite der Vroni-„Studie“ eine einzige blinkende Werbeanzeige.

40 Jahre Erfahrung mit Screening-Diskussionen lassen mich mutmaßen, was die Antwort auf diese Beschreibung ist: Da gibt es keine Fehlalarme – die anderen 95 % mit einem erhöhten LDL haben ja auch ein erhöhtes Risiko und es ist gut und wichtig, dass diese auch erkannt werden. Nun gut – das würde aber bedeuten, dass es gar nicht nur um die FH-Betroffenen geht, um die sich die PM und die Stellungnahme fast ausschließlich drehen. Dann ginge es um ein Lipid-Screening für alle Kinder, bei dem im Alter von 5-6 Jahren (U9) 7,2 % in der bayerischen Stichprobe „auffällig“ wurden, umgerechnet auf Deutschland ca. 55.000 Kinder – jedes Jahr!

Zu dieser Intention passen aber weder Daten noch Argumente, die sich auf ein FH-Screening beziehen. Und für die Sinnhaftigkeit eines allgemeinen Lipidscreenings bei Kindern gibt es wahrhaftig überhaupt keine Grundlage im Sinne stützender Evidenz – und für das Erkennen eines adipösen Kindes reichen ein Blick und eine Waage.

 

Fazit

45 Jahre nach der „Landmark“-Publikation von Wilson und Jungner ist das Wissen darüber, was Screening ausmacht, erstaunlich und erschreckend gering, auch bei ansonsten renommierten Fachleuten. Welche Voraussetzungen und Anforderungen erfüllt sein müssen, welche Probleme und welches Schadenpotenzial bestehen, aber auch, welche Informationen vorliegen und den potentiellen Teilnehmern auch mitgeteilt werden müssen, wird oft und gerade auch in der aktuellen KHK-Initiative vernachlässigt, nicht thematisiert, teilweise gar nicht wahrgenommen.

Vielleicht sollte an dieser Stelle einmal mehr auf eine Sternstunde der deutschen Gesundheitspolitik hingewiesen werden. Anfang der 1990er Jahre wurde die Einführung eines Screenings auf das kindliche Neuroblastom diskutiert. Alles passte: zweithäufigster Tumor im Kindesalter, schwere Erkrankung, bessere Prognose früher Stadien, Behandlungsmöglichkeiten, einfacher Test, Kinder (im Alter von einem Jahr) gut erreichbar – also „simpel“. Damals wurde entschieden, vor Einführung eine Studie zu machen (eine richtige Studie, wohlgemerkt). Mehr als zwei Millionen Kinder in sechs Bundesländern wurden zum Screening eingeladen und ihre Ergebnisse mit zwei Millionen Kindern in anderen Regionen verglichen. Vorteilhaft war, dass mit dem Mainzer Kinderkrebsregister bereits eine unterstützende Infrastruktur bestand.

Natürlich wurden mit dem Screening mehr Neuroblastome gefunden – etwa 3mal so viele wie in den Vergleichsregionen und in deutlich früheren Stadien – „mission accomplished“ würde man sagen. Leider aber auch: „täuschend einfach“. Im Endergebnis zeigte sich nämlich, dass durch das Screening nicht nur kein Vorteil in der Mortalität erkennbar war, sondern im Gegenteil die gescreenten Kinder tendenziell schlechter dran waren als die nicht gescreenten (9,10). Mit diesem Ergebnis wurde das Screening natürlich nicht eingeführt.

Ein klassisches Beispiel für Schaden durch Überdiagnostik und folgende Übertherapie einerseits, aber vor allem ein Beispiel dafür, dass man sich über die Vollständigkeit des Wissens zur Begründung eines Screenings sehr leicht täuschen kann. Diese Studie zeigte, dass sich ein lokal begrenztes Neuroblastom viel häufiger von selbst zurückbildete als vorher bekannt, und folglich gar keiner Therapie bedurft hätte. „The potential risks of screening are highlighted by the fact that the three children who died in the group with neuroblastoma detected by screening had localized disease and died from causes related to treatment.” (9)

Man wünschte sich, dass wenigstens der Tod dieser Kinder als eine Mahnung angesehen würde, vor einer marktschreierischen Propagierung eines Screenings ganz genau und sorgfältig und mit breit angelegter Perspektive die Vor- und Nachteile zu diskutieren – und in Äußerungen dazu auch eine der Sache angemessene Sorgfalt walten zu lassen.

 

Literatur

1. Wilson JMG, Jungner G. Principles and practice of screening for disease Geneva: WHO; 1968. Available from: http://www.who.int/bulletin/volumes/86/4/07-050112BP.pdf

2. Baldus S, Laufs U, Schunkert H, Sanin V, Voigtländer T:
Prävention und Früherkennung in der kardiovaskulären Medizin – Nonplusultra oder Kostenfalle?

3. Bundesregierung stärkt Früherkennung von Herz-Kreislauferkrankungen – Kostenfalle oder Chance? 

4. Sanin V, Schmieder R, Ates S, Schlieben LD, Wiehler J, Sun R, Decker M, Sander M, Holdenrieder S, Kohlmayer F, Friedmann A, Mall V, Feiler T, Dreßler A, Strom TM, Prokisch H, Meitinger T, von Scheidt M, Koenig W, Leipold G, Schunkert H; DigiMed Bayern Consortium, Bavarian Pediatricians Consortium. Population-based screening in children for early diagnosis and treatment of familial hypercholesterolemia: design of the VRONI study. Eur J Public Health. 2022 Jun 1;32(3):422-428. doi: 10.1093/eurpub/ckac007. PMID: 35165720; PMCID: PMC9159326.

5. Qureshi N, Da Silva MLR, Abdul-Hamid H, Weng SF, Kai J, Leonardi-Bee J. Strategies for screening for familial hypercholesterolaemia in primary care and other community settings. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 10. Art. No.: CD012985. DOI: 10.1002/14651858.CD012985.pub2. Accessed 09 December 2023.

6. US Preventive Services Task Force; Barry MJ, Nicholson WK, Silverstein M, Chelmow D, Coker TR, Davis EM, Donahue KE, Jaén CR, Li L, Ogedegbe G, Rao G, Ruiz JM, Stevermer J, Tsevat J, Underwood SM. Screening for Lipid Disorders in Children and Adolescents: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA. 2023 Jul 18;330(3):253-260. doi: 10.1001/jama.2023.11330. PMID: 37462699.

7. Familial hypercholesterolaemia in children and adolescents from 48 countries: a cross-sectional study. Lancet 2023; published online Dec 12. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)01842-1.

8. Thierfelder W, Dortschy R, Hintzpeter B, Kahl H, Scheidt-Nave C Biochemische Messparameter im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007 · 50:757–770 DOI 10.1007/s00103-007-0238-2

9. Schilling FH, Spix C, Berthold F, Erttmann R, Fehse N, Hero B, Klein G, Sander J, Schwarz K, Treuner J, Zorn U, Michaelis J. Neuroblastoma screening at one year of age. N Engl J Med. 2002 Apr 4;346(14):1047-53. doi: 10.1056/NEJMoa012277. PMID: 11932471.

10. Berthold F, Spix C, Erttmann R, Hero B, Michaelis J, Treuner J, Ernst A, Schilling FH. Neuroblastoma Screening at 1 Year of Age: The Final Results of a Controlled Trial. JNCI Cancer Spectr. 2021 May 5;5(4):pkab041. doi: 10.1093/jncics/pkab041. PMID: 34240006; PMCID: PMC8259619.

 

 

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