Lasst tausend Kioske erblühen?

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

Nach Erkenntnissen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung befinden wir uns in den Industrieländern seit einigen Jahren in einer auf Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit der Gesundheitssysteme zielenden Reformära. Dazu passt der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Lauterbach, das Versorgungsangebot in Deutschland um 1.000 Gesundheitskioske zu ergänzen.

Vorbild ist ein vom Innovationsfonds geförderter Modellversuch in den sozial eher benachteiligten Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn (INVEST). Der Modellversuch zielte darauf, die gesundheitliche Teilhabe und Patientenzufriedenheit der Bevölkerung zu verbessern. Gleichzeitig stand eine höhere Wirtschaftlichkeit und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten im Fokus. Die Intervention umfasste drei Bereiche:

  • die Einrichtung eines lokalen Ärztenetzes, das abgestimmt, sektorenübergreifend und populationsorientiert versorgen sollte.
  • die Vereinbarung von Versorgungspfaden für vulnerable und chronisch kranke Patientinnen und Patienten mit einem digitalen Datenaustausch und benannten Koordinatoren der Versorgung.
  • die Einrichtung eines Gesundheitskiosks für mehrsprachige Gesundheitsschulungen und -beratung, Unterstützung der Koordination zwischen beteiligten Versorgungseinrichtungen und allgemeine Informationen zur Gesundheit und zum Gesundheitswesen.

 

Modellversuch zeigt: Kiosk steht nicht als Solitär

Neu war insbesondere die ärztliche Überweisung an den Kiosk für spezielle Beratungen und/oder Koordinationsaufgaben, das sogenannte „social prescribing“. Der Kiosk steht in diesem Konzept also nicht als Solitär, sondern vielmehr als Teil eines konzertierten Einsatzes aller Beteiligten, um Versorgungslücken zu schließen. Diese Lücken können sich trotz eines umfassenden Leistungsversprechens im deutschen Gesundheitssystem insbesondere für sozial benachteiligte Personengruppen, zumal im Falle fehlender deutscher Sprachkenntnisse ergeben.

Im Zuge der Evaluation wurde die Nutzung des Gesundheitskiosks analysiert. Die Ergebnisse der Teilstudie zeigen, dass 2.182 (57 Prozent) der 3.837 in das Modellprojekt eingeschriebenen Versicherten in der Projektlaufzeit (1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2019) mindestens einmal im Gesundheitskiosk beraten worden sind. Im Durchschnitt wurden drei Beratungen pro eingeschriebenem Versicherten im Gesundheitskiosk in Anspruch genommen. Die meisten Beratungen (40 Prozent) sind zum Themenfeld Übergewicht angeboten worden. Die ärztliche Überweisung in den Gesundheitskiosk hat die Inanspruchnahme signifikant erhöht. Die Häufigkeit der Erstbesuche lag für Versicherte mit ärztlicher Überweisung um 16,6 Prozentpunkte höher als ohne ärztliche Überweisung (p < 0,05). Die Häufigkeit der Besuche war für Versicherte mit dem Beratungsanlass „Übergewicht“ um 25,1 Prozentpunkte höher als für Hilfesuchende ohne diesen Beratungsanlass (p < 0,01). Knapp die Hälfte der befragten Nutzerinnen und Nutzern des Gesundheitskiosks (N=263) würden die Kurse auch dann nutzen, wenn diese kostenpflichtig wären.

 

Zugang zur ambulanten Versorgung verbessert sich

Insgesamt konnte das Modellvorhaben eine Verbesserung des Zugangs zur ambulanten Versorgung in der Region Billstedt-Horn bewirken. Die Evaluation verweist auf eine steigende Anzahl ambulanter Arztbesuche sowie eine reduzierte Häufigkeit ambulant-sensitiver Krankenhausaufnahmen (ASK-Rate). Im Vergleich zur Kontrollgruppe stieg die Anzahl der Arztbesuche in der Interventionsgruppe um durchschnittlich 1,9 Besuche pro Versicherten und Jahr, während die ASK-Rate um 18,8 Prozentpunkte gesunken ist (jeweils p < 0,05).

Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes oder der Gesundheitskompetenz konnte nicht nachgewiesen werden. Auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit kommen die Evaluatoren zu keinen klaren Aussagen. Auffällig waren im Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe um 6,21 Euro je Quartal geringere Arzneimittelausgaben und um durchschnittlich 8,68 Euro je Quartal höhere Ausgaben für Pflegeleistungen (jeweils p < 0,001). Während sich die Arbeitsbelastung und Arbeitszufriedenheit der Kooperationspartner nicht spürbar verbessert hatte, wurde der Kiosk von diesen als Arbeitserleichterung und Verbesserung gewertet.

Sollte Minister Lauterbach am Prinzip einer von ihm selbst früher geforderten evidenzbasierten Gesundheitspolitik festhalten, wäre aus der Evaluation zu schließen, dass ein solcher Gesundheitskiosk insbesondere in Regionen mit einer ausgeprägten sozialen Benachteiligung einen wirksamen Beitrag leisten kann. Und zwar unter der Voraussetzung, dass dieser aktiv in die gemeinsamen Bemühungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte vor Ort sowie ggf. der Gesundheitsämter eingebunden ist, den Zugang für sozial Benachteiligte zu Präventions-, Beratungs-, Koordinations- und Pflegeleistungen zu verbessern. Außerhalb besonders deprivierter Regionen könnten viele Leistungen des Kiosks sehr gut durch die für Beratung und aufsuchende Versorgung besonders geschulten Fachkräfte aus den Praxen wahrgenommen werden.

 

Festlegung von Kriterien erforderlich

Wichtiger als die Zahl der einzurichtenden Kioske wäre demnach die Festlegung der Kriterien für deren Einrichtung. Zudem sollte vor einer breiten Implementierung evaluiert werden, ob sich der Gedanke andernorts ebenso erfolgreich implementieren lässt wie in Billstedt und ob die Nutzerzahlen den Einsatz rechtfertigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine gute Idee nicht ohne Weiteres in der Breite einsetzbar ist. Zu beachten ist, dass von der Einrichtung des Kiosks keine Wirtschaftlichkeitseffekte im Sinne von Einsparungen bei Leistungsausgaben zu erwarten sind. In Zeiten, in denen die Politik das Honorar der Vertragsärztinnen und -ärzte für nachgewiesenermaßen aufwändige Erstversorgungen von Neupatientinnen und Neupatienten mit dem Verweis auf ein noch nicht nachgewiesenes Defizit kürzt, dürfte daher von deren Seite wenig Verständnis aufgebracht werden für die gleichzeitige Einrichtung einer möglichst großen Zahl von Kiosken per Füllhorn. Rechnet man konservativ mit ca. 300.000 Euro pro Kiosk und Jahr, dürfte die Idee von Minister Lauterbach mit mindestens 300 Millionen Euro zu Kassenbuche schlagen.

 

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Matthias Mohrmann: Von Gesundheitskiosken überzeugt, Observer Gesundheit, 15. September 2022

Dr. Matthias Gruhl: 1, 2, 3, …, ganz viele Gesundheitskioske, Observer Gesundheit, 2. September 2022,

Dr. Matthias Gruhl: Gesundheitskioske – eine Einordung zur geplanten Einführung, Observer Gesundheit, 4. Juni 2022


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