„SELBSTverwalten!“

Ein Buch zur Sozialwahl zwischen Hoffen und Bangen

Dr. Robert Paquet

In diesem Jahr findet zum 12. Mal die Sozialwahl statt (Stichtag 31.5.2023). Sie trägt insoweit eine Besonderheit mit allgemeinpolitischer Bedeutung, als sie erstmals in Deutschland Online-Wahlen ermöglicht. In einem Modellprojekt, das nur Krankenkassen offenstand, haben Kassen, bei denen eine Urwahl stattfindet, dieses Verfahren vorbereitet. Beteiligt sind neben den sechs Ersatzkassen sechs Betriebskrankenkassen, eine Innungskrankenkasse (BIG direkt gesund) sowie zwei Ortskrankenkassen (AOK Hessen und AOK plus). Online-Wahlen sind dabei zunächst nur für die Versichertenseite vorgesehen (Seite 218). Zu diesem Anlass ist nun ein Buch[1] erschienen, in dem vor allem die Ersatzkassen – als traditionelle Verfechter von Urwahlen und als Vorreiter des E-Voting – die Bedeutung der Selbstverwaltung (SV) und der Sozialwahlen herausstellen wollen.

Dabei konzentriert sich das Buch auf die Krankenversicherung und das Gesundheitswesen. Es liefert zum Teil interessante Informationen, insbesondere zu den Sozialwahlen selbst. Andererseits kontrastiert die weitgehend idealisierte Darstellung der Rolle und Leistung der sozialen Selbstverwaltung mit den Äußerungen des zuständigen Ministers Lauterbach. Er beschimpft die Akteure der SV seit einiger Zeit nur noch als Lobbyisten, vor denen er die Bürger schützen will.

Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil dagegen hat ein Geleitwort beigesteuert, in dem er die neuen Elemente der Sozialwahl hervorhebt (Frauenquote, Erleichterung von Urwahlen, Digitalisierung etc.) und erklärt: „Die Selbstverwaltung … garantiert die Unabhängigkeit der Sozialversicherungsträger gegenüber der staatlichen Verwaltung.“ (9) Aus der Perspektive der Krankenversicherung irritiert das etwas, denn der Mit-Herausgeber des Buches, Uwe Klemens, mahnt in seiner Einleitung zu Recht, dass diese Stellung der SV in der Krankenversicherung überhaupt erst wiederhergestellt werden müsse: „Die Soziale Selbstverwaltung muss sich immer wieder in Auseinandersetzung mit dem Staat dafür einsetzen, dass ihre Rechte erhalten bleiben. … Die Entscheidungskompetenzen der gewählten Vertreter:innen der Versicherten und Arbeitgeber müssen respektiert und wieder ausgeweitet werden.“ (13f.) Gut sei dagegen, „dass die Politik die Rahmenbedingungen für die Sozialwahlen gesetzlich weiterentwickelt“ habe (ebenda). Aber der Reihe nach, entsprechend den vier Teilen des Buches.

 

Teil I: Wer oder was ist die soziale Selbstverwaltung?

Eingeleitet wird mit einem historischen Rückblick von Bernard Braun. Die SV stehe als mittelbare Staatsverwaltung in einem „atmenden System“ von ständigen „Erweiterungen und Verengungen des Verhältnisses von rahmensetzendem Staat und der den jeweiligen Rahmen eigenverantwortlich ausfüllenden Selbstverwaltung.“ (28) Historische Beispiele für Initiativen der SV sollen das plausibel machen (primärpräventive Orientierung der AOK-Wohnungsenqueten 1903ff.; kasseneigene Ambulatorien und Kliniken 1923ff.; kasseneigene Heilmittelabgabestellen etc.).

Hartmut Reiners lobt das solidarische Finanzierungssystem der GKV, betont seine Überlegenheit gegenüber dem PKV-System und zeigt, dass die „Sozialbremse“ von 40 % der Sozialabgaben „unsinnig“ sei (45). Außerdem warnt er vor dem „süßen Gift“ einer Ausweitung der Steuerfinanzierung in der GKV (47).

Anne Thomas und Katrin Schöb beklagen die gesetzlichen Einschränkungen der Kompetenz der SV in der vergangenen Wahlperiode und fordern, die Politik müsse die SV „wieder als Partner begreifen, nicht als Konkurrenz, die es zurückzudrängen“ gelte (56).

