23.01.2024
Notfallreform wieder auf der Agenda
Ein zaghafter erster Schritt des BMG, aber mit hoher Stolpergefahr…
Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.
Die Reform der Notfallversorgung dominierte die gesundheitspolitische Agenda der letzten Woche. Die Initiative dafür kam jedoch nicht aus dem Bundesministerium für Gesundheit, sondern vom Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, in dem bei den Koalitionären die Ungeduld und auch die Zweifel wachsen, ob eine Notfallversorgungsreform in dieser Legislaturperiode noch zu realisieren ist.
Zu oft und zu lange folgten den Ankündigungen des BMG keine Taten. Zwischenzeitlich gab es sogar öffentliche Stimmen aus dem BMG, dass man an dem Thema nicht vorrangig arbeite. Und die Länder hatten ihre Beratungsbereitschaft an den Abschluss der Krankenhausreform gekoppelt.
Kalkulation des Gesundheitsausschusses geht auf
Um das Thema endlich voranzutreiben, wählte der Gesundheitsausschuss im Dezember ein ungewöhnliches parlamentarisches Verfahren: Er setzte eine Anhörung alleinig auf der Grundlage von Anträgen der Opposition für den 17. Januar an und bot der Union und AfD damit eine unverhoffte Bühne für ihre Vorstellungen. Die Kalkulation ging auf – das konnte das BMG nicht auf sich sitzen lassen: Eine Woche vor dem Termin kündigte der Gesundheitsminister an, zufällig am Vortag der Anhörung seine Vorstellungen zu veröffentlichen.
Das wiederum motivierte die Ärzteschaft, eine gemeinsame Erklärung zur Reform der Notfallversorgung aus ihrer Sicht direkt vor der geplanten Veröffentlichung des BMG zu positionieren. So erfolgten in kurzer Abfolge und jeweils mit der tagesaktuellen pressewirksamen Aufmerksamkeit zuerst die Positionierung der Ärzteschaft, dann die Eckpunkte des BMG und schließlich die Anhörung im Gesundheitsausschuss, gefolgt von den üblichen Kommentierungen aus allen gesundheitspolitischen Richtungen. Die Notfallreform war wieder auf der Agenda!
Die Anhörung
Der Gesundheitsausschuss hatte zahlreiche namhafte Institutionen und Personen als Sachverständige eingeladen und diskutierte in Anwesenheit der parlamentarischen Staatssekretärin des BMG auf hohem Niveau die Kernfragen einer Notfallreform – übrigens mit auffällig wenig Bezug zu dem am Vortrag veröffentlichten Eckpunkte-Papier des BMG.
Im Mittelpunkt standen Fragen
- der insbesondere digitalen Koordination zwischen den drei Institutionen der Notfallversorgung, also dem vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst, dem Rettungsdienst und den Notaufnahmen der Krankenhäuser
- der bedarfsgerechten Allokation und Steuerung von hilfesuchenden Patienten sowie
- der Unabdingbarkeit einer Einbindung des Rettungsdienstes in ein Reformpaket.
Beachtlich und auch fachlich in der Anhörung unterstützt forderte der Antrag der Unionsfraktion, das dänische Steuerungsmodell auf Deutschland zu übertragen, bei dem der direkte Zugang der Patienten zu den Notaufnahmen der Krankenhäuser nur nach einer telefonischen Bedarfsprüfung eröffnet wird. Diese Steuerung hat sich bei unserem nördlichen Nachbarn qualitativ und quantitativ bewährt. Auch wurde immer wieder nachdrücklich betont, dass es für eine wirksame Reform zwingend ist, das Zusammenspiel der gesamten Rettungskette zu regeln.
Dies kann durchaus als Seitenhieb gegen die Ankündigung des BMG gewertet werden, die Notfallversorgungreform zu teilen und den Rettungsdienst erst im zweiten Schritt anzugehen. Selbst wenn die Aufteilung mit taktischen Finessen (unterschiedliche Zustimmungspflichtigkeit im Bundesrat) begründet sein mag: Fachlich macht diese Teilung keinerlei Sinn.
