Nirwana statt Tigersprung?

Der Abgesang der Reform der Notfallversorgung in dieser Legislaturperiode

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.

Es erschien so einfach, eine Reform der Notfallversorgung schnell und unkompliziert in dieser Legislaturperiode umzusetzen: Nach zahlreichen Studien und Defizitbeschreibungen aus den vorangehenden Jahren sowie einer auffordernden Beschlussfassung der Gesundheitsministerkonferenz finalisierten sich die Vorbereitungen für eine Reform der Notfallversorgung in einem Vorschlag des Sachverständigenrates von 2017, der im darauffolgenden Jahr auch in dessen Gutachten Eingang fand. Darin sprach sich der Sachverständigenrat für eine umfassende Neuordnung der „Dreifaltigkeit der Notfallversorgung“ (vertragsärztlicher Notdienst, Notfallambulanzen der Krankenhäuser und Rettungsdienst) aus.

 

Der Plan

Ziel war ein klar strukturiertes, abgestimmtes System ohne Doppelvorhaltungen und Schnittstellenprobleme: Die gemeinsame, integrierte Leitstelle von Rettungsdienst und Kassenärztlicher Vereinigung sollte eine erste telefonische Bedarfseinschätzung vornehmen und bei akutem Bedarf die Patientinnen und Patienten geplant an ein Integriertes Notfallzentrum (INZ) vermitteln, in das auch der ärztliche Bereitschaftsdienst und die jeweilige Zentrale Notaufnahme der Klinik integriert sind. Dort erfolgt eine persönliche Triage durch entsprechende Fachkräfte mit definitiver Bahnung in Richtung ambulanter oder stationärer Weiterbehandlung. Die INZs werden nur an geeigneten Krankenhäusern aufgebaut und sollten gemeinsam von der Kassenärztlichen Vereinigung und den jeweiligen Krankenhäusern getragen werden. Die Triage in Bezug auf die notwendige weitere Behandlung der Notfallpatientinnen und -patienten liegt in der Verantwortung der KV, die Gesamtplanung und notwendige Letztentscheidung für diese neue Konstruktion obliegen den Ländern.

 

Vom Koalitionsvertrag zu Eckpunkten und Diskussionsentwurf des BMG

Angesichts der anstehenden Bundestagswahl 2017 sowie des anstehenden Koalitionsvertrags unterstrich der Sachverständigenrat seine Meinungsführerschaft, in dem er erstmals auf regionalen Veranstaltungen den Ländern sein Konzept zur Notfallversorgung vorstellte. Die Zustimmung war beachtlich, zumal man diese Reform als gelungenes Beispiel einer sektorenübergreifenden Versorgung ansah. Kein Wunder also, dass das Vorhaben Anfang 2018 mit Anleihen beim Gutachten des Sachverständigenrates ohne große Diskussion Eingang in den Koalitionsvertrag fand: „Zur Sicherstellung der Notfallversorgung wird eine gemeinsame Sicherstellung der Notfallversorgung von Landeskrankenhausgesellschaft und Kassenärztlicher Vereinigung in gemeinsamer Finanzierungsverantwortung geschaffen. Dabei sind Notfall-Leitstellen und integrierte Notfallzentren aufzubauen.

Neun Monate später veröffentlichte das BMG Eckpunkte zur Reform der Notfallversorgung. Diese konkretisierten eine Grundgesetzänderung: die Übertragung der Regelungskompetenz der Rettungsdienste auf den Bund, um

  1. die Zusammenführung von kassenärztlichen Notfallzentralen und rettungsdienstlichen Leitstellen in den Kommunen und
  2. die Übertragung des Rettungsdienstes in das SGB V zu ermöglichen, allerdings ohne die Übernahme der Investitions- und Vorhaltekosten für die Rettungsdienstinfrastruktur.

Die sonstigen genannten Eckpunkte blieben im Wesentlichen im Duktus des Vorschlags des Sachverständigenrates.

