Kein Wumms für die Notfallversorgung

Zur vierten Stellungnahme der Regierungskommission – Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland – und den bisherigen Reaktionen

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a.D.

Eine Symptombeschreibung, die zwar meist richtig, jedoch keinesfalls neu ist. Sie ist ergänzt durch eine Ideensammlung aus teilweise wieder Aufgewärmtem und Wolkenkuckucksheimen. Doch die Vorstellung fehlt, wie man die Reform umsetzen kann. So lassen sich die Vorschläge der Regierungskommission zur lang erwarteten Reform der Notfallversorgung (NFV) auf den Punkt bringen. Die Reaktionen sind nicht euphorisch.

Wenn sich bei Ihnen zu Hause Wasserflecken an der Decke bilden, suchen Sie dann als erstes einen Architekten auf und besprechen mit ihm Ihre Wunschvorstellung für Ihr neues Traumhaus? Oder versuchen Sie, mit den passenden Handwerkern die Ursache für die Mängel zu finden und zu verstehen, wie man sie am besten beheben kann?

Die Regierungskommission gleicht einem solchen Architekten. Sie hat zwar die altbekannten Mängel in der NFV umfassend wiedergegeben, wenn auch eingetrübt durch den Vorwurf des ZI, dafür nicht die aktuellen Daten genutzt zu haben.[1] Sie benennt aber nicht die Gründe, warum die NFV so unabgestimmt agiert. Stattdessen werden neben den bisherigen Rezepten visionäre Vorstellungen vorgestellt, die in den Niederungen des Gesundheitswesens leider nicht mal par ordre du mufti und zeitnah umgesetzt werden können. Beispiele: nicht existierende 24/7 MVZ auf dem Land oder neue ärztliche Fachgebiete, die frühestens in der übernächsten Legislaturperiode in der Versorgung ankommen können.

 

Verständnis für die Ursachen der Probleme notwendig

Eine Reform der NFV bedarf keiner bunten Bilder für eine rosige Zukunft, sondern ein Verständnis für die Ursachen der Probleme. Einige Beispiele:

  • Das Nebeneinander der KV- und der Rettungsdienst-Leitstellen ist ein Anachronismus. Aber warum gibt es keine bundesweite Verständigung über eine gemeinsame praktische oder digitale Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Leitstellen? Weil auf der Bundesebene bis heute kein Gremium zum Austausch oder zur Abstimmung zwischen beiden Institutionen existiert.
  • Warum ruft der Rettungsdienst beim Aufsuchen der Patienten vor Ort nicht den Bereitschaftsarzt, wenn er der Überzeugung ist, dass der Patient nicht ins Krankenhaus gebracht werden muss? Weil der Rettungsdienst nur für den Transport ins Krankenhaus, nicht aber für eine Einleitung einer ambulanten Behandlung bezahlt wird.
  • Warum will kein Krankenhaus auf seine Notaufnahme verzichten, auch wenn es objektiv keine Patientenversorgung lege artis anbieten kann? Weil das Krankenhaus zum finanziellen Überleben auf die dort generierten Fälle angewiesen ist.
  • Warum sind die KVen so zögerlich, sinnvolle ambulante Versorgungsangebote an oder in den Notfallkrankenhäusern zu etablieren? Weil dadurch die Verwaltungskostenumlage der niedergelassenen ÄrztInnen so steigen würde, dass massiver interner Widerstand innerhalb der KVen und nachhaltige Kritik am Vorstand zu befürchten ist.

Diese Beispiele sollen zeigen, dass erst das Verständnis für die Gründe eines unabgestimmten Handelns in der dreigeteilten Rettungskette von Kassenärztlichen Vereinigungen, Kommunen und Krankenhäusern zu passenden Lösungen führen wird, die umsetzbar sind. Hierzu leistet die Kommission leider keinen Beitrag.

Die Kommission beschreibt richtig, dass es einer gestuften Versorgungskette bedarf, der statt einer Krankenhauseinweisung mehr ambulante Alternativen zur Verfügung stehen muss. Erwähnt werden eine Notfallpflege, schnell einsetzbare Palliativteams, telemedizinische Unterstützung und eine digitale Vernetzung und Dokumentation zwischen allen Diensten. Dies wurde allerdings bereits ausführlicher vom SVR vor fünf Jahren[2] und von der Bertelsmann Stiftung 2022[3] eingebracht. Unverständlich bleibt, wieso die Kommission sich zwar bei den Leitstellen intensiv mit den Aufgaben der Rettungsdienste befasst, aber ansonsten bzgl. der künftigen Rolle dieser entscheidenden Player auf künftige Stellungnahmen verweist.

 

Zahlreiche unbeantwortete Fragen

Auch werden viele weitere maßgebliche Fragen von der Kommission nicht beantwortet:

  • Wer entscheidet, ob ein Krankenhaus ein INZ bekommt?
  • Was sind die wesentlichen Maßzahlen und Kriterien für die Flächenversorgung?
  • Wer soll die Tools und Plattformen für die Schnittstellenüberwindung und Digitalisierung entwickeln?
  • Wie können alle Partner in eine einheitliche Systematik überführt werden?
  • Wer bezahlt das?
  • Können PatientInnen weiterhin ohne jegliche fachliche Einstufung direkt die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser aufsuchen?
  • Wer soll in 24/7 MVZ arbeiten, wenn die vertragsärztliche Versorgung in der Fläche immer mehr ausgedünnt wird?