Thomas Wüstrich diskutiert die Steuerungspotenziale der SV und beklagt die mangelnde Konkretisierung ihrer Ziele (63): „Die für die Wahrnehmung ökonomischer Steuerungsaufgaben erforderlichen operationalen Ziele und Handlungsanweisungen der Listenträger sind in der Praxis kaum zu finden. … Wenn überhaupt, gehen die Ziele über allgemein sozialpolitisch programmatische Handlungsleitlinien nicht hinaus.“ (65). Das ökonomische Steuerungspotenzial der SV liege „wie in einem ‚Dornröschenschlaf‘, als warte es nur darauf, endlich ‚wachgeküsst‘ zu werden“. (69)

Claudia Maria Hofmann bietet eine Überblicksdarstellung der SV von den Kassen über die Verbände bis hin zum Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Dabei schließt sie sich der Forderung nach einer besseren Legitimation dieses „Machtzentrums der deutschen Gesundheitspolitik“ an (89).

Aufschlussreich ist vor allem die Außensicht des Journalisten Tim Szent-Ivanyi auf die Selbstverwaltung. Sie spiele in den „meinungsbildenden Medien kaum eine Rolle“ (92). Es gebe zwar bei den Medienleuten gegenüber dem Prinzip der SV „durchaus Sympathie“ (93), die tatsächliche Umsetzung löse jedoch „Unverständnis“ aus. Ursachen für das Desinteresse an der SV seien ihre mangelnde Öffentlichkeitsarbeit und z.B. die Tatsache, dass man als Journalist kaum geeignete Gesprächspartner in der SV finde (97). Wenn sich hier nichts ändere, würden „Vorstöße zu ihrer Entmachtung“ (wie von Ex-Minister Spahn) „irgendwann auch erfolgreich sein“ (98).

Abschließend bietet Tanja Klenk einen Blick auf die soziale Selbstverwaltung in Österreich, die in den letzten Jahren vom Staat massiv zentralisiert und an die Kette gelegt worden sei. Jedoch: „In der breiten Bevölkerung wurde der Umbau der Sozialen Selbstverwaltung … nur mit begrenzter Aufmerksamkeit verfolgt.“ (116). Ihr Fazit: „Wenn es der Sozialen Selbstverwaltung in Deutschland nicht gelingt, eine direkte, lebendige Verbindung zwischen den einzelnen Versicherten und dem sozialen Sicherungssystem als Ganzem herzustellen, gibt es immer weniger Gründe, an einem flächendeckenden, durch direkte Wahl zu legitimierenden Selbstverwaltungsmodell festzuhalten“ (117).

 

Teil II: Was die soziale Selbstverwaltung leistet

Den Einstieg bietet Harry Fuchs als vielfach erfahrener Praktiker und Theoretiker der Selbstverwaltung. Er beschreibt die Kompetenzen der SV, insbesondere für die GKV. Nach seinem Verständnis sollte SV eigentlich die „Sozialleistungen gestalten“. Diese „öffentliche und politische Erwartung“ sei indessen „deutlich größer als die Handlungsmöglichkeiten“, die der Gesetzgeber der SV im Gesundheitswesen tatsächlich einräume. Im Innenverhältnis liege die „konkrete Gestaltungsmacht überwiegend beim hauptamtlichen Vorstand. … Die eigentliche Gestaltung der gesundheitlichen Versorgung findet in den Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung … auf Bundesebene statt, in denen die Selbstverwaltung der Krankenkassen nur als Minderheit vertreten ist.“ (121) Im G-BA agierten vor allem die Hauptamtlichen und ihre MitarbeiterInnen (125). Auch die Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Satzung und des Haushaltsrechts seien marginal. Immerhin macht Fuchs auf einen wenig beachteten Aspekt aufmerksam: Der Verwaltungsrat habe die „Kompetenz-Kompetenz“, d.h. das Recht, den Kassenvorstand an Beschlüsse der SV zu binden. Die entsprechenden Möglichkeiten seien jedoch recht begrenzt, so lange der Gesetzgeber nicht klarstelle, wie weit die diesbezüglichen Rechte der SV reichen.

Zwei weitere Aufsätze befassen sich recht konkret mit der Arbeit der Widerspruchsausschüsse (u.a. Höland und Welti), und ein Artikel stellt den Beitrag der (gemeinsamen) SV zur Bewältigung der Corona Pandemie dar (in den einzelnen Kassen z.B. die beschleunigte Einführung digitaler Lösungen der Kundenkommunikation und auf der Systemebene Sonderregelungen etwa zur vereinfachten Feststellung von Arbeitsunfähigkeit etc.) (157f.).

