15.02.2024
Was geht digital? Eine Zukunftsmusik
Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit
Mit der Digitalreform unternimmt die Ampel-Koalition einen doppelten Salto. Das Digital-Gesetz (DigiG) erklärt die elektronische Patientenakte (ePA) zum allgemeinen Standard in der GKV. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) erhalten Dritte Zugang zu den Daten aus der ePA. Beides wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar erschienen. Die Reform birgt Risiken und Chancen.
Vieles klingt wie Zukunftsmusik, aber: Die Zukunft kommt, man sollte sie beizeiten gestalten. Der Fokus auf zentrale Aspekte bietet Anlass zu Hoffnung, Fragen und Verwunderung.
Der Schatz
Mit der ePA entsteht ein aufwachsender Schatz an Wissen. Dort wird die Vorgeschichte des Patienten dokumentiert – mit gesicherten Informationen zu Diagnosen und Behandlungen. Wer zugreifen darf, kann die aktuelle Situation des Patienten einordnen in die Gesamtschau seiner Krankheitsgeschichte. Der Zugriff ist Heil- und Pflegeberufen erlaubt im Rahmen einer Behandlung, wenn die Information für die Versorgung gebraucht wird (§ 352 SGB V).
Dies birgt enormes Potenzial. Beispiel Pflege: Die Pflegedienstleitung eines Pflegeheimes könnte sich zukünftig mit der Vorgeschichte eines neuen Bewohners befassen, um ein individuelles Pflegekonzept zu erstellen – anhand umfangreicher Informationen zur körperlichen und psychischen Disposition. Soweit die Theorie.
Um das Potenzial der ePA zu heben, muss der Zugang komfortabel sein. Ob die Daten aus der ePA überhaupt gelesen werden, dürfte stark vom System abhängen. Es stellt sich die Frage: Ist die ePA praxistauglich? Eine offene Recherche im Versorgungsalltag scheint illusorisch. Dafür ist die Zeit zu knapp. Gefragt sind gebrauchtfertige Datenpakete und programmgestützte Hinweise. Hier steckt die ePA noch in den Kinderschuhen.
Das MIO: Paket statt Salat
Für nützliche Daten-Pakete hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) das Konzept des „Medizinischen Informationsobjektes“ (MIO) entwickelt. Dazu heißt es auf ihrer Website:
„MIOs dienen dazu, medizinische Daten – etwa in einer elektronischen Patientenakte – standardisiert, also nach einem festgelegten Format, zu dokumentieren. Sie können als kleine digitale Informationsbausteine verstanden werden, die universell verwendbar und kombinierbar sind.“
Ein Beispiel: Der digitale Impfpass. In diesem MIO werden alle Daten zu Impfungen gebündelt dokumentiert – so wie bisher im gelben Impfpass. Der Bedarf an gebrauchsfertigen Datenpaketen dürfte riesig sein. Ähnliche „Pässe“ könnte man sich auch für chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck, für Allergien oder auch zu psychiatrischen Diagnosen vorstellen. Das Format MIO könnte sich damit zum Star der ePA entwickeln. Niemand will mit chronologisch auflaufendem Datensalat arbeiten. Es braucht Datenpakete für den schnellen Überblick.
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) ist bereits aktiv und informiert, für den Krankenhausentlassbrief sei ein MIO in der Entwicklung. Damit könnten unstrukturierte PDF-Dokumente abgelöst werden. So erfülle die DKG eine gesetzliche Pflicht: Krankenhäuser müssen ihre Daten als MIO erheben, sobald es für den Krankenhausentlassbrief ein MIO gibt (DKG-Stellungnahme zum DigiG; August 2023).
