GDNG: Plädoyer für mehr Vertrauen in Krankenkassen

Diskussion zum Beitrag von Sebastian Hofmann: „Was geht digital? Eine Zukunftsmusik“

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt

Daniel Dröschel

Krankenkassen erhalten mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) die Möglichkeit, ihre Versicherten auf Gefährdungspotenziale hinzuweisen, sofern sie sich aus Abrechnungsdaten ergeben. Sebastian Hofmann sieht dies in seinem Beitrag im Observer Gesundheit – in Anlehnung an einen ähnlichen Artikel von Jürgen Windeler – kritisch und beschreibt es als eine „Methode mit hohem Risikopotenzial“.

Es brauche „wenig Phantasie, um sich vorzustellen, was ein Schreiben der Krankenkasse über mögliche Gefahren für die eigene Gesundheit in heimischen Wohnzimmern auslösen kann“. Hofmann fordert das Primat der Evidenz und Qualitätssicherung und eine „freiwillige Selbstkontrolle der Kassen“, allerdings so, dass „die Kriterien für Analysen und Empfehlungen von Medizinischen Fachgesellschaften abgesegnet“ sein müssten. Also doch keine Selbstkontrolle, sondern vorgeschaltet eine Fremdkontrolle.

Auch wenn Kritik an dem Verhalten von Krankenkassen bezüglich der Verwendung von zu formellen und damit unverständlichen Textbausteinen, zu eifrigen Marketings oder des Missbrauchs von Marktmacht durchaus berechtigt sein kann, wird hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Bedenken wir, welches Risiko eine Krankenkasse – nach der vorher vom Gesetzgeber geforderten Information des Verwaltungsrats und der Mitglieder – mit einem unangemessenen, fehlerhaften oder voreiligen Schreiben einginge. Sie würde sich bundesweit zum Narren machen oder Patienten, Ärzte und Verbraucherschützer gegen sich aufbringen. Gleichzeitig würde sie sich selbst massiv schädigen in ihrem Wettbewerb mit anderen Krankenkassen um neue Versicherte, die ja problemlos wechseln können. Denn anders als bei einem Arztbesuch ist ein Patient sehr viel weniger abhängig von einer Krankenkasse, er kann ohne Probleme wechseln.

In unseren populationsorientierten Netzwerken zur Integrierten Versorgung, denen Patienten sich freiwillig anschließen, ist die zielgerichtete Kommunikation mit Patienten und Ärzten schon immer ein wichtiges Thema, und wir konnten in den letzten knapp 20 Jahren lernen, worauf es dabei ankommt.

 

Hohes Potenzial bei der Arzneimitteltherapie durch Klassifikation

Nehmen wir ein Beispiel: Laut § 25 b Abs 1 Punkt 3 SGB V können Krankenkassen Versicherte bei der Erkennung schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen unterstützen, die möglicherweise durch die Arzneimitteltherapie entstehen. Sie verfügen zeitnah über die Information, welche Wirkstoffe von einem Versicherten in einem gewissen Zeitraum und ggf. in unterschiedlichen Apotheken eingelöst (und möglicherweise von verschiedenen Ärzten parallel verordnet) wurden. Mit einer Positiv-/Negativ-Klassifikation, wie der von Geriatern und Pharmakologen entwickelten FORTA-Lösung, können gerade ältere Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen sowie ihre Ärzte unterstützt werden, entweder durch Information oder ergänzend durch eine Hilfestellung. Apotheker und Patienten wiederum könnten die OTC-Wirkstoffe ergänzen. Die ja oft extrem komplexe Entscheidungssituation kann damit fachlich – mit Hilfe einer speziellen Weiterentwicklung der FORTA-Lösung zu „MyFORTA“, einem Tool, das weitere Parameter einbezieht – erleichtert werden.

Gerade die Medikationszusammenstellung bei Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen ist doch für uns alle von größter Bedeutung, sowohl individuell als auch gesellschaftlich – denkt man zum Beispiel an Schenkelhalsfrakturen nach Benzodiazepin (75,2 Mio. Euro Jahres-Gesamtkosten) und gastrointestinale Blutungen nach NSAID (230,9 Mio. Euro Jahres-Gesamtkosten, beides Schulte et al, 2020) oder insgesamt an arzneimittelinduzierte Krankenhauseinweisungen. Letztere betreffen 200.000 bis 1 Mio. Patient:innen pro Jahr und produzieren Kosten zwischen 940 Mio. Euro und 4,7 Milliarden Euro für das deutsche Gesundheitssystem (Dechanont et al 2014, von Klüchtzner, Grandt 2015, Prados-Torres et al. 2018).

