Digitalisierung des Gesundheitswesens

Worum geht’s eigentlich?

Dr. Robert Paquet

Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und die Bevölkerung sind sich über eine Folge der Corona-Krise einig: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bekommt einen enormen Entwicklungsschub. Aber auch schon vor der Krise war das Thema eine Herzensangelegenheit von Minister Spahn, die viele seiner neuen Gesetze mitgeprägt hat. Ziemlich früh hat er dafür im BMG eine neue Abteilung eingerichtet. Das Thema hat jedoch eine lange Vorgeschichte, die mit der elektronischen Datenverarbeitung in der Sozialversicherung in den siebziger Jahren beginnt.

Wenn man Literatur und Presse verfolgt, findet sich unter dem Rubrum Digitalisierung ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Entwicklungen. Im Folgenden soll ein Sortierungsversuch gemacht werden, der die verschiedenen Kontexte der Digitalisierungsansätze berücksichtigt. Erstens: Die weitaus meisten Projekte hängen mit der Telematik-Infrastruktur zusammen und drehen sich um digitale Kommunikation. Der zweite Bereich ist die Entwicklung von Wissen; aus Daten können Informationen werden, die Prävention, Diagnostik und Therapie von Krankheiten unterstützen und verbessern. Am anspruchsvollsten – drittens – ist die Einbeziehung digitaler Instrumente in die Therapie selbst. Insgesamt bewegt sich der Fortschritt auf den verschiedenen Feldern zwischen Banalität und höchstem Komplexitätsniveau.

 

Vorgeschichte I – GKV-Daten als Ausgangspunkt

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens beginnt mit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Zwar nutzten einige größere Ortskrankenkassen schon in den sechziger Jahren EDV-Anwendungen. Die Entwicklung nahm aber Fahrt auf, als 1971 das AOK-System beschloss, ein integriertes Datenverarbeitungssystem (IDVS II) zu entwickeln. „Zu diesem Zeitpunkt besaßen von den damals 400 Ortskrankenkassen nur vierzig eine EDV-Anlage, die teils mit Standardsoftware und teils mit individuellen Programmen betrieben wurde.“ 1974 legte ein Arbeitskreis des AOK-Bundesverbandes und der Landesverbände ein Konzept vor, nach dem „für alle wirtschaftlich automatisierbaren Arbeitsabläufe programmierte Lösungen“ erarbeitet werden sollten, so heißt es bei Hagen Kühn in seiner Studie mit dem beredten Titel „Der automatisierte Sozialstaat“ (Kühn 1989, 92). Der eigentliche Startpunkt war die Softwareentwicklung durch den AOK-Bundesverband und die Ausstattung der Landesverbände mit Hardware als Rechenzentren. Diese Aufgabenteilung hielt sich im Grunde bis in die 1990er Jahre, auch bei den Verbänden der anderen Kassenarten. Die Ersatzkassen allerdings setzten jeweils auf Eigenentwicklungen.

Pioniere der Datennutzung und einer kreativen Auswertung waren die AOKen Lindau, Ingolstadt und Schweinfurt (unter hilfreicher Koordination durch den AOK-Landesverband Bayern). Die damaligen Protagonisten wollten bereits gesundheitsökonomische und behandlungsepidemiologische Fragen beantworten. Es ging z.B. beim Vergleich von Diagnosen und Behandlungsdaten um die Feststellung von Über-, Unter- und Fehlversorgung mit Arzneimitteln. Wird bei bestimmten Diagnosen mit Medikamenten angemessen und kontinuierlich behandelt? Werden bestimmte Erkrankungen zu oft (oder zu selten) im Krankenhaus behandelt? Und so weiter (vgl. exemplarisch IGES 1985) – So nahm die „Sekundärdatenanalyse von Kassendaten“ ihren Lauf (Swart/Ihle (Hg.) 2005 und Swart/Ihle et al. (Hg.) 2014).

Da die Daten aus Verwaltungsprozessen entstanden und überwiegend zu Abrechnungszwecken dienten, wurde früh von „Routinedaten“ gesprochen. Ihre Nutzung für die Analyse gesundheitsökonomischer Fragen war somit „Sekundäranalyse“. Die jahrzehntelange Diskussion über Reichweite, Grenzen und Validität solcher Analysen soll hier nicht aufgegriffen werden. Der erste Digitalisierungsschub bei den Krankenkassen hat aber sukzessive bei allen Leistungserbringern zur „Elektronifizierung“ ihrer Abrechnungssysteme geführt. Nur im Bereich der Hilfsmittel ist man noch am weitesten zurück. Durch das PDSG soll mit dem (verpflichtenden) elektronischen Rezept im Arzneimittelbereich ein vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung erreicht werden.

Auf diese Weise stehen inzwischen fast alle im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anfallende Daten elektronisch zur Verfügung. Vor allem das macht diese Daten interessant für das im DVG vorgesehene „Forschungsdatenzentrum“ (§§ 303a-f SGB V), das potentiell ergänzt um weitere „Datenspenden“ der Versicherten die empirische Basis zur Bearbeitung gesundheitsökonomischer, medizinischer und epidemiologischer Fragen bereitstellen soll.