Anhand dieses Beispiels stellt sich nun für alle Gesundheitsberufe, die Frage: Gibt es Daten, für die sich ein MIO anbietet? Es sollte im Interesse aller Heilberufe sein, die eigenen Daten möglichst gut verpackt sowohl den Kollegen in der Versorgung als auch ihren Patienten zur Verfügung zu stellen. Hier eröffnet sich für die Kammern und Verbände der Heil- und Pflegeberufe die Möglichkeit, in die Konzeption zu gehen. Zum allgemeinen Werte-Kanon sollte zukünftig die Frage gehören: „Wie hältst Du es mit den MIOs?“
Die Vision: Whistleblower ePA
MIOs sind nur realistisch für Standard-Aktionen, wie die Prüfung des Impfstatus oder ein Überblick zur psychischen Disposition. Die ePA bietet aber viel mehr. So manche Information aus der Tiefe der ePA könnte für ein aktuelles Problem wertvoll sein – wenn sie denn ins Auge fiele. Die Bundesärztekammer forderte bereits im Januar 2021 in einem Thesenpapier zur Digitalisierung „ein System der Entscheidungsunterstützung für den Arzt (Decision Support System)“.
Sinnvoll wäre ein digitaler Whistleblower, der auf relevante Daten in der ePA hinweist. Schließlich können sich Daten irgendwo am Fuße des aufwachsenden Datenbergs verstecken – unerreichbar in der Eile des Versorgungsalltages. Es bräuchte daher ein Programm, das ungefragt Hinweise auf mögliche Zusammenhänge aufpoppen lässt. Ein solches Programm müsste mit dem Wissen über medizinische Zusammenhänge gefüttert sein. Dies erscheint abenteuerlich aufwändig. Ohne eine solche Anwendung steht der ePA aber eine Zukunft als langsam verstaubende Schatzkiste bevor.
Bisher ist nur ein kleiner Teilschritt in diese Richtung getan. Mit dem Auslaufen der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung können die Nutzer in der ePA gezielt nach etwas suchen, ohne vorher alle Daten durch eigenes Herunterladen entschlüsseln zu müssen – so berichtete es Susanne Ozegowski vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei der Plattform Gesundheit des IKK e.V. im November 2023. Gezieltes Suchen erfordert aber sowohl Zeit als auch präsentes Wissen. Ein unaufgeforderter Hinweis der ePA böte mehr Verlässlichkeit. Die ePA sollte den Gesundheitsberufen die Suche nach relevanten Informationen abnehmen.
Software als Game Changer
Damit rückt ein neuer Player in den Fokus: die Branche der Software-Hersteller. Bisher führten die Anbieter von Programmen zur Datenverarbeitung in Praxen und Krankenhäusern (PVS und KIS) in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein – „ist halt Verwaltung“ war die vorherrschende Wahrnehmung. Spätestens seit der Suche nach einem Schuldigen für die Pannen beim E-Rezept ist jedoch klar: Ohne hochwertige Produkte aus dieser Branche geht in Zukunft gar nichts mehr. Das gilt auch und gerade für die Möglichkeiten, den Schatz an Informationen aus der ePA für die Versorgung nutzbar zu machen. Damit möglichst schnell gute Wissens-Anwendungen verfügbar sind, braucht es passende Rahmenbedingungen. Innovative Produkte fallen nicht vom Himmel.
Ein Blick nach Österreich kann hier Orientierung geben. Auf einem Empfang des bvitg im Dezember 2023 berichtete der Technik-Chef der österreichischen Patientenakte („ELGA“; seit 2015): Programme zur besseren Nutzung der verfügbaren Daten würden nicht akzeptiert, wenn sie etwas kosten. Unsere ärztlichen Nachbarn entscheiden sich im Zweifel für den rudimentären, aber kostenfreien Zugang zu den Informationen der ELGA. Das sollte man auch hierzulande als gesetzten Rahmen akzeptieren. Für die ePA bedeutet das: Der Wettbewerb um das beste Software-Angebot alleine wird es nicht richten. Es braucht eine garantierte Nachfrage in der breiten Versorgung durch Finanzierungen oder Pflichten – das muss politisch entschieden werden. Klar ist bisher nur die Erkenntnis aus Österreich: Freiwillig zahlt keiner.