Thomas Gerlinger beschäftigt sich mit den Legitimationsmängeln der SV und unterscheidet – ebenso wie Thomas Wüstrich – Input- und Output-Legitimation. Die Legitimität der SV sei wegen der geringen Wahlbeteiligung und der Friedenswahlen umstritten: „Trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse ist der politische Rückhalt der Sozialen Selbstverwaltung bei politischen Entscheidungsträgern insgesamt eher als gering einzustufen.“ (161) „Friedenswahlen, so eine verbreitete Kritik, seien mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar.“ (166) Ebenfalls kritisiert werde, dass die Interessen von Versicherten und Patienten nicht immer kongruent seien; die Interessen der Patienten würden in der SV nicht ausreichend repräsentiert (167). Auch die Output-Legitimation der SV leide unter „den vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmenbedingungen“, aber auch unter selbstverschuldeten Defiziten (168). Wenn die SV „in ihrer Substanz bisher unangetastet geblieben“ sei, habe das wohl mehr mit der Furcht des Gesetzgebers vor dem „gemeinsamen Protest von Arbeitgebern und Gewerkschaften“ zu tun, als mit echtem Respekt vor der SV. Sie würde „zwar nicht als sonderlich hilfreich, aber wohl auch nicht als sonderlich störend angesehen.“ (172) Ein eher resignierendes Ergebnis: Fortbestand aufgrund von Irrelevanz.

 

Teil III: Sozialwahlen als Fundament der sozialen Selbstverwaltung

Im dritten Teil des Buches geht es konkret um die kommende Sozialwahl: Die frühere Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Rita Pawelski, unterstreicht die Bedeutung der Sozialwahlen und will den „Diamant der ‚Selbstverwaltung‘ … wieder zum Strahlen“ bringen (179). Außerdem freut sie sich über ihren „größten Erfolg“, die Einführung von Online-Wahlen (182).

Ulrike Hauffe lobt die Einführung einer Geschlechterquote bei den Vorschlagslisten. Damit sei aber noch lange nicht genug für die Gleichstellung von Frauen und Männern getan.

Anspruchsvoller ist der Beitrag von Prof. Winfried Kluth. Ausgehend von der verfassungsrechtlichen Kontroverse um die Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses und der letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu (BVerfGE 140, 229ff.) begründet er die „Legitimationszweifel“ an der sozialen Selbstverwaltung. Das betrifft insbesondere den Gesichtspunkt der „ununterbrochenen Legitimationskette“ (Böckenförde) (193). Sein Ergebnis: Friedenswahlen „entsprechen … nicht (mehr) den Anforderungen, die an eine wirksame Selbstverwaltung zu stellen sind und die aus dem Leitbild folgen, das das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung entwickelt hat“ (198).

Außerdem greift Kluth die „Forderung nach einer stärkeren Beachtung der Belange der Patienten“ auf. Versicherteninteressen seien nicht mit Patienteninteressen identisch (195). Letztere ließen sich jedoch „rechtlich schwer umsetzen, weil ‚Patienten‘ keine rechtlich leicht fassbare Gruppe darstellen und ihre Interessen auch in Konkurrenzbeziehungen untereinanderstehen.“ (190). Das (stimmrechtslose) Mitberatungsrecht der Patientenvertretung im G-BA sei dazu ein vertretbarerer Kompromiss (196). Außerdem diskutiert er den „Funktionärstypus“ in der SV (199) und die These, dass der „funktionalen Selbstverwaltung … im Allgemeinen eine konservative und besitzstandswahrende Struktur zugeschrieben“ wird (200). Das zeige sich u.a. am Beispiel der schleppenden Digitalisierung im Gesundheitswesen. „In einer solchen Konstellation ist es die Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, bestehende Blockaden durch klare Zielvorgaben zu überwinden“ und für Innovationen zu sorgen (201).

