Chance zu einer nüchternen Aufarbeitung?

Sozialwahl mit enttäuschender Wahlbeteiligung

Dr. Robert Paquet

Die Wahlbeteiligung bei den Sozialwahlen, die mit Stichtag 31. Mai abgeschlossen wurden, ist insgesamt von knapp über 30 (im Jahr 2017) auf rund 22 Prozent gesunken. Die Wahlergebnisse wurden am 23. Juni in einer Pressekonferenz durch den Bundeswahlbeauftragten, Peter Weiß, offiziell bekannt gegeben. Dabei stellte Weiß die richtigen Fragen, die auch immer wieder von den Wahlberechtigten an ihn herangetragen worden seien. Was macht diese Selbstverwaltung eigentlich? Was sind das für Personen auf den Listen? Wie unterscheiden sich die Listen?

Ehrliche Antworten auf diese Fragen könnten für die Selbstverwalter und auch den Wahlbeauftragten durchaus schmerzhaft sein. Man müsste sich von Illusionen trennen. Ob die vorgesehene Nachwahlbefragung hierzu wirklich Evidenz schafft, muss angesichts der Auftraggeber offenbleiben. Positiv ausgegangen ist jedenfalls der Modellversuch der Online-Wahl in fünf Krankenkassen. Aber auch hier sind leise Zweifel angebracht.

 

Möglichkeit der Online-Wahl

Fangen wir mit dem Positiven an: Der Modellversuch zur Online-Wahl ist gelungen. Die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen (Datenschutz, Schutz vor Hackern, Manipulationssicherheit etc.) haben sich bewährt. Die beteiligten Kassen waren wirklich mutig und haben viel Arbeit und Herzblut in dieses Projekt gesteckt. Allerdings lag der Anteil der Online-Stimmen unter zwei Prozent. 330.000 Wählerinnen und Wähler haben diese Chance genutzt. Ob man damit „sehr zufrieden“ sein soll, wie Weiß auf der Pressekonferenz erklärte, kann man durchaus bezweifeln.

Wenn man genauer hinschaut, waren es bei der TK rund 10 Prozent, bei der BARMER schon nur noch 5,9 % und bei der DAK mit Ach und Krach 2,4 %. Die Klientele der Kassen unterscheiden sich offensichtlich mehr, als mancher dachte. Jedenfalls sind die TK-Versicherten technisch avancierter, was sich einerseits in dem relativen Erfolg digitaler Anwendungen bei dieser Kasse zeigt (Interesse an der elektronischen Patientenakte, am E-Rezept etc.), andererseits beim politischen Engagement der TK, vor allem ihres Vorstandsvorsitzenden Jens Baas für digitale Lösungen im Gesundheitswesen.

Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der größten Krankenkasse lassen sich nicht auf die GKV insgesamt übertragen. Nicht zuletzt haben Online-Wähler über das umständliche Verfahren geklagt (u.a. Eingabe von mehreren Zahlenfolgen und „Wahlkennzeichen“ etc.). Die traditionelle Briefwahl war viel bequemer: Kreuzchen machen, Briefumschlag und ab in den Kasten. Hier war die Stunde derer, die es einfach mal ausprobieren wollten. Wenn das Online-Wahlverfahren nicht einfacher wird, wird es auch beim nächsten Wahlgang nicht viel mehr Freunde finden. Für die Übertragung auf politische Wahlen dürften 330.000 Digital-Fans auch kaum überzeugend sein.

 

Niedrige Wahlbeteiligung

Die niedrige Wahlbeteiligung stellt für sich genommen kein massives Legitimationsproblem für die Selbstverwaltung dar. In unserem (politischen) System ist es legitim, sich an Wahlen nicht zu beteiligen. Wer nicht wählt, erklärt sich konkludent mit dem Ergebnis einverstanden, das die tatsächlichen Wähler hervorgebracht haben. Niedrige Wahlbeteiligungen kommen z.B. auch bei kommunalen Bürgermeisterwahlen oder Betriebsratswahlen vor. Erschreckend ist jedoch das Sinken der Beteiligung und die Tatsache, dass es im allgemeinen Trend liegt. Diese Besorgnis teilen auch die Präsidentinnen und Präsidenten der Landesparlamente, die sich vor kurzem zu diesem Thema getroffen haben.