Krankenkassen als Retter in Gefahr
Die Krankenkassen erhalten mit der Reform einen aktiven Part in der Versorgung: Sie können in der Versorgung intervenieren – vorausgesetzt, sie erkennen aus ihren Abrechnungsdaten eine Gefahr für den Versicherten. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) nennt einige Gefahren wie Krebs, Arzneimitteltherapien und „ähnlich schwerwiegende Gesundheitsgefährdungen“ (§ 25b SGB V). Das Gesetz gibt den Kassen hierzu vor:
„Sofern bei einer (…) Auswertung eine konkrete Gesundheitsgefährdung, das konkrete Risiko einer Erkrankung oder einer Pflegebedürftigkeit oder das Vorliegen einer Impfindikation identifiziert wird, ist der Versicherte hierauf umgehend in präziser, transparenter, verständlicher Weise und in einer klaren und einfachen Sprache hinzuweisen. Der Hinweis (…) ist mit einer Empfehlung zu verbinden, eine ärztliche, zahnärztliche, psychotherapeutische oder pflegerische Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Empfehlung ist zu begründen.“
Es herrscht die doppelte Zuversicht
Diese offene Formulierung überrascht, muss doch eine Intervention der Krankenkasse als Methode mit hohem Risikopotenzial angesehen werden. Es handelt sich um die Analyse medizinischer Daten, die in einer Warnung und Empfehlung mündet. Es braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, was ein Schreiben der Krankenkasse über mögliche Gefahren für die eigene Gesundheit in heimischen Wohnzimmern auslösen kann. Der Gesetzgeber macht den Krankenkassen keinerlei methodische Vorgaben für Analysen, Schlüsse, Warnungen und Empfehlungen. Diese Freiheit wirkt angesichts der hochregulierten Versorgung innerhalb der GKV ungewöhnlich (siehe auch die Kritik von Jürgen Windeler im Observer Gesundheit). Der Gesetzgeber scheint hier getragen von einer doppelten Zuversicht:
- „Das wird bestimmt etwas nützen“ – auch ohne Evidenz zum Nutzen der Intervention.
- „Die machen das bestimmt gut“ – auch ohne die sonst übliche Qualitätssicherung.
Das kommt einem Paradigmenwechsel gleich: Das Primat von Evidenz und Qualitätssicherung gilt jetzt nur noch eingeschränkt. Der Gesetzgeber hat nicht immer Sorge um das Wohl des Patienten. Bei Krankenkassen genügt allein die doppelte Zuversicht. Die Krankenkassen verteidigen die Regelung in einer gemeinsamen Stellungnahme (November 2023) und führen dabei unproblematische Beispiele ins Feld, wie z.B. Hinweise auf Programme zur Früherkennung. Das Gesetz erlaubt ihnen aber deutlich mehr. Möglich wäre z.B. der briefliche Hinweis, die vom Hausarzt verordnete Therapie sei gefährlich – verbunden mit der Empfehlung, einen Arzt zu konsultieren. Dieser weite Aktionsradius hat scharfe Kritik von Heilberufen und Verbraucherschützern hervorgerufen.
