Verunreinigungen, Engpässe, Fälschungen

Was uns Arzneimittelskandale wirklich verraten

Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg

Die Globalisierung zeigt in letzter Zeit auch wieder einmal ein hässliches Gesicht. Bekanntermaßen sind bis Sommer 2018 verunreinigte Blutdrucksenker und illegal importierte Krebsmedikamente in deutschen Apotheken abgegeben worden. Die Öffentlichkeit diskutiert seitdem über Fehlentwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt. Leider folgt die Diskussion viel zu oft wieder lobbygesteuerten Stereotypen.

Deutschland galt einmal als „Apotheke der Welt“, doch dieser Beiname passt schon lange nicht mehr. Pharmaunternehmen produzieren am liebsten dort, wo die Ausgaben ein möglichst großes Delta zu den (erhofften) Erlösen versprechen. Das ist im Pharmasektor zumindest nicht anders als in vielen anderen Wirtschaftszweigen. Die Produktionsstandorte für etliche Arzneimittelwirkstoffe verlagerten sich bereits in den 1990er Jahren verstärkt nach Fernost. Für die pharmazeutischen Unternehmen ein betriebswirtschaftlich rationales Vorgehen. Die Produktion ist auch dank staatlicher Subventionen in Ländern wie China oder Indien sehr günstig, die Hersteller konnten ihre Margen, 2017 mit 26,5 % von anderen Branchen neidisch beäugt, nochmals erhöhen – und profitieren nicht auch der Weltmarkt und die nationalen Gesundheitssysteme insgesamt von günstigeren Arzneimittelpreisen?

Für international aufgestellte Pharmakonzerne hat Deutschland als Produktionsstandort generischer Arzneimittel zudem einen systemimmanenten Nachteil: Hierzulande ist es verboten, Nachahmerprodukte herzustellen, solange das entsprechende Präparat des Originalherstellers noch unter nationalem/europäischem Patentschutz steht. Somit scheidet die Bundesrepublik als Produktionsstandort oftmals aus, wenn Patente in anderen Staaten früher ablaufen als hierzulande.

Negative Effekte des globalisierten Pharmahandels bekommen Patienten etwa dann zu spüren, wenn Fälschungen auf dem Importweg in den deutschen Markt gelangen, wenn durch Produktionsausfälle oder Rückrufe die Versorgung mit wichtigen Wirkstoffen knapp(er) wird oder wenn sich herausstellt, dass die Erzeugnisse eines Wirkstoffherstellers verunreinigt waren, wie zuletzt geschehen im Fall der Blutdrucksenker mit Wirkstoffen aus einer chinesischen Produktion.

 

Die Importquote nutzt nur den Importeuren

Der Skandal um fragwürdige Krebsmedikamente, die durch einen deutschen Pharmahändler aus Griechenland importiert wurden, deckt einen grundlegenden Missstand in der hiesigen Arzneimittelgesetzgebung auf. Als Sparinstrument hat die Politik einstmals Vorgaben zur bevorzugten Abgabe von Importarzneimitteln im Sozialgesetzbuch verankert. (Re-)Importeure kaufen seither verstärkt in EU-Ländern mit niedrigerem Preisniveau Medikamente auf und verkaufen diese in Deutschland mit – hohem – Gewinn zulasten der Solidargemeinschaft.

Das Geschäftsmodell der Parallelimporteure wird in Deutschland exklusiv durch eine Quote staatlich gefördert. Obwohl sich wesentlich effizientere Instrumente zur Ausgabensteuerung in der GKV zunehmend etabliert haben, die Importquote seit jeher für die Apotheken vor Ort ein „bürokratisches Monster“ darstellt und der Pharma(re)importmarkt aufgrund seiner satten Gewinnmargen ein Einfallstor für gefälschte, gestohlene oder minderwertige Arzneimittel abgibt, hält auch die Große Koalition bislang an dieser Regelung fest. Der Endbericht der Task Force in Sachen Lunapharm von Ende August dokumentiert minutiös, wie Parallel- und Importhandel von Arzneimitteln und die Erfüllung einer gesetzlichen Importquote (§ 129 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V) zu Einfuhr und Anwendung von gefälschten Arzneimitteln führen.