Die Gesundheitsressorts nickten die Eckpunkte wohlwollend ab, andere Betroffene hielten sich mit Kritik (noch) zurück. Das änderte sich mit dem ersten ausformulierten Gesetzestext, der als Diskussionsentwurf von BMG Mitte Juli 2019 die Reform der Notfallversorgung detailliert darlegte. Zwar wurde auf der Titelseite mit dem Hinweis „nicht mit der Hausleitung abgestimmt“ die höchste Stufe der Unverbindlichkeit für ein veröffentlichtes Ministerialpapier gewählt, aber natürlich war es nicht vorstellbar, dass so ein wichtiges Vorpapier den Minister nicht erreicht hatte. Zum 14. August 2019 lud der zuständige Abteilungsleiter des BMG ausschließlich die Gesundheitsressorts der Länder zu einer Besprechung ein. Und spätestens zu diesem Zeitpunkt begann die Implosion des Vorhabens. Das BMG hatte wohl schlicht übersehen, dass der Rettungsdienst in Deutschland kommunal organisiert ist und im Land maßgeblich die Innenressorts dafür verantwortlich zeichnen. Bei ca. 240 Rettungsdienstleitstellen in Deutschland kann von einem hohen pluralistischen Spektrum ausgegangen werden – wobei große Zweifel an der Rationalität dieser Vielfalt angebracht sind. Manchmal kooperieren diese nachbarschaftlich, manchmal sind sie sich als Konkurrenten spinnefeind. Alle aber haben eine hohe eigene Identität. Das Ansinnen, zwangsfusioniert mit den Notfallzentralen der KV zu werden, war eine elementare Existenzbedrohung für die Leitstellen und ihre kommunalen Vertretungen.

 

Heftiger Widerstand gegen Neuordnung des Rettungsdienstes

Eine noch dickere Kröte, die im Hals der Innenbehörde stecken blieb, war die rechtlich zwar nachvollziehbare, praktisch aber für sie nicht zu akzeptierende Differenzierung von Finanzierungszuständigkeiten zwischen Leistungskosten (durch die Krankenkassen zu tragen) und Vorhalte- und Investitionskosten (künftig durch die Länder zu tragen). Letztere wurden bisher zum größten Teil über kommunale Gebührensatzungen den Krankenkassen „aufgedrückt“ und beinhalteten in unterschiedlichem Maße ein breites Spektrum von Strukturkosten, wie die der Ausbildung und zum großen Teil auch Investitionskosten. Den Kassen war diese Quasi-Selbstbedienungsmentalität der Kommunen ein Dorn im Auge, gegen die sie oft gerichtlich vorgingen. Sie hatten aber eine Option, die sie nutzten: Sie weigerten sich zum großen Teil bis heute, Leerfahrten (also Fahrten ohne anschließenden Krankentransport oder Fehlalarmierungen der Rettungsdienste) als Versicherungsleistung anzuerkennen und den Kommunen zu vergüten.

Zwar waren die Innenbehörden resp. die Kommunen darauf erpicht, mit einer gesetzlichen Neuregelung die Finanzierung dieser Leerfahrten (mit rund 10 % aller Fahrten ein recht beachtlicher Kostenfaktor) vergütet zu bekommen, aber für Vorhaltung und Investitionen selbst zuständig zu sein, war ein Schock. Es war nämlich zu erwarten, dass aufgrund des Konnexitätsprinzips die Kommunen diese Kosten künftig von den Innenressorts der Länder einfordern würden. Diese zusätzlichen Beträge waren aber in keinem Haushalt vorgesehen.

Hinzu kam, dass es für die Innenressorts wie ein Kulturschock wirkte, dass sie durch die übliche SGB V-Struktur der Selbstverwaltung mit Vorgaben des GBA, Vertragsverhandlungen und Schiedsstellen in ihrer bisherigen Autonomie bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Rettungsdienste eingeengt werden sollten.