Die Vorstände der KBV erklären in einer Pressemitteilung (21.6.2023):
„Die Vorstellung, dass Krankenkassen aufgrund der Auswertung von Abrechnungsdaten ihre Versicherten warnen können, unter Umständen an schweren Erkrankungen zu leiden, ist nur gruselig. Sollen dann vollkommen verunsicherte Versicherte zusätzlich in die Praxen strömen?“
Der vzbv kritisiert in seiner Stellungnahme im November 2023:
„Die im Gesetzentwurf genannten Zwecke sind unscharf definiert. So sind etwa die Formulierungen ‚im überwiegenden Interesse der Versicherten‘ und ‚ähnlich schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen‘ völlig ungeeignet, da sie den Krankenkassen weiten Interpretationsspielraum lassen.“
Selbstregulierung ist gefragt
Nun ist es unzweifelhaft sinnvoll, einer möglichen Gefahr für den Versicherten vorzubeugen. Ob es sinnvoll ist, Krankenkassen auszusenden, um Versicherte vor Unwissenheit zu bewahren, ist eine gesundheitspolitische Entscheidung. Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden. Dass das Gesetz den Krankenkassen aber keinerlei Rahmen zu Evidenz und Qualität ihrer Interventionen setzt, muss auf Leistungserbringer und Patientenschützer wie Hohn wirken. Während Leistungserbringer sich im G-BA einem rigiden System zu Evidenz und Qualität unterwerfen müssen, herrscht andernorts die doppelte Zuversicht. Hier scheint nun eine freiwillige Selbstkontrolle der Kassen gefragt. Wenigstens die Kriterien für Analysen und Empfehlungen müssten von den medizinischen Fachgesellschaften abgesegnet werden. Ansonsten scheint dem Wildwuchs Tür und Tor geöffnet.
Zugang für Dritte
Neben der „Primärnutzung“ der Daten für die Versorgung des Patienten sollen die Daten zukünftig auch weiteren („sekundären“) Zwecken dienen:
- Forscher jeder Provenienz dürfen eine „gemeinwohlorientierte“ Forschungsfrage über den aufwachsenden ePA-Datensatz laufen lassen (aggregiert: Daten von allen GKV-Versicherten, die nicht widersprochen haben; pseudonymisiert).
- Grundsätzlich dürfen „Datenhalter“ ihre Daten, die sie für einen gesetzlichen Zweck (z. B. Abrechnung) erhoben haben, auch für Statistik oder Qualitätsanalysen, verwenden.
Booster für Innovationen?
Der Forschung steht so eine Masse an Daten zur Verfügung. Trotzdem scheint der politische Hype um den damit verbundenen Vorteil für den „Innovations-Standort Deutschland“ etwas verfrüht. Der Weg zur Innovation bleibt unverändert weit. Der Hintergrund:
Aus den ePAs kommen Daten aus der Behandlungspraxis (Real Data). Damit lassen sich z.B. Analysen zur Struktur der Versorgung fahren. Das Problem: Der Versorgungsforschung mangelt es weniger an Daten als an Methodik. Beim Brennpunkt Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft im Oktober 2023 erläuterte Prof. Dr. Holger Pfaff (Uni Köln): Es fehle der Versorgungsforschung an Theorien, wo Forschung überhaupt sinnvoll sei; dies führe zu Projekten, die von guten Ideen und gefühlter Plausibilität geleitet seien. Diese Einschätzung des Experten legt nahe: Dem Mangel an Theorien in der Versorgungsforschung ist nicht mit einer Masse an Daten beizukommen. Für innovative Erkenntnisse zur Versorgung fehlt es an den wissenschaftlichen Grundlagen.
Für die forschende Industrie ist vor allem die Anbindung der Register (z.B. Krebsregister) interessant. Hier bietet sich eine Anwendung für klinische Studien: In begründeten Ausnahmen könnten Register den Vergleichsarm einer Studie ersetzen. Das bedeutet: Die Wirkung eines neuen Medikaments wird dann nicht mit den Daten von (anders behandelten) Probanden in einer Studie verglichen. Stattdessen werden zum Vergleich die gesammelten (Register-) Daten aus der breiten Versorgung genutzt. Die Debatte, in welchen Fällen und inwieweit ein solcher Ersatz zulässig ist, läuft noch. Es gibt Bedenken: Register sind nichts anderes als gut sortierte Real Data. Ein Vergleich über Register erfüllt damit nicht den Anspruch definierter Laborbedingungen („Labor“ im Sinne von gezielt ausgewählten Probanden). Inwieweit die Forscher der Industrie die riesige Menge an Real Data wirklich für Wirkungs- und Nutzennachweise gebrauchen können, muss noch methodisch ausgestritten werden.