Denn auch bei den Landtagswahlen geht die Wahlbeteiligung tendenziell zurück. „Verlieren die Parlamente ihre Unterstützung bei den Bürgerinnen und Bürgern, verliert die Demokratie,“ heißt es in ihrer Abschlusserklärung[1]. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte zu der Erkenntnis, dass das Thema Politik im Freundes- und Familienkreis gemieden werde, um Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg zu gehen (ebenda). Es wäre ja schön, wenn man sich über die Listen bei der Sozialwahl streiten könnte. Die kennt jedoch keiner. Aber dazu gleich.

Besonders enttäuscht zeigte sich der Bundeswahlbeauftragte darüber, dass die verstärkte und „gute Öffentlichkeitsarbeit“ nicht gefruchtet habe. Es habe diesmal eine größere Medienresonanz gegeben (auch im Fernsehen), man habe auch auf Social Media gesetzt und Influencer genutzt, um die jüngeren Wahlberechtigten zu erreichen. Berechtigt ist sicher auch seine Frage: „Wissen eigentlich die jungen Leute etwas über Sozialversicherung mit Mitbestimmungsrecht der Selbstverwaltung?“ Bevor man allerdings ein neues Schulfach „Sozialversicherung“ einführt, dürfte es noch ein paar höhere Prioritäten geben. Auch die Kampagne zur Sozialwahl war nicht schlecht, aber auch nicht wirklich besser als die bei den vergangenen Sozialwahlen[2].

Man muss sich klarmachen, dass sie auf eine stark veränderte Medienlandschaft traf, mit einem massiven Umbruch im Nutzungsverhalten. Das Entscheidende dürfte jedoch die Tatsache sein, dass die Sozialversicherungen als eigenständige Institutionen im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent sind. Sie werden als selbstverständliche Gegebenheiten wahrgenommen; wenn sich überhaupt jemand die Frage nach ihrer Steuerung stellt, dann kommt man auf den Staat. Und das ist ja auch gar nicht falsch[3].

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass z. B. der Obmann für Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Marc Biadacz, feststellen muss: „Es gelingt uns nicht, die Wichtigkeit der Sozialwahlen zu kommunizieren, weil die Kandidaten und Programme unbekannt sind und dadurch die Meinungsbildung schwer möglich ist. Hier muss es ein Umdenken geben, um in Zukunft besser herauszustellen, welchen Unterschied die Wählerstimme macht.“[4] Hier liegt der Hase im Pfeffer. Erstaunlich nur, dass gerade die Politiker zur Legitimation der Selbstverwaltung Krokodilstränen vergießen, die gleichzeitig die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Gremien bzw. Einrichtungen immer mehr einengen (von der Verstaatlichung der gematik, über die haarkleinen Vorschriften zu den Verträgen mit Leistungserbringern bis hin zur Vertragsgestaltung mit den Kassenvorständen).

 

Die drei Fragen des Bundeswahlbeauftragten

Kommen wir zurück auf die drei Fragen von Peter Weiß: Was wäre die sachlich zutreffende Antwort auf die Frage „Was machen die denn eigentlich?“ Da geht es um die Aufstellung (und Kontrolle) des Haushalts (mit engen Spielräumen nur bei den marginalen Satzungsleistungen und den Verwaltungskosten (etwa mit Folgen für die Geschäftsstellenverteilung). Am wichtigsten ist die Auswahl und Kontrolle der Vorstände der Krankenkassen. Der Verwaltungsrat ist auch zuständig für „Fragen von grundsätzlicher Bedeutung“, was eine Leerformel ist. Eine Kasse kann sich auch zur Gesundheitspolitik äußern, und manche Kassen und ihre Verbände tun das auch (sehr) oft. Das ist politische Öffentlichkeitsarbeit. Der Verwaltungsrat kann mittelbar die Vertragsarbeit der Kasse mit den Leistungsanbietern beeinflussen. Mittelbar heißt dabei: Diese Aufgabe gehört zur Kernkompetenz der Vorstände, der Verwaltungsrat kann ihnen dafür aber Richtlinien geben. – Das ist nicht wenig, die Bedeutung solcher Kompetenzen erschließt sich aber eigentlich nur den Fachleuten. Die normalen Bürgerinnen und Bürger lässt das kalt.