 

Unbehagen der Bundesländer über Sicherstellungsauftrag

Aber auch die Gesundheitsressorts der Länder waren mehr als irritiert, sollte ihnen doch als Konsequenz ihrer oft eingeforderten regionalpolitischen Rolle und rechtlichen Verantwortung für die Krankenhausplanung die Sicherstellung der gesamten Notfallversorgung übertragen werden. Die regionalen KVen kündigten schon einmal einen Anruf Samstagabend in der Gesundheitsbehörde an, dass der Notdienst-Arzt leider erkrankt sei und sie keinen separaten Ersatz organisieren könnten. Der Minister möge doch bitte entscheiden, wie der Notfalldienst bis zum nächsten Tag abgedeckt werden soll. Eine solche Vorstellung führte nicht zu Begeisterung in den Ministerien.

Entsprechend aufgeladen und vielstimmig war dann Mitte August die Diskussion zwischen dem BMG und den Ländern, bei der auch die Innenressorts vertreten waren. Eine gründliche Überarbeitung wurde angekündigt.

Das BMG hatte sich mit dem Diskussionsentwurf ungeschickt in die Enge manövriert.  Getreu dem üblichen Vorgehen, in der ersten Entwurfsfassung eines Gesetzes das Maximum zu fordern, dann langsam einige Dollpunkte zurückzuziehen, und so das eigentlich Gewollte umzusetzen, hatte es diesmal die „Feindeslinie“ unterschätzt. Wohlmeinende Warnungen, sich auf die grundgesetzliche Änderung der Zuständigkeit für die Zusammenführung der Leitstellen zu beschränken und die sonstigen Umstrukturierungen des Rettungsdienstes mit den genannten finanziellen Folgen für die Länder hintanzustellen, wurden nicht gehört. Es schien so, als habe das BMG in den Vorbereitungen des Gesetzentwurfes die Bedeutung der Innenbehörden und Kommunen nicht hinreichend beachtet – ein verhängnisvoller Fehler.

 

Neustart mit Referentenentwurf – viel Feind, viel Ehr

Vier Monate später wurde mit dem Referentenentwurf der 2. Versuch präsentiert: keine Grundgesetzänderung mehr, keine verbindliche Vorgabe für eine einheitliche Leitstelle von KV und Rettungsdienst, allerdings ein „vergoldetes“ Kooperationsangebot. Wenn die Rettungseinsätze aufgrund einer Entscheidung eines gemeinsamen und einheitlichen Notfallsystems erfolgten, würden die Krankenkassen auch zahlen, wenn es sich letztendlich um Leerfahrten oder Fehleinsätze handeln würde. Wenn aber die Leitstelle des Rettungsdienstes separat von der KV aufgestellt bleiben möchte, dann nicht.

Zusätzlich sollten die Rettungsdienste 50 Millionen € von Kassen und den Ländern für die technische Infrastruktur bekommen, wenn sie sich mit der KV zusammenschlössen. Wie diese Technik auszusehen habe, würde allerdings bundeseinheitlich durch den G-BA entschieden und wäre für die gemeinsame Leitstelle verbindlich. Das schmerzte sehr, sind die kommunalen Rettungsdienste doch – berechtigt oder unberechtigt – stolz auf ihre überall jüngst umgesetzte (aber nicht einheitliche) Digitalisierung, die damit ggf. hinfällig wäre.

Auf eine Unterstellung der Rettungsdienste unter das SGB V wurde zwar verzichtet, es wurde aber nochmals klargestellt, dass die Kassen die Finanzierung der Investitions- und Vorhaltekosten nicht übernehmen dürften (wenn auch etwas versteckt in der Begründung des Gesetzes festgeschrieben). Damit wäre auch diese Fassung aus den oben genannten Gründen wohl von den Innenresorts nicht mitzutragen.

Viel Feind, viel Ehr! Entsprechend verfuhr das BMG auch mit den Gesundheitsressorts der Länder, denen der Sicherstellungsauftrag zwar erlassen wurde, ihnen aber nicht das Bestimmungsrecht gewährt würde, in ihrem Land die Krankenhausstandorte für die notwendigen INZs festzulegen. Das wird von den meisten Länder als Krankenhaus-Planungsbehörden keinesfalls zu tolerieren sein.