Das Eckpunktepapier
Dies ist nicht der einzige Kritikpunkt an den Eckpunkten des BMG. Kaum waren die Eckpunkte „auf dem Markt“, begannen die üblichen Positionierungsrituale der betroffenen Institutionen, mal aus lobbyorientierten, mal aus nachvollziehbaren Motiven. So verwunderte es allgemein, dass das BMG seine Vorstellung nur anhand von detailarmen Eckpunkten und nicht mit einem ausformulierten Referentenentwurf präsentierte. Einen solchen Weg kann man wählen, wenn man noch genug Zeit in der Legislaturperiode vor der Brust hat. Da sich aber das legislative Fenster in absehbarer Zeit schließt, ist der Umweg über Eckpunkte riskant. Der zuständige Abteilungsleiter des BMG sprach jüngst von der Notwendigkeit, alle Gesetzgebungsverfahren zwingend bis zur zweiten April-Hälfte durch das Bundeskabinett bringen zu müssen, um ein Inkrafttreten in dieser Legislatur zu sichern. Das wäre für die Notfallreform Teil 1 und erst recht für Teil 2 sehr sportlich.
Neben einer Ausweitung des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes will das BMG insbesondere die Einrichtungen von digital verbundenen Leitstellen zwischen der KV und den Rettungsdiensten erreichen sowie die Integrierten Notfallzentren (INZ) flächendeckend in Deutschland etablieren.
Die Debatte über die digital verschränkten Rettungsleitstellen setzt dort an, wo sie 2020 bereits gescheitert war. Schon damals war es das Ziel, gemeinsame Rettungsleitstellen zumindest in digitaler Form zu gewährleisten und damit eine der Schnittstellen am Beginn der Rettungskette zu beheben. Die Bundesgesetzgebung hat zwar die Möglichkeit, der KV eine solche Kooperation vorzugeben, findet aber erneut keine Wege und Möglichkeiten, wie sie Einfluss auf die Leitstellen der Rettungsdienste in den Ländern und Kommunen nehmen kann, sich verbindlich für eine gemeinsame Struktur zu engagieren. Finanzielle Anreize werden im Gegensatz zu 2020 nicht mehr angeboten. Damit besteht die Gefahr, dass alles bleibt, wie es heute ist. Ein Zusammengehen der Kassenärztlichen Vereinigung und der Rettungsleitstellen hängt weiterhin lokal stark davon ab, ob Vernunft zwischen den beiden nicht immer befreundeten Institutionen regiert oder Partikularinteressen eine Kooperation verhindern.
Entscheidend für die Reform und ihre Umsetzung wird ein anderer Eckpunkt des BMG sein: Nach welchen Kriterien und Verfahren werden die künftigen Standorte für INZ festgelegt? Bei der notwendigen Standortzahl liegen die Vorstellungen weit auseinander. So hat der Bundesminister bei der Vorstellung der Eckpunkte eine Relation von einem INZ für 400.000 Einwohner und damit circa 210 INZ für Deutschland eingebracht. Dies wäre eine Konzentration, die selbst in dem für die Krankenhausversorgung oft als beispielhaft erwähnten Dänemark nicht erreicht wird. Dort versorgt ein INZ 250.000 Einwohner, was auf Deutschland übertragen ca. 340 INZ wären.
Die Regierungskommission nimmt nicht die zu versorgende Bevölkerung als Maßzahl, sondern leitet aus dem Versorgungs-Ist 420 INZ ab. Grundlage der Berechnung ist Zahl der heutigen Krankenhäuser der Notfallstufe 2 und 3. Die GKV spricht in einem Gutachten von rund 730 notwendigen INZ, wobei sie zusätzlich zu den Standorten der Regierungskommission noch 290 Standorte in ländlichen Regionen als bedarfsgerecht ansieht. Die DKG fordert, dass allen Krankenhäusern mit einer Notfallstufe ein INZ zusteht und kommt somit auf rund 1200 notwendige Standorte.
