Reform der Psychiatrie gescheitert

G-BA missachtet mit neuer PPP-Richtlinie gesetzlichen Auftrag

Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer

Der Gesetzgeber fordert den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) seit fast zehn Jahren auf, die überholten Personalstandards in den psychiatrischen Kliniken zu überarbeiten und insbesondere die psychotherapeutische Versorgung in Psychiatrien zu stärken. Im Kern geht es dabei um mehr Zeit für die Patient*innen: mehr Zeit für Gespräche, mehr Zeit für den Aufbau von tragfähigen und vertrauensvollen Beziehungen, mehr Zeit für Kriseninterventionen. Dafür müsste die Dosis an Psychotherapie (§ 136c SGB V), die eine Patient*in stationär mindestens erhalten soll, erhöht werden. Der G-BA entschied jedoch am 16. September, es beim Überholten und Mangelhaften zu lassen. Damit ist eine seit langem überfällige Reform der Psychiatrie gescheitert.

Die chronische psychotherapeutische Unterversorgung in psychiatrischen Kliniken wird auch künftig eine leitliniengerechte Behandlung von schwer psychisch kranken Menschen unmöglich machen. Die Entscheidung des G-BA ist fachlich unverantwortlich. Sie ist auch rechtlich unhaltbar: Wieder einmal überstrapazierte der G-BA seinen fachlichen Spielraum. Wieder einmal wurde ein gesetzlicher Auftrag missachtet. Wieder einmal gelang dem G-BA eine dringend notwendige Reform nicht. Stattdessen konnten sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband mit ihrer Blockadepolitik zu Lasten der Patient*innen durchsetzen.

Die Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV), die bis Ende 2016 maßgeblich für die Personalausstattung in der Psychiatrie war und zuletzt kaum noch zu 100 % umgesetzt wurde, beruhte auf den Therapiekonzepten der 1980er Jahre. Psychotherapie spielte damals noch eine unterschätzte Rolle für die Behandlung insbesondere auch von schweren psychischen Erkrankungen. Die veralteten Personalvorgaben aber machten Korrekturen fast unmöglich, obwohl längst wissenschaftlich erwiesen war, dass Psychotherapie ein wirksames Behandlungsmittel bei allen psychischen Erkrankungen ist, auch bei schweren Erkrankungen wie sie in der stationären Psychiatrie behandelt werden.

Die Psych-PV sah für Regelpatient*innen 29 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche vor. Diese wurden zwar mit der Erstfassung der PPP-Richtlinie, die im September 2019 beschlossen wurde, auf durchschnittlich 50 Minuten Einzelpsychotherapie pro Patient*in und Woche erhöht, sie liegen damit aber immer noch weit unter dem, was erforderlich wäre und sogar unter dem, was in der vertragsärztlichen Versorgung möglich ist. In der ambulanten Versorgung können Patient*innen bei Bedarf bis zu 150 Minuten Psychotherapie pro Woche erhalten. Demgegenüber ist in den Psychiatrien noch nicht einmal sichergestellt, dass die vorgesehenen 50 Minuten auch wirklich bei der Patient*in ankommen und nicht durch gestiegene Anforderungen im Stationsalltag an z.  B. Dokumentation und Qualitätssicherung aufgefressen werden.

 

PPP-Richtlinie unzureichend – Gesetzgeber greift ein

Auch der Gesetzgeber war 2019 mit der Entscheidung des G-BA nicht zufrieden. Er hat dem G-BA deshalb noch vor In-Kraft-Treten der Erstfassung der PPP-Richtlinie zum 1. Januar 2020 den Auftrag erteilt nachzubessern. Mit den Mindestvorgaben für Psychotherapeut*innen wurde ausdrücklich das Ziel verfolgt „die Psychotherapie entsprechend ihrer Bedeutung für die Versorgung psychisch und psychosomatisch Erkrankter“ in der PPP-Richtlinie abzubilden.

Davon blieb nicht mehr übrig als die „Umbenennung“ der psychologischen Berufsgruppe in „Psychotherapeut*innen“ und eine Beschreibung ihrer Regelaufgaben ohne Erhöhung der Personalressourcen für Psychotherapie. Damit erhält kein Patient auch nur eine Minute mehr Psychotherapie. Der G-BA hat zwar einen fachlichen Spielraum bei der Umsetzung gesetzlicher Aufträge, aber alles beim Alten zu lassen geht fraglos am gesetzlichen Auftrag vorbei.