Auch für die Kostenträger wäre eine Anwendung denkbar. Sie können untersuchen, ob der Nutzen einer Behandlung der Erwartung entspricht, z. B. durch die Frage: Korreliert die Verordnung eines Wirkstoffes mit dem Rückgang der Todesfälle – so, wie es die klinischen Studien versprochen hatten? Hier bietet sich für Innovationen eine Erfolgskontrolle im Realitätscheck – wenn auch beschränkt auf harte Kriterien, wie z. B. Tod, die sich in den Daten wiederfinden.
Die Hürde: offene Flanke Datenschutz
Die größte Flanke der Digitalgesetze ist der Datenschutz. Mit dem Paradigmenwechsel bei der ePA (Wechsel vom Opt in zum Opt out) und dem Zugang Dritter zu den (anonymen) Daten aus der ePA bietet die Reform eine breite Angriffsfläche. Die rechtliche Basis, um dagegen vorzugehen, wirkt allerdings etwas in die Jahre gekommen. Zum Hintergrund: Jedermann kann gegen ein Gesetz Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben (§§ 90 und 93, BVerfGG). Relevant wäre hier das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“, das 1983 vom Gericht selbst in einem Urteil formuliert wurde.
Wikipedia zitiert aus dem Urteil:
„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“
Die Bundeszentrale für politische Bildung erläutert zum grundrechtlichen Schutz der Informationen:
„Es wird (…) kein Schutz gewährt, wenn man (…) ordnungsgemäß darin eingewilligt hat, dass sie erhoben und verwendet werden dürfen. Eine solche Einwilligung ist jedoch streng zweckgebunden und kann jederzeit widerrufen werden.“
Weil der Staat selbst kein unmittelbares Interesse an der Nutzung der Daten begründen kann, werden sich die Gesetze an strengen Maßstäben messen lassen müssen. Dem juristischen Laien erschließen sich aus den o.g. Zitaten zwei unmittelbare Anforderungen:
- Jeder Versicherte muss verstehen können, was mit seinen Daten passiert.
- Jeder Versicherte muss einwilligen und die Einwilligung jederzeit widerrufen können.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist hierbei der Wechsel zum Opt out, weil damit die Einwilligung bei Schweigen unterstellt wird. Wer nicht nein sagt, ist einverstanden. Das ist ein Richtungswechsel und dürfte der bisherigen Interpretation des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung kaum gerecht werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Grundrecht bisheriger Couleur noch auf der Höhe der Zeit ist. Schließlich geht es hier nicht um ein Informationsbegehren in Ausübung staatlicher Gewalt – wie seinerzeit bei der vom Staat geplanten Volkszählung, die Anlass für das Urteil von 1983 war. Heute geht es um die Nutzung persönlicher Gesundheitsdaten zum Wohle der Person selbst, und um die Nutzung anonymer Daten zur Mehrung des Gemeinwohles. Hier ist abzuwägen, ob der Schutz des Bürgers im Sinne seiner Selbstbestimmung dem Schutz der Gesundheit entgegensteht – gerade im Fall von Nicht-Handeln (hier: Nicht-Widerspruch).