Wer steht auf den Listen? In der offiziellen Broschüre zur Sozialwahl werden die Personen vorgestellt[5]. Allerdings nur mit Namen und im Allgemeinen mit der Funktion in der Selbstverwaltung, die sie gerade bekleiden. Mehr ist ohne große Mühe nicht über sie herauszufinden. Was machen sie beruflich? Welche Erfahrungen bringen sie ein? Haben sie Familie? Und so weiter. Das würde den Wähler vielleicht interessieren. Aber was kann er damit anfangen, dass zum Beispiel „Rüdiger Herrmann, 63, Sonnenbühl, alt. Vorsitzender [der] Vertreterversammlung“ der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) ist (Seite 4). Wer sich bei der Sozialversicherung nicht schon auskennt, weiß weder was eine Vertreterversammlung ist, noch kann er sich etwas unter “alt.“ vorstellen (= „alternierend“, d. h. jährlich wechselnder Vorsitz zwischen Versicherten- und Arbeitgebervertretern).

Was unterscheidet die Listen? Oder besser noch: Was charakterisiert sie? – In der erwähnten Broschüre stellen sich die Listen selbst nach dem folgenden Schema vor:

  • Wer wir sind.
  • Wofür wir stehen.
  • Was uns auszeichnet.

Die „Antworten“ auf diese Fragen sind austauschbar. Geboten werden Wortschatzübungen mit Sicherung der Renten, Rentenniveau, Rehabilitation etc. Nur die Gewerkschaften unterscheiden sich hier wohltuend. Unter einem regionalen IG-Metall Geschäftsführer oder einem Betriebsratsvorsitzenden von Thyssen-Krupp kann sich fast jeder etwas vorstellen (Seite 8). Bei den Krankenkassen ist es nicht viel anders, nur die Begriffe sind hier andere (Beitragssatzstabilität, Gesundheitsförderung etc.).

Dominant ist bei der DRV-Bund die „BfA DRV-Gemeinschaft“ mit rund 26 % der Stimmen. Dann kommen zusammen 36 % von sog. Krankenkassen-Mitgliedergemeinschaften (TK, BARMER, DAK etc.). Charakteristisch für diese Organisationen ist, dass sie nur als Wahlvereine für die Sozialwahlen existieren. Sie haben keine Aktivitäten jenseits der Gremienarbeit in den Sozialversicherungen. Die DGB-Gewerkschaften IG-Metall und ver.di bringen es zusammen dagegen nur auf 24 % der Stimmen. Bei den großen Krankenkassen sieht es ähnlich aus: Bei der TK dominiert die „TK-Gemeinschaft“ mit über 61 %. Ihr folgt mit knapp 17 % die „BfA DRV-Gemeinschaft“. Ver.di und IG-Metall haben zusammen knapp 20 %. Bei der BARMER teilen sich zwei Organisationen die Dominanz: Die „BARMER Versichertengemeinschaft“ kam auf knapp 46 % der Stimmen. Die „BARMER Interessenvertretung“ erreichte über 27 %. In der DAK erreichte die „DAK-Mitgliedergemeinschaft“ über 53 % und die „DAK VRV“ kam auf 18 %. In den meisten der fünf Ersatzkassen mit Urwahl hat auch die „BfA DRV-Gemeinschaft“ Sitze im Verwaltungsrat.