In der Anhörung vom 17. Januar relativierte der Vorstandsvorsitzende der DKG diese Position auf circa 1000 Standorte. Die Berechnungsmodi und Standortvorstelllungen liegen also um den Faktor 5 bis 6 auseinander – mit weitreichenden Konsequenzen für das bereitzustellende Personal, die Kosten, aber auch für die Rentabilität von Krankenhäusern, die kein INZ „abbekommen“ würden. Zusätzlich lässt sich die Schließung von Notfallaufnahmen selten mit den Erwartungen der Bevölkerung zusammenzuführen. Ohne eine Klärung dieser maßgeblichen Standortzahl macht die weitere Auseinandersetzung über das INZ-Konzept wenig Sinn.
Darauf aufbauend stellt sich die Frage, wer über die Standortauswahl entscheiden wird. Nach den Eckpunkten des BMG sollen die Erweiterten Landesausschüsse, damit also die Krankenkassen, KV und Krankenhausgesellschaften auf Landesebene unter Beteiligung der zuständigen Landesministerien und Patientenvertretungen die jeweiligen Standorte festlegen. Grundlage seien bundeseinheitliche Rahmenvorgaben – von wem auch immer zu definieren. Im Falle nicht fristgemäßer Einigung könne das Land die Standorte bestimmen.
Damit lehnen sich die Eckpunkte an den Referentenentwurf von 2020 an, der damals konkreter formulierte, dass der Gemeinsame Bundesausschuss die notwendigen Rahmenvorgaben zu beschließen habe. Die Umsetzung war ebenfalls dem erweiterten Landesausschuss in gleicher Zusammensetzung übertragen. Bei Nicht-Einigung war eine Schiedsperson und nicht das Land zur Festlegung entscheidend.
Diese Regelung wurde von zahlreichen Ländern vehement abgelehnt, da sie es als Eingriff in die Landeskrankenhausplanung ansahen. Ob sich durch die Einräumung einer länderseitigen „Ausputzerfunktion“ bei Nichteinigung der Protest erübrigen wird, bleibt skeptisch abzuwarten. Gerade vor dem Hintergrund der sehr emotional geführten Debatte während der Krankenhausreform über die Kompetenzen der Länder in der Krankenhausplanung wäre es verwunderlich, wenn die Länder dies ohne Murren schlucken würden. Auch hier rächt es sich wieder, dass das BMG einen Rechtsetzungs-Prozess initiiert hat, der durch eine wissenschaftliche Vorarbeit zu viel Zeit verspielte, die wahrscheinlich jetzt im Klärungsprozess mit den Ländern fehlt.
Fazit
Zwar wird mit den Eckpunkten des BMG endlich wieder über die Notfallversorgung gesprochen, sie bleiben aber ohne eine integrierte Reform des Rettungsdienstes ein Torso. Selbst das jetzt vom BMG vorgestellte Konzept ist fachlich noch nicht zu Ende gedacht. Zum Beispiel sind Kernelemente neben zusätzlichen Aufgaben für die vertragsärztlichen Notfalldienste die flächendeckend digital vernetzten Rettungsleitstellen und das INZ-Konzept. Beide berühren mittelbar oder unmittelbar Länderinteressen. Vernetzte Leitstellen können nur dann entstehen, wenn die Innenministerien es wollen. Und die Bedeutung der künftigen INZ als Brot- und Buttergeschäft für die Krankenhäuser können die Länder als Teil der Krankenhaus-Planung für sich reklamieren.
Ob es gelingt, die Notfallreform als zustimmungsfreies Gesetz einzubringen und ob es dennoch nicht im Bundesrat wie das Transparenzgesetz strandet, bleibt ohne eine Annäherung mit den Ländern sehr unsicher.
Weitere Beiträge des Autors zur Reform der Notfallversorgung:
„… leider wieder nicht umsetzbar“, Observer Gesundheit, 12. September 2023,
„Kein Wumms für die Notfallversorgung“, Observer Gesundheit, 20. März 2023,
„Die Endlichkeit des Nirwana“, Observer Gesundheit, 8. Februar 2022,
„Nirwana statt Tigersprung?“, Observer Gesundheit, 6. November 2020.
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