Hinzu kommt, dass die Kommission ihren Krankenhausbezug bestätigt und deshalb nicht allseits als „ehrlicher Makler“ wahrgenommen wird. So sollen nach den Vorstellungen der Kommission die INZ zwar gleichberechtigt zwischen der KV und den Krankenhäusern organisiert werden, aber letztendlich den Krankenhäusern die Leitung übertragen werden. Entsprechend fallen die Stellungnahmen der beiden Antipoden aus: DKG dafür, KV dagegen.

 

Wie weiter?

Zurecht weist der BKK Dachverband[4] darauf hin, dass ohne eine neue Regelung der Notfallversorgung eine Krankenhausreform nicht sinnvoll sei. Wenn man das Entree in die stationäre Versorgung ungeklärt lässt, ist fachlich und ökonomisch eine stationäre Versorgung schwerlich einzuschätzen. Das BMG schlug deshalb nachvollziehbar vor, die Umsetzung der Notfallreform zusammen mit der Krankenhausreform in der Bund-Länder-Gruppe zu erarbeiten.

Der Bundesminister stellte am 23. Februar in der zweiten Bund-Länder Runde zusammen mit dem Kommissionsvorsitzenden die Ergebnisse zur Notfallversorgung vor. Die Reaktionen waren länderseitig verhalten bis abweisend, zumal die wichtige Frage, welche Rolle die Länder später in der Notfallversorgung spielen sollen, durch die Kommission nicht angesprochen wurde. Die Länder kommen in dem Vorschlag schlicht nicht vor.

Insgesamt scheint die Vertrauensbasis zwischen den Gesundheitsressorts der Länder und dem Bund zu erodieren. Dazu beigetragen haben die unklugen Äußerungen des Bundesministers vom 7. März, als er dem NRW-Gesundheitsminister, einem Schwergewicht auf der B-Seite der GMK, aufforderte, die beispielgebende Krankenhausreform in NRW zu stoppen. Die Initiative der Länder Bayern, NRW und Schleswig-Holstein, grundlegende Fragen der Kompetenzaufteilung verfassungsrechtlich klären zu lassen, belegt die Verstimmung. Auch wenn der Bundesmister auf dem Krankenhausgipfel der DKG am 13. März abzuwiegeln versuchte, ist diese Lage keine gute Ausgangsbasis, die Notfallreform zusätzlich zu behandeln. Alle Beteiligten wissen, dass eine Reform der Notfallversorgung noch komplizierter ist als eine Neuordnung der Krankenhaustrukturen, da mit den Innenministerien bis hin zu den Wohlfahrtsverbänden als Träger der Rettungsdienste viele weitere Player zu berücksichtigen sind.

Insgesamt wirken die bisher vorgetragenen Statements eher pflichtschuldig als aufbruchsorientiert. Eine breite Unterstützung oder gar euphorisches Echo blieben aus. Hinzu kommt, dass die Taktung der Ankündigungen seitens des BMG überwältigend ist. Jede Woche wird ein neues Megathema auf die gesundheitspolitische Agenda gesetzt. Man erinnert sich kaum noch daran, dass in den letzten Wochen vor der UPD-Gesetzgebung, den post-vac-Impfschäden, der umfänglichen Einführung der Elektronischen Patientenakte und der Pflegereform die Notfallversorgung auf der Tagesordnung stand.

Vielleicht wird es noch dazu reichen, Teilaspekte wie die Schnittstelle KV/Krankenhaus zu bearbeiten, die aber aufgrund der Länderhoheit bei der Krankenhausplanung auch nicht alleinig in die Zuständigkeit der Bundesgesetzgebung fällt. Politik sucht schnelle Erfolge. Diese sind bei diesem Thema nicht einzufahren. Es bleibt zu hoffen, dass die zwingend gebotene Reform der Notfallversorgung aufgrund ihrer Komplexität nicht, wie schon 2020, ganz von der Agenda rutscht.

 

[1] Zentralinstitut Kassenärztliche Versorgung (Zi), Zi bewertet Daten zur Inanspruchnahme der Notfallversorgung 2009-2021, veröffentlicht 17.02.2023 https://www.zi.de/detailansicht/zi-bewertet-zahlen-der-regierungskommission-zur-inanspruchnahme-der-notfallversorgung-2009-2021.

[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Bedarfsgerechte Steuerung
der Gesundheitsversorgung Gutachten 2018
https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2018/Gutachten_2018.pdf.

[3] Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Gruhl M, Neuordnung Notfallversorgung Ergebnisse eines Panels von Expertinnen und Experten zur Entwicklung einer umsetzbaren Reform der Notfallversorgung, 28.01.2022, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/neuordnung-notfallversorgung-all.

[4] BKK Dachverband Reform der Krankenhausvergütung: Positionen und Kernforderungen des BKK Dachverbandes.

 

Weitere Beiträge des Autors zur ambulant-stationären Versorgung: 

„Ambulant/stationäre Intermediär-Versorgung – eine Einordnung“, Observer Gesundheit, Observer Gesundheit, 27. Januar 2023,

„1,2,3…, ganz viele Gesundheitskioske“, Observer Gesundheit, 2. September 2022,

„Gesundheitskioske – eine Einordnung zur geplanten Einführung“, Observer Gesundheit, 4. Juni 2022,

„Die Endlichkeit des Nirwana“, Observer Gesundheit, 8. Februar 2022,

„Die versteckten Hürden für Krankenhausstrukturreformen“, Observer Gesundheit, 20. Oktober 2021,

„Sektorenübergreifende Versorgung – eine Einordnung“, Observer Gesundheit, 19. Juli 2021,

„Nirwana statt Tigersprung“, Observer Gesundheit, 6. November 2020,

„Bund-Länder-Arbeitsgruppe ´Sektorenübergreifende Versorgung` vor der Reaktivierung“, Observer Gesundheit, 13. August 2020.


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