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier beschäftigt sich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Online-Wahlen im Rahmen der Sozialwahlen. Den „Haupteinwand“ bilde der vom BVerfG in seiner Entscheidung zu „Wahlcomputern bei Parlamentswahlen“ im Jahr 2009 (207) entwickelte „Grundsatz der Öffentlichkeit“ der Wahl (neben den Grundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 GG) (204). Dieser Grundsatz sei auf die Sozialwahlen jedoch nicht anwendbar, weil sie schon immer „Fernwahlen“ (Briefwahlen) gewesen seien. Außerdem könnten die „einzelnen Wahlrechtsgrundsätze und damit auch der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl … niemals absolut gelten“ (212). Die Online-Wahl sei auch gerechtfertigt, weil der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl auf diesem Weg besser zur Geltung komme. Hier gehe es darum, möglichst allen Wahlberechtigten den Zugang zur Wahl zu ermöglichen. Mit der Online-Wahl würden insbesondere „junge Wähler:innen“ besser erreicht (212f.).

Schließlich informieren Christian Schneider und Nadin Fromm über Konzeption und Vorbereitung des Modellversuchs Online-Wahlen bei der Sozialwahl 2023. Sie sind vorsichtig optimistisch, dass mit diesem Projekt die Wahlbeteiligung gesteigert werden kann, warnen jedoch gleichzeitig vor „überzogenen Erwartungen“ (225). „Allein die Verlagerung des Wahlaktes in das Medium Internet wird die Wahlbeteiligung nicht dauerhaft steigern.“ Dafür seien viel weitergehende und komplexe Informations- und Beteiligungsprozesse erforderlich (226f.).

 

Teil IV: Ausblick

Im letzten (kurzen) Abschnitt des Buches finden sich nur zwei Beiträge (Schroeder und Weiß). Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder versucht Optimismus für eine Revitalisierung der Selbstverwaltung zu stiften: „Wir befinden uns in einem politischen Zyklus, in dem die staatlichen und parteipolitischen Akteur:innen Interesse an einer Weiterentwicklung der Sozialversicherung sowie der Sozialen Selbstverwaltung artikulieren. Es gibt daher ein Gelegenheitsfenster, um neue, normative und funktionale Begründungen für die Institution der Selbstverwaltung zu finden und entsprechende Modernisierungsmaßnahmen politisch durchzusetzen.“ (233). Seine Hoffnung speist sich einerseits aus der Modernisierung der Sozialwahlen (Frauenquote und Möglichkeit der Online-Wahl), wobei gerade der vorausgegangene Beitrag rät, die entsprechenden Erwartungen nicht zu hochzuschrauben. Andererseits bezieht er sich auf den Koalitionsvertrag der Ampel, nach dem mit einer Reform des G-BA die „Entscheidungen der Selbstverwaltung beschleunigt und die Patientenvertretung gestärkt werden sollen“ (234). Dabei ist die Interpretation insofern bemerkenswert, als etwa Thomas Wüstrich beklagt, dass die SV im aktuellen Koalitionsvertrag „so gut wie keine Erwähnung findet“ (63). Kundige Beobachter erkennen übrigens im Duktus der zitierten Formulierung, dass das schiere Gegenteil gemeint ist: der fortgesetzte und forcierte Staatseinfluss, mit dem die SV ans immer kürzere politische Gängelband gelegt werden soll. Gerade Minister Lauterbach kann an dieser Stelle keinesfalls missverstanden werden.

Als „Reformpunkte“, die zu einer Aufwertung der Selbstverwaltung führen könnten, hat Schroeder denn auch nur die Empfehlungen anzubieten, die von der Politik und auch der Selbstverwaltung selbst seit mindestens einem Jahrzehnt ignoriert werden: Verbesserung der Weiterbildung, Stärkung der Öffentlichkeitsarbeit und der Versichertennähe, „Widerspruchsausschüsse profilieren“ etc. (239f.) So lange die Listenträger (Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften) hier nicht mehr investieren und (vor allem) qualifizierte Köpfe in die SV schicken, wird sich daran nichts Wesentliches ändern (237).

Immerhin erkennt Schroeder eine Gefahr: Mit zunehmender Steuerfinanzierung der Sozialversicherungen könnte die Legitimation der herkömmlichen Zusammensetzung der Kassen-Verwaltungsräte abnehmen und der Anspruch des Staates auf eine direktere Beteiligung entstehen (243). Ob das dann aber noch die „Selbstverwaltung“ wäre (etwa Drittelparität nach dem Muster der Bundesagentur für Arbeit), für die sich die Autoren des Buches so engagiert einsetzen, bleibt dahingestellt.

