… leider wieder nicht umsetzbar

Zur neunten Stellungnahme der Regierungskommission Krankenhausversorgung: „Rettungsdienst und Finanzierung“

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a.D.

Schon der erste Versuch der Regierungskommission vom März, sich der Reform der Notfallversorgung zu nähern, ging bisher folgenlos in der gesundheitspolitischen Diskussion unter. Er ließ zu viele Fragen offen.[1] Leider gilt das Gleiche für die nunmehr vorgelegte neunte Stellungnahme zum Rettungswesen und dessen Finanzierung.

 Licht und Schatten wechseln sich in einem Dreiklang ab:

  • eine lesenswerte faktenbasierte und umfängliche Defizitanalyse, die die Komplexität des Rettungswesens aufzeigt,
  • eine Wiederholung der seit 2018 bekannten Zielvorstellungen, angereichert mit einigen zusätzlichen guten Ideen,
  • aber leider wieder keine Lösung, wie man diese Konzeption in der politischen und rechtlichen Gemengelage des Rettungsdienstes in Deutschland umsetzen kann.

Die Empfehlungen sind von daher nicht mehr als ein Wunschbild ohne Aussicht auf Realisierung.

In ihrem Analyseteil benennt die Kommission das ganze Dilemma des deutschen Rettungswesens:

  • keine einheitliche Rechtsgrundlage
  • ein Nebeneinander von Zuständigkeiten und verantwortlichen Ebenen, von der Landesebene bis zur Kleinteiligkeit in den Kommunen
  • unklare Qualität, keine Standardisierung, keine einheitliche Dokumentation, keine abgestimmte Digitalisierungsplattform
  • stetig wachsende Kosten, wobei es unklar bleibt, was den Krankenkassen heute zur Kostenerstattung alles „untergeschoben“ wird
  • eine erodierende Personalausstattung mit gravierenden Unterschieden in der Qualifikation, fehlender Kompetenzklärung und Vermengung von Aufgaben gerade in den kommunalen Rettungsdiensten.

Ja – das System ist eine fachliche, inhaltliche und strukturelle Blackbox und bedarf dringend einer Reform. So weit, so einig.

Bei ihren Zielen und Empfehlungen lehnt sich die Kommission stark am Jahresgutachten 2018 des Sachverständigenrates[2] und die nachfolgenden Gutachten über den Rettungsdienst an. Deren Kernforderungen werden im Wesentlichen übernommen. Hinzugefügt werden wichtige neue Aspekte wie ein digitales Ressourcenregister, eine neue, gegliederte Ausbildung für das nicht-ärztliche Personal, Mindestpersonalanhaltzahlen oder ein definierter Richtwert von einer Million Einwohner pro Leitstelle. All dies und einiges mehr bereichert den Zielkatalog sinnvoll. Aber damit muss die positive Bilanz leider enden.

 

Aus der Vergangenheit nichts gelernt

In Bezug auf die Umsetzung scheint die Kommission aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben. Wichtig wäre eine Analyse, warum die ersten beiden Gesetzentwürfe aus den Jahren 2019 und 2020 gescheitert sind, zumal wesentliche Grundlagen des zweiten Gesetzentwurfes nach den Vorstellungen der Kommission wiederbelebt werden sollen.

Wie damals schlägt sie vor, die rettungsdienstliche Leistung umfänglich in das SGB V einzugliedern. Die kassenseitige Erstattungspflicht soll die Vergütung von Leistungen der Leitstelle, medizinischen Leistungen des Rettungsdienstes und Fahrkosten für medizinische Notfälle sowie Maßnahmen der Qualitätssicherung umfassen, während die Zuständigkeit für die Investitionskosten bei den Ländern und Kommunen verbleibt. Daran hatte sich beim zweiten Gesetzentwurf die politische Debatte festgefahren.

Nochmal zur Erinnerung – auch für die Kommission: Bisher liegt das Rettungswesen in der Gesetzgebungskompetenz der Länder, die mehrheitlich von den Innenbehörden und nicht von den Gesundheitsbehörden wahrgenommen wird. Die Kostenerstattung des Rettungsdienstes wird meist über ein sehr komfortables Satzungsrecht von den Ländern oder Kommunen gegenüber den Krankenkassen definiert. Was dort genau eingerechnet wird, bleibt oft im Dunklen, beinhaltet aber in unterschiedlicher Ausprägung zumindest Investitionsanteile. Wenn künftig die Investitionskosten klar getrennt von den sonstigen Kosten durch Länder und Kommunen finanziert werden sollen, müssen im Rahmen der Konnexität die Länderhaushalte den Kommunen diese Kosten erstatten. Wir reden von hohen Summen, die in keinem Haushalt eingeplant sind. Von daher werden die Innenministerien eine solche gesetzliche Festlegung, wie bereits 2019/2020, schon aus finanziellen Gründen ablehnen.

Hinzu kommt eine nicht abschließend geklärte Debatte, ob mit einer erweiterten Zuständigkeit der Krankenkassen über das SGB V die landesrechtliche Gesetzgebungszuständigkeit für die Organisation des Rettungswesens nach Art. 30/70 GG gewahrt wird. Das behauptet zwar die Kommission (und das BMG), aber wer erinnert sich nicht an ähnliche mutige verfassungsrechtliche Statements bei der Krankenhausreform, die dann nicht haltbar waren? Wie agieren eigentlich die juristisch versierten Experten in der Kommission?