 

Affront gegen die DKG – trotzdem im GVWG wieder aufgegriffen

Die Krankenhäuser selbst sind ebenfalls auf den Barrikaden, weil die Gesamtverantwortung für das neue Konstrukt der INZ alleinig bei den Kassenärztlichen Vereinigungen liegt. Sie drohen mit Kooperationszurückhaltung. Für sie ist der Zugriff auf die Notfallversorgung elementar wichtig. Bekanntlich „leben“ die Krankenhäuser von den Notfällen, mit denen sie mehr als 50 % ihrer Fälle generieren und abrechnen – ob immer zu Recht, ist gutachterlich bereits mehrfach angezweifelt worden.

Deshalb empfindet die DKG auch die Passage des jüngsten Entwurfs des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) als abzulehnenden Affront, weil hiermit der KBV federführend der Auftrag erteilt werden soll, bundesweit einheitliche Vorgaben und Qualitätsanforderungen zur Durchführung einer standardisierten Ersteinschätzung in den Notfallambulanzen zu erarbeiten, die als Abrechnungsvoraussetzungen gelten sollen.

 

Mit Corona Verschiebung auf nächste Legislaturperiode

Zurück zum Referentenentwurf der Notfallversorgung: Ob dieser mehrheitsfähig werden könnte, kann stark bezweifelt werden. Zwar geht der Referentenentwurf von einem nicht zustimmungspflichtigen Gesetz durch den Bundesrat aus, aber die Widerstände der Innenressorts wegen der drohenden finanziellen Belastung der Länder werden sich alle Landesregierungen zu eigen machen. Und die Gesundheitsressorts werden kaum akzeptieren, keinen Einfluss auf die Festlegung der INZs ausüben zu können.

Und dann kam Corona. Bis zur Sommerpause hörte man immer noch Avancen, dass „irgendetwas“ zur Rettung des Reformprojektes Notfallversorgung noch zu erwarten sei. Dann aber verkündete kürzlich der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel (warum eigentlich er?), die Verschiebung auf die nächste Legislaturperiode: Dies sei der hohen Arbeitsbelastung im Ministerium durch die gesetzgeberischen Notwendigkeiten aus der Corona-Epidemie geschuldet, aber unausgesprochen wohl auch der Erkenntnis, dass der Minister mit dem, was von einer notwendigen und sinnvollen Reform übrig bleiben würde, nicht reüssieren könnte, zumal kurz vor und in einem Wahljahr. Insofern ist es eine taktisch kluge, aber in der Sache enttäuschende Entscheidung, statt des angekündigten Tigersprungs mit dem Gesetzesvorhaben im Nirwana des Vorwahljahres zu verschwinden.

 

Torso statt Planerfüllung

Der entscheidende Fehler aber war, das Gesetz im BMG ganz im Alleingang auszuarbeiten, statt es – wie von den Ländern gefordert – im Dialog mit den Innen- und Gesundheitsressorts zu entwickeln. Nur so wäre es dem BMG möglich gewesen, sich in die Gedankenwelt der Rettungsdienste hinein zu versetzen und zu verhindern, dass diese ihre bisherige komfortable Selbstbestimmung und Gebührenregelung glaubten aufgeben zu müssen, ohne gleichwertige neue Vorteile zu erhalten.

Was wird also in der nächsten Legislaturperiode übrigbleiben von der großen Reform? Nach diesen Erfahrungen werden die Erwartungen wohl gedämpft werden. Vielleicht eine Kann-Regelung für gemeinsame Leitstellen? Hoffentlich das an sich sinnvolle, aber noch nicht zu Ende gedachte Konzept der INZs? Dazu dient der Trippelschritt im GVWG (s.o.). Insgesamt aber bleibt nur ein Torso der ursprünglichen Planung. Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, wem der Status quo der Notfallversorgung nützt (denen, die sich im System eingerichtet haben), und wem er schadet (den Patientinnen und Patienten). Insofern bleiben gute Gründe, einen geschickteren Anlauf nach der Wahl zu versuchen.


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