Bei dieser Abwägung könnte die Tücke im Detail liegen. Ein Beispiel: Der SPD-Politiker Matthias Mieves, im Gesundheitsausschuss des Bundestages für Digitales zuständig, erläuterte im Dezember 2023 eine Besonderheit im Rahmen eines Pressegespräches: Die zuständigen Gesundheitspolitiker der Ampel hätten sich in mehreren Sitzungen mit dem Datenschutz beschäftigt. Dabei habe man sich geeinigt, dass Patienten Daten aus ihrer ePA vollständig löschen können – mit einer Ausnahme. Daten zur Medikation können nicht gelöscht werden. Für die „ersten Massenanwendung der ePA“ brauche es alle Verordnungsdaten (hier: automatische Prüfung der Medikation auf Wechselwirkungen). Das bedeutet: Wer eine Diagnose verheimlichen möchte, muss berücksichtigen, dass hierzu Rückschlüsse aus der – nicht löschbaren – Medikationsliste möglich sein könnten. Hier schützt im Zweifelsfall nur das Opt-out, also der vollständige Verzicht auf die ePA.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sieht die neue Rechtslage grundsätzlich kritisch. Er befürchtet, manche Bürger könnten auf Schutzmaßnahmen verzichten, weil sie unter Druck gesetzt werden (siehe Observer Gesundheit). Die Einschätzung seiner Behörde dürfte in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine wichtige Rolle spielen. Ob und wie das Gericht die Entscheidung des Bundestages für das Opt-out passieren lässt, ist völlig offen; Auflagen sind möglich. Nach der populären Petition gegen das Opt-out (58.188 Mitzeichnungen; Oktober 2023) scheint eine Verfassungsbeschwerde zumindest wahrscheinlich.
Und täglich grüßt die Abrechnung
Die Hürden des Datenschutzes dürften in absehbarer Zeit genommen werden. Ein langwieriges Hindernis stellen aber ungeeignete, weil überholte Regeln zur Abrechnung von Leistungen dar. Aus der Industrie wird z. B. berichtet, man könne die Nachsorge bei Medizinprodukten (hier: Einsetzen eines Cochlea-Implantates) digital durchführen. Da es für digitale Nachsorge aber keine Abrechnungsziffer gibt, bevorzugten die Krankenhäuser den analogen Weg – mit Anreise und Zeitaufwand für die Patienten.
Die Systeme der Abrechnung haben sich über viele Jahre entwickelt – orientiert an der analogen Versorgung. In einem ersten Schritt kommt es nun darauf an, eine hybride Abrechnung (analog und digital) zu ermöglichen. Das dürfte ein aufwändiger Prozess werden, der aber zwingend notwendig ist, um digitale Vorteile zu nutzen. Leistungserbringer und Krankenkassen sind nun gehalten, in ihren Gremien aktiv zu werden, um Abrechnungshindernisse aus dem Weg zu räumen. Initiative ist gefragt. Eine harte Bewährungsprobe für die Selbstverwaltung.
Fazit
Ziel dieser Ausführungen war es, das allseits beschworene Potenzial der Digitalisierung an den zentralen Punkten der aktuellen Reform zu beleuchten. Dieses Unterfangen muss Stückwerk bleiben. Mit weiteren Aspekten (und Einwänden von Experten) ließe sich ein Kompendium füllen. Klar ist auch, dass vieles noch wie Zukunftsmusik klingt. Der Schatz an Daten beginnt erst in 2025 langsam zu wachsen. Dies sollte aber niemanden dazu verführen, sich abwartend zurückzulehnen. Der disruptive Prozess der Digitalisierung wird vieles auf den Kopf stellen. Um daraus Vorteile für die Versorgung zu ziehen, ist noch sehr viel Arbeit zu leisten. Mit den Digitalgesetzen hat Karl Lauterbach eine Reform auf den Weg gebracht, die den Titel Strukturreform verdient. Diese muss nun mit Leben, Technik und Wissen gefüllt werden. Dabei ist jeder in seiner Rolle gefordert. Fachliche Experten sind eingeladen, sich mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu wenden. Die stete Frage sollte lauten: Was geht digital?
Lesen Sie zu dem Thema auch:
Prof. Ulrich Kelber, „Gesundheitsrevolution mit Grundrechtsgarantie“, Observer Gesundheit, 2. Februar 2024,
Prof. Dr. Jürgen Windeler, „Die Gesundheits-Nina, Observer Gesundheit, 20. September 2023.
_observer.jpg)
Alle politischen Analysen ansehen