 

Der gordische Knoten der Notfallreform

Diese entscheidende Fehlstelle des Papiers erkennen auch andere: „Eine wirkliche Idee, um den gordischen Knoten zu lösen zwischen der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen für den Rettungsdienst auf der einen Seite und der notwendigen bundeseinheitlichen Standardisierung auf der anderen Seite, findet man in den Empfehlungen der Regierungskommission leider weiterhin nicht.“[3]

Denkbar wäre ein Übergangszeitraum, der durch ein sukzessive abschmelzendes Anpassungsbudget der Kassen oder des BMG gestützt wird. Aber sind die dafür sicherlich jährlichen dreistelligen Millionenbeträge darstellbar?

Auch ein zweites Problem bleibt nach der Stellungnahme der Kommission ungelöst: Wer soll eine zwingend notwendige fachliche Standardisierung und einheitliche Strukturqualität festlegen? Ohne eine diesbezügliche Einigung sind alle weiterführenden Überlegungen für eine gemeinsame Reform des Rettungsdienstes hinfällig. Ein solches Gremium, in dem sowohl die Innenbehörden, die Gesundheitsbehörden, die Kommunen und die Krankenkassen vertreten und in der Lage sind, die strukturellen und inhaltlichen Standards zu definieren, gibt es in Deutschland nicht. Die Bertelsmann Stiftung hatte angeregt[4] , dafür eine gesetzliche normierte plural zusammengesetzte Expertenkommission als „Fachkundiges Gremium“ einzusetzen, die dem Gesetzgeber abgestimmte Vorschläge unterbreitet. Beispiele dafür gibt es im Gesundheitswesen.[5]

Dagegen ist der Lösungsvorschlag der Kommission wenig greifbar: Sie spricht alleinig von „länderübergreifenden Koordination“. Wie soll diese plötzlich gelingen?

 

Finanzierung ungelöst

Wie auch schon im zweiten Gesetzentwurf von 2020 werden zur Implementierung von Maßnahmen der Struktur- und Prozessqualität vorübergehende Pauschalen und Zusatzentgelte der Kassen vorgeschlagen. Die damals sofort einsetzende Debatte über die völlig unzureichende Höhe der vorgesehenen Mittel wird sich an diesen Punkt erneut fortsetzen. Auch hier kann auf den Vorschlag aus der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahre 2022 verwiesen werden, mit dem die Kassen gesetzlich verpflichtet werden, nach einer Übergangszeit nur Leistungen mit den von dem Fachkundigen Gremium entwickelten Qualitätsstandards zu bezahlen, so dass eine adäquate Anpassung möglich bleibt.

Allein diese „Dollpunkte“ einer Reform des Rettungsdienstes zeigen, dass ein solches Unterfangen nicht im Hauruck-Verfahren durchführbar ist. Hier rächt sich, dass der Bundesminister den Beginn der Debatte an das Votum der Regierungskommission gebunden hat. Nun, in der Mitte der Legislaturperiode, wird es sehr eng bis unmöglich, das Thema gebührend zu bewegen.

 

Utopische Planungen

Die bei der Vorstellung der neunten Stellungnahme vorgetragene Äußerung von Karl Lauterbach, die Notfallreform mit der Krankenhausreform zu parallelisieren (was sicherlich richtig gewesen wäre), ist jetzt illusorisch. Wenn das ernsthaft beabsichtigt ist, wäre das die Entschuldigung, die Krankenhausreform weit in das kommende Jahr zu schieben. Bestenfalls könnte es gelingen, an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung Spurenelemente einer Reform der Notfallversorgung zu berücksichtigen.

Im Ergebnis muss man konstatieren, dass die Regierungskommission sich zwar viel Mühe gegeben hat, aber es ihr an Ideen mangelt, wie diese in die Realität umzusetzen sind. Vielleicht hat aber auch der Bundesminister frühzeitig erkannt, dass dieses Reformvorhaben zu aufwändig ist und von daher das Projekt via Regierungskommission auf die lange Bank geschoben. WV (Wiedervorlage) in der nächsten Legislaturperiode?

 

[1] Gruhl, M: Kein Wumms für die Notfallversorgung, Observer Gesundheit, 20.03.2023

[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechte Steuerung
der Gesundheitsversorgung, Gutachten 2018.

[3] vdek-Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner: Probleme der Notfallversorgung können nur durch funktionierenden Rettungsdienst gelöst werden, Pressemitteilung 07.09.2023

[4] Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Neuordnung Notfallversorgung, Ergebnisse eines Panels von Expertinnen und Experten zur Entwicklung einer umsetzbaren Reform der Notfallversorgung, 28.01.2022, Seite 10,

[5] Zum Beispiel mit dem Sachverständigengremium nach § 53 Arzneimittelgesetz (AMG)

 

Weitere Beiträge des Autors zur Reform der Notfallversorgung:

„Kein Wumms für die Notfallversorgung“, Observer Gesundheit, 20. März 2023,

„Die Endlichkeit des Nirwana“, Observer Gesundheit, 8. Februar 2022,

„Nirwana statt Tigersprung?“, Observer Gesundheit, 6. November 2020.


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