Mit anderen Worten: Die Krankenkassenvertreter kontrollieren die Selbstverwaltung der Rentenversicherung Bund (früher die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA)). Zu einem guten Teil besetzt auch die „BfA DRV-Gemeinschaft“ die Gremien der DRV-Bund. Die von den Kassenverwaltungen hofierten Mitgliedergemeinschaften kontrollieren ihre jeweiligen Kassen (unter punktueller Hinzunahme der „BfA DRV-Gemeinschaft“). – Die Krankenkassen besetzen somit das Aufsichtsgremium der DRV Bund. Die Selbstverwalter der Rentenversicherung Bund sind in den Verwaltungsräten der großen Krankenkassen mit beteiligt. Ist das ein sinnvolles Aufsichtsrats-Modell? Der Begriff der „Selbstverwaltung“ bekommt damit eine gewisse Doppeldeutigkeit.

 

Fazit

In der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, die vor 30 Jahren noch zum ständischen Kreis der Angestellten-Organisationen gehörten, ist die Zeit stehen geblieben. Hier dominieren noch die Club-Strukturen, die aus der damaligen Alleinherrschaft der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) über diese Organisationen (Angestellten-Ersatzkassen und BfA) überlebt haben. Was ist das Fazit? Die Empfehlung, nur noch sog. „Friedenswahlen“ („Wahlen ohne Wahlhandlung“) durchzuführen, wozu Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG-Metall, tendiert, wäre vielleicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Urban hat zwar recht, wenn er sagt: „Ein inhaltlicher Wahlkampf ist durch die gesetzlichen Vorgaben kaum möglich, und viele Listennamen werben irreführend.“[6] Eine kleine Chance steckt dennoch in der Urwahl. Vielleicht könnte man sie doch noch für eine Verlebendigung der Krankenversicherung nutzen? Das System könnte ein paar demokratische Impulse gut gebrauchen.

Genauso wenig zielführend wäre die komplette Abschaffung der Sozialwahl. Das würde vor allem die Krankenversicherung der tagespolitischen Form des jeweiligen Gesundheitsministers ausliefern. Ein Learning jedenfalls sollten die Ersatzkassen beherzigen: Die Verklärung ihrer Urwahlen als Fest der Demokratie ist ebenso wenig gerechtfertigt, wie ihre Schmähung der „Friedenswahl“[7]. Die Debatte um die Zukunft der Sozialwahl ist neu eröffnet.

 

[1] Reiner Burger: „Landtag? Nie gesehen“, in FAZ vom 21. Juni 2023, Seite 8

[2] Die Kampagne enthält – arg bemüht, die Bedeutung der Selbstverwaltungsgremien deutlich zu machen – auch fragwürdige Aussagen. Wenn z.B. erklärt wird, die Gremien „treffen wichtige Entscheidungen im Bereich der Renten- und Krankenversicherung, beispielsweise über den Haushalt und damit über die Verwendung der Beiträge“, wird etwas Falsches suggeriert. Über 95 % des Haushalts und damit über alles, was die Bürger wirklich interessiert, nämlich die Renten und die GKV-Leistungen, entscheidet der Gesetzgeber, der G-BA etc.

[3] Bei den Wahlergebnissen gibt einen interessanten Ausreißer, der das illustriert: Die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) hatte eine Wahlbeteiligung von fast 62 Prozent. Warum? Hier dominieren selbständige Betriebsinhaber; wir haben einen Einheitsversicherungsträger (Renten-, Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung in einem); die Versicherung bietet mit den Betriebshelfern eine ggf. existenziell wichtige Leistung (die es sonst in der Sozialversicherung nicht gibt), und die Versicherten haben als Mittelständler (einer eher überschaubaren Gruppe) einen guten Zusammenhalt.

[4] Pressemitteilung der CDU/CSU Bundestagsfraktion aus dem Bereich Familie, Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 23.06.2023.

[5] file:///C:/Users/paquet/Downloads/vorstellung_listen_sozialwahl_2023_download.pdf

[6] https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/bilanz-zur-sozialwahl-2023

[7] https://observer-gesundheit.de/selbstverwalten/

 

Lesen Sie auch zum Thema:

 Peter Weiß: „Sozialwahlen 2023: Bohren von dicken Brettern bei ARD und ZDF erfolgreich“, 5. April 2023,

 Dr. Robert Paquet: „SELBSTverwalten!“, 13. Januar 2023,

Dr. Robert Paquet: „Selbstverwaltung: Der (vor)letzte Versuch“, 6. August 2020.


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