Zu guter Letzt ermutigt der amtierende Bundeswahlbeauftragte Peter Weiß: Die „Selbstverwaltung und Sozialwahl (müssen) … ihr etwas angestaubtes Image abstreifen und ihren Bekanntheitsgrad deutlich erhöhen.“ (248) Die aktuelle Sozialwahl könne mit der Möglichkeit der Online-Wahl zum „Modernisierungstreiber“ werden (ebenda). – Es geht ihm aber auch um die seit dem Schlussbericht über die Sozialwahlen 2011 (von Gerald Weiß und Klaus Kirschner) erhobene Forderung nach einer Ausweitung (bzw. Wiederherstellung) der Kompetenzen der SV. Wenn er dazu vor allem die Forderung nach der „Rückkehr zur vollen Finanzautonomie“ in der GKV vorschlägt (249), ist das angesichts der diesbezüglichen Gesetzgebung der Minister Spahn und Lauterbach zum Lachen (wenn es nicht zum Weinen wäre). Auch die von ihm noch einmal vorgetragene These, die SV würde viele Probleme der Sozialversicherung „auffangen“ („Die Politik kann froh sein, dass sie in diesen Fragen nicht der erste Ansprechpartner ist.“), ist längst von gestern (250). Im Gegenteil: Inzwischen gieren unsere Gesundheitspolitiker förmlich danach, noch die kleinsten Details selbst zu regulieren.

 

Bewertung

Die Beiträge bemühen sich um eine positive Sicht der Selbstverwaltung und ihrer Leistungen und sehen als Anker ihrer Hoffnungen die jetzt eingeleitete „Modernisierung“ der Sozialwahl. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass der Testlauf für das E-Voting zu einem Strohfeuer des Interesses für diese Wahl führt. Dass es dagegen eine Trendwende bei der seit 15 Jahren beschleunigten Entmachtung der SV geben könnte, ist eine viele Beiträge durchziehende Illusion. Vor allem angesichts des Regierungshandelns in der 20. Wahlperiode erscheint diese Vorstellung jedoch als wirklichkeitsfremd.

Im Kern klammert man sich an die Vorstellung, mit der Urwahl (den Online-Wahlen und der Transparenz der Wahlbewerberlisten etc.) würde alles besser. Trotz allem Gerede von Gesetzesfolgenabschätzung wird jedoch in keinem Beitrag diskutiert, was z.B. eine verpflichtende Urwahl auslösen würde (Sozialwahl als Zusatz-Arena für die gesundheitspolitischen Positionen der Parteien? Politische Spaltung der Versicherteninteressen?[2]). Konsequenterweise kommt auch die Mehrheit der AOKen und der BKKen in dem Buch nicht vor (bei denen nach wie vor Friedenswahlen stattfinden). Auch die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die ja als Listenträger für die personelle Zusammensetzung der (meisten) Gremien verantwortlich sind, kommen nicht zu Wort.

Das Buch ist insoweit ein Werk der Ersatzkassen, die in ihrer Selbstverwaltung immer noch eine eigentümliche Sonderprägung (durch die Versichertengemeinschaften etc.) haben. Man könnte die Publikation insoweit implizit als Kampfschrift gegen die Friedenswahlen und damit auch gegen die Mehrheit der AOKen verstehen. Ob man damit dem Gedanken der Selbstverwaltung einen guten Dienst erweist, bleibt eine offene Frage. Schneider und Fromm jedenfalls haben als kluge Beobachter in ihrem Beitrag eine entsprechende Warnung ausgesprochen: „Die Aufgabe der Politik ist es, der möglichen Spaltung der Sozialen Selbstverwaltung entgegenzuwirken, die sich ausgehend von der Frage, ob eine Urwahl durchgeführt wird und … ob man sich am Projekt des E-Voting beteiligt, bereits jetzt in verschiedene Lager teilt.“ (226)

 

[1] Braun/Klenk/Klemens (Hrsg.): „SELBSTverwalten! – Wie Ehrenamtliche unser Gesundheitswesen mitgestalten“, 262 Seiten, 22,00 Euro, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022. Das Buch wird öffentlich in einer Veranstaltung des vdek am 18. Januar 2023 in Berlin vorgestellt.

[2] Vgl. Robert Paquet: „Mit Urwahl alles gut für die Selbstverwaltung?“, in Gesundheits- und Sozialpolitik 2/2018, S. 62 – 65.


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