 

Gefährliche Geheimnisse

Weltweite Verflechtungen und die breite Intransparenz des globalen Arzneimittelmarkts machen nicht zuletzt die Rückrufe von valsartanhaltigen Medikamenten deutlich. Ein großer Teil der Pharmakonzerne, welche Valsartan-Arzneimittel in unterschiedlichen Ländern rund um den Globus vertreiben, hatte den Wirkstoff bei jenem chinesischen Hersteller produzieren lassen, der im Juli 2018 von sich aus auf Verunreinigungen mit NDMA (Nitrodimethylamin) hinwies. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Patienten einem als Nebenprodukt entstandenen Stoff ausgesetzt wurden, der als wahrscheinlich krebserregend gilt, sorgt der Rückruf nun dafür, dass Blutdrucksenker weltweit knapp werden. Produktionsstätten und Lieferketten sind ein wohlgehütetes Industriegeheimnis und selbst für deutsche Arzneimittelüberwachungsbehörden in hohem Umfang intransparent. Solche Geheimnisse sind gefährlich für Patienten, die auf ihre Arzneimittel angewiesen sind. Deutsche Behörden mussten erst bei den pharmazeutischen Unternehmen als arzneimittelrechtlich verantwortlichen Herstellern erfragen, ob diese vom Skandal betroffen sind, bevor der Rückruf eingeleitet werden konnte. 16 Pharmafirmen haben zwischenzeitlich ihre Valsartan-Produkte vom deutschen Markt genommen. In mindestens 22 Staaten weltweit passierte analoges.

 

Rabattverträge haben die Situation entschärft

Wegen mangelnder Transparenz über die auf dem Markt verfügbaren Mengen und fehlender Bevorratungspflichten kann die Versorgungssituation auch in Deutschland nun kritisch werden. Wenn derzeit überhaupt noch erhebliche Mengen Medikamente mit dem Wirkstoff Valsartan auf dem heimischen Markt vorhanden sind, ist dies den Arzneimittelrabattverträgen zu verdanken. Durch Selektivverträge mit Krankenkassen können Pharmaunternehmen ihren Absatz gut vorausplanen und sich entsprechend bevorraten. Vorräte bei nicht betroffenen Pharmaunternehmen sicherten den deutschen Bedarf des Sommers 2018 – übrigens Vorräte von Rabattvertragspartnern der AOKs.

Im Interesse einer verbesserten Versorgungssicherheit muss die Transparenz des deutschen Arzneimittelmarkts dringend deutlich erhöht werden. Hier ist die Große Koalition als Gesetzgeber gefordert. Vorgaben zur Mindestbevorratung auf Herstellerebene und Meldepflichten sind die zentralen Instrumente dafür. Die im Jahr 2017 vom Gesetzgeber eingeführte Meldepflicht, nach der pharmazeutische Unternehmen bekannt gewordene Lieferengpässe Kliniken mitteilen müssen, war ein wichtiger erster Schritt, dem jedoch weitere folgen müssen. Die Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sollte dabei dringend gestärkt werden. Das BfArM muss zukünftig schlüssig nachvollziehen können, woher die Roh-, Wirk- und Hilfsstoffe sämtlicher auf dem nationalen Markt vertriebener Arzneimittel stammen. Ebenso müssen alle Akteure der Vertriebskette gesetzlich verpflichtet werden, dem BfArM routinemäßig ihre Lagerbestände zu übermitteln. Nur wenn das BfArM als Trustcenter fungiert, kann es bei drohenden künftigen Engpässen frühzeitig und adäquat reagieren und mit entsprechenden Hinweisen an Apotheken, Ärzte und Patienten wesentlich zur Beruhigung und Beherrschung der Situation beitragen.

 

Schräge Logik

Sicher nicht zu einer besseren Versorgung führen dagegen Finanzgeschenke an die Pharmaindustrie. Lobbyverbände machen Arzneimittelrabattverträge in Deutschland regelmäßig verantwortlich für eine weltweite Konzentration der Produktionsstätten und plädieren für materielle Anreize bei einer „Rückverlagerung“ der Standorte in heimische Gefilde. Weniger als vier Prozent macht der Anteil des deutschen Gesamtpharmamarkts am Weltumsatz der Pharmabranche aus. Dennoch erklärt die Pharmalobby dieses winzige Teilsegment regelmäßig zur angeblichen Hauptursache globaler Konzentrationsprozesse. Deutschland ist ein wichtiger, beileibe aber nicht der entscheidende Pharmamarkt weltweit.

Die schräge Logik von Pharmalobbyaktivisten zeigt eindrücklich, dass die Industrie versucht, aus einem selbst verursachten Phänomen politisch – und dann wohlmöglich auch materiell – Profit zu schlagen. Es wäre blauäugig anzunehmen, dass durch eine Einschränkung der Arzneimittelrabattverträge im GKV-Markt in Deutschland auch nur ein einziger Wirkstoffhersteller etwa in China oder in Indien aus seiner Zulieferungspflicht entlassen würde. Kein Anbieter würde seine Produktion nach Deutschland zurückverlagern, dazu müsste schon die deutsche (oder europäische) Politik in Trump-Manier den internationalen Warenverkehr zu kujonieren trachten – ein geradezu aberwitziges Szenario.


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