Auch ein Kompromissvorschlag des unparteiischen Vorsitzenden Prof. Josef Hecken in letzter Minute dokumentiert Hilflosigkeit angesichts des Unwillens der Krankenhäuser und der Krankenkassen, den gesetzlichen Auftrag umzusetzen. Er will sicherstellen, dass Anfang 2022 Daten zur Personalsituation in den Kliniken vorliegen. Auch wenn wir wissen, über wie viel Personal die Kliniken verfügen, sagt das noch nichts darüber aus, wie viel Psychotherapie bei den Patient*innen ankommt, und vor allem nichts darüber, wie viel es denn sein sollte. Diese Fragen lassen sich mit Daten zum Ist-Zustand nicht beantworten.

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hatte in den Beratungen zur Umsetzung der Mindestvorgaben für Psychotherapeut*innen einen gemeinsamen Vorschlag mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Patientenvertretung (PatV) zur Erhöhung der Personalressourcen der psychotherapeutischen und ärztlichen Berufsgruppe eingebracht. Danach wären – bis auf die Intensivbehandlungsbereiche in der Sucht- und Gerontopsychiatrie – mindestens 75 bis 100 Minuten Einzelpsychotherapie pro Patient*in und Woche möglich. Das entspräche dem Mindestbedarf für eine leitlinienorientierte Psychotherapie im engeren Sinne, d. h. für heilkundliche Psychotherapie, die durch Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen erbracht wird.

 

Beanstandung des BMG notwendig

Die BPtK fordert deshalb, dass das Bundesgesundheitsministerium den G-BA-Beschluss nur mit der Auflage genehmigt, dass der G-BA kurzfristig eine Erhöhung der Minutenwerte für Psychotherapie vornimmt. Es kann nicht sein, das Patient*innen und Mitarbeiter*innen weiterhin auf die dringend erforderliche Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung warten müssen, obwohl der Gesetzgeber diesem Trauerspiel ein Ende setzen wollte. Keine Erhöhung der Psychotherapie-Dosis kann nur als Nicht-Erfüllung des gesetzlichen Auftrages gewertet werden.

 

 

Das Scheitern der Reform der psychiatrischen Krankenhäuser

2012: Mit dem Umstieg auf ein neues Finanzierungssystem in Psychiatrie und Psychosomatik wurde dem G-BA der gesetzliche Auftrag erteilt die zum 1. Januar 2017 außer Kraft tretende Psychiatrie-Personalverordnung durch Empfehlungen für die Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik zu ersetzen. Dabei war bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass mit den überholten Standards der Psych-PV keine Versorgung gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft in den Kliniken mehr möglich war.

2014: Erst im November 2014 setzt der G-BA eine Arbeitsgruppe ein und nimmt die Beratungen auf. Diese gestalten sich von Beginn auch deshalb schwierig, weil im G-BA keine Einigkeit darüber hergestellt werden kann, wie der gesetzliche Auftrag genau zu verstehen ist, d. h. insbesondere wie verbindlich die neuen „Personalempfehlungen“ sein sollen.

2016: Es wird deutlich, dass der G-BA bis Ende des Jahres keine Empfehlungen für die Personalausstattung vorlegen wird. Der Gesetzgeber präzisiert seinen Auftrag und verlangt verbindliche Mindestvorgaben für die Ausstattung mit therapeutischem Personal bis 2020 (§136a Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen).

2019: Der G-BA verabschiedet im September eine Erstfassung der PPP-Richtlinie und erhöht die Minutenwerte für Einzeltherapie von 29 Minuten je Woche auf 50 Minuten. Das entspricht der durchschnittlichen Versorgung von psychisch kranken Menschen in psychotherapeutischen Praxen. Deren intensivtherapeutisches Angebot liegt jedoch bei drei Stunden je Woche. Durch die gestiegenen Anforderungen z. B. an Dokumentation und Qualitätssicherung ist nicht einmal sichergestellt, dass die 50 Minuten in der Klinik auch bei den Patient*innen ankommen.

2019: Dem Gesetzgeber reicht die verabschiedete G-BA-Richtlinie nicht aus. Er erteilt umgehend den Auftrag, die Richtlinie bis zum 1. Januar 2021 um verbindliche, bettenbezogene Mindestvorgaben für Psychotherapeut*innen zu ergänzen (Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung).

2020: Die Beratungen im G-BA zu bettenbezogenen Mindestvorgaben für Psychotherapeuten werden nur schleppend aufgenommen. Insbesondere der Bettenbezug wird als nicht umsetzbar kritisiert. Es ist absehbar, dass kein fristgerechter Beschluss gefasst werden wird. Der Gesetzgeber streicht den Bettenbezug und gewährt eine Fristverlängerung bis 2022 (Krankenhauszukunftsgesetz).

16. September 2021: Der G-BA verabschiedet eine PPP-Richtlinie und erhöht nicht die Mindestvorgaben für Psychotherapie. Die BPtK hatte zusammen mit der Bundesärztekammer und der Patientenvertretung im G-BA eine Erhöhung der Minuten für Einzelpsychotherapie auf mindestens 75 bis 100 Minuten gefordert.

 


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