 

Krankenkassen brauchen keine neuen Fesseln

Bei unseren Gesprächen mit Krankenkassen erfahren wir, dass diese äußerst vorsichtig und sensibel an die Nutzung des GDNG herangehen und größten Wert auf eine hohe fachliche Expertise sowie eine vorsichtige und sinnvolle Kommunikation legen. Es stellt sich doch die Frage, wer sonst Patienten so umfassend unterstützen kann und auch das entsprechende Interesse und Investment für eine derartige Beratung und Unterstützung aufbringt. Dass Krankenkassen nicht leichtfertig mit dem Instrument GDNG umgehen, können wir aus unseren Gesprächen nur bestätigen. Und nebenbei bemerkt: Die allzu große Resilienz des Gesundheitssystems und die lähmend langsamen Vorwärtsschritte der Akteure beklagen wir alle, die wir um die Brisanz der auf uns zukommenden Probleme wissen, doch immer gemeinsam. Jetzt wollen Krankenkassen endlich einmal mutig nach vorne gehen, und gleich wieder werden alle möglichen Beschränkungen gefordert, in diesem Fall, dass zunächst die Fachgesellschaften die Kriterien für Analysen und Empfehlungen absegnen sollen. Wir können doch schon voraussehen, wie lange es dann dauern wird, bis ein erstes Schreiben einen Patienten erreicht. Ein wenig mehr Mut, dass die Verantwortlichen schon vorsichtig genug handeln werden, auch um eigenen Schaden abzuwehren, würde uns guttun.

 

Literatur:

  • Dechanont S, Maphanta S, Butthum B, Kongkaew C. Hospital admissions/visits associated with drug-drug interactions: a systematic review and meta-analysis. Pharmacoepidemiol Drug Saf. 2014 May;23(5):489-97. doi: 10.1002/pds.3592. Epub 2014 Mar 10. PMID: 24616171
  • Hofmann, Sebastian: Was geht digital? Eine Zukunftsmusik, Observer Gesundheit
  • von Klüchtzner W, Grandt D. Influence of hospitalization on prescribing safety across the continuum of care: an exploratory study. BMC Health Serv Res. 2015 May 13;15:197. doi: 10.1186/s12913-015-0844-x. PMID: 25962594; PMCID: PMC4494641
  • OptiMedis: Mit FORTA zur richtigen Medikation – OptiMedis
  • Prados-Torres, A; Poblador-Plou B; Gimeno-Miguel, A; Calderón-Larrañaga, A; Poncel-Falcó A; Gimeno-Feliú, L A; González-Rubio, F u. a. „Cohort Profile: The Epidemiology of Chronic Diseases and Multimorbidity. The EpiChron Cohort Study“. International Journal of Epidemiology 47, Nr. 2 (1. April 2018): 382–84. https://doi.org/10.1093/ije/dyx259.
  • Schulte T, Rabenberg A, Gröne O, Hildebrandt H, Wehling M. Mit patientenindividueller Analyse die optimale Medikation finden. In: Welt der Krankenversicherung 2020, 9(12): 308-312
  • Wehling, Martin, Prof. Dr. med. umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt/
  • Windeler, Jürgen Prof. Dr. med. Die Gesundheits-Nina, Observer Gesundheit

 

 

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt

Apotheker und Gesundheitssystementwickler, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG

Daniel Dröschel

Gesundheitsökonom, Leiter Digitale Transformation und FORTA-Entwicklung, OptiMedis AG

 

 

Lesen Sie zu dem Thema auch:

Sebastian Hofmann, Was geht digital? Eine Zukunftsmusik, Observer Gesundheit, 15. Februar 2024,

Prof. Ulrich Kelber, „Gesundheitsrevolution mit Grundrechtsgarantie“, Observer Gesundheit, 2. Februar 2024,

Prof. Dr. Jürgen Windeler, „Die Gesundheits-Nina, Observer Gesundheit, 20. September 2023.

 


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