Ein weiterer Schritt, der die Erwartungen auf die Digitalisierung beflügelte, war die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) in den Jahren 2009 bis 2011. Sie war das Kernelement „sektorenübergreifender IT-Anwendungen“, also der Telematik-Infrastruktur (GVG 2005b), die die Akteure des Gesundheitswesens miteinander vernetzen soll. Zugleich war sie eine Vorstufe zur elektronischen Patientenakte (ePA). Dabei war die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) seit Ende der 90er Jahre eine wichtige Plattform für die Konzeption der Telematik im Gesundheitswesen (GVG 2005a). Die GVG hat die verschiedenen Interessengruppen zuerst an einen Tisch gebracht.

 

Vorgeschichte II – Minister Spahn treibt die Digitalisierung voran

Die Digitalisierung ist zwar Minister Spahns Lieblingsprojekt und ein Schwerpunkt der von ihm vorangetriebenen Gesetzgebung (siehe OBSERVER 2020). Spahn hat die Digitalisierung des Gesundheitswesens aber nicht erfunden, wie man manchmal nach der jüngeren Berichterstattung denken könnte. Die Konzepte reichen weit zurück und haben fast alle der heute diskutierten Anwendungs-Elemente (eRezept, ePA, Arztbrief, Überweisung und AU-Bescheinigung) bereits beschrieben (Berger 1998; Booz/Allen/Hamilton 2006).

Spahn konnte so auf eine lange Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Vorarbeiten zurückgreifen. Das gilt vor allem für die letzte Wahlperiode und das E-Health-Gesetz seines Vorgängers Hermann Gröhe. In diesem „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ (BT-Drs. 18/5293) wurde beispielsweise bereits die ePA konzipiert. Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens wurde die Dynamik der technischen Entwicklung stärker aufgegriffen. Das Gesetz war nicht mehr nur auf die Bereitstellung der Telematik-Infrastruktur beschränkt, sondern peilte immer mehr konkrete „Anwendungen“ an. Es regelte den elektronischen Medikationsplan und führte elektronische Genehmigungsverfahren der Kassen gegenüber den Leistungserbringern ein. Geregelt wurde die Videosprechstunde als zentrale telemedizinische Leistung in der vertragsärztlichen Versorgung und das Verfahren zur Bereitstellung einer ePA (bereits mit „Patientenfach“). Die gematik soll das „Interoperabilitätsverzeichnis“ führen, und die Anforderungen an Interoperabilität und „technische und semantische Standards“ werden geregelt; es gibt eine „Anschubfinanzierung” für elektronische Arztbriefe etc.. Sogar die Nutzung von mobilen Endgeräten der Patienten zur medizinischen Kommunikation sollte ermöglicht werden. Die Liste zeigt, dass Spahn fast die ganze Palette der Digitalisierungs-Projekte vorgefunden hat.

Unterschätzt wird häufig auch die Rolle anderer Ministerien bzw. der Bundesregierung insgesamt. Das gilt z.B. für das vom Innenministerium federführend betreute „Zweites Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – 2. DSAnpUG-EU“[1]. Das Gesetz diente (mit 155 Artikeln zur Änderung anderer Gesetze) insbesondere der Anpassung und Vereinheitlichung der Datenschutz-Terminologie entsprechend dem Europarecht. Es hat auch im SGB V schon ganz viel „Schriftliches“ durch „Elektronisches“ ergänzt. – Spahn hat aber den bisherigen Vorhaben, die z.T. langjährige Hängepartien waren, endlich den nötigen Umsetzungsschub gegeben.

Dabei richten sich die Visionen von Minister Spahn auf sehr viel weiter entfernte Utopien. Jedenfalls bevor er Minister wurde, schwärmte er vor allem von den Möglichkeiten von BIG-Data im Gesundheitswesen und selbstgesteuerten Therapie-Apps (Spahn et al. 2016). Diese Ideen schimmern heute noch durch beim „Forschungsdatenzentrum“ und bei den ungebremsten Erwartungen an die „digitalen Anwendungen“, die die Kassen den Patienten bezahlen sollen.

 

Zentraler Anwendungsbereich Kommunikation

Dabei ist der erste Anwendungsbereich für „Digitalisierung“ zunächst einmal eher banal, wird aber zum stärksten Hebel der Umwälzung. Es geht um die Bereitstellung der „Datenautobahn“ im Gesundheitswesen, die sog. Telematik-Infrastruktur mit den beiden Zugangsschlüsseln eGK und Heilberufeausweis. Damit soll die Kommunikation im Gesundheitswesen modernisiert, d.h. sie soll auf einen Stand der Technik gebracht werden, der in vielen Bereichen der Wirtschaft längst selbstverständlich ist, und die entsprechenden Effizienzvorteile nutzen. Das betrifft (immer noch) vor allem die Standard-Kommunikation und Abrechnung zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkassen.

Weil damit aber auch eine größere Transparenz des Handelns der Leistungserbringer verbunden ist, gab und gibt es Widerstände an allen Ecken. Da die Digitalisierung einen Bedarf für unzählige Anpassungen, Konventionen, Standardisierungen und Definitionen von „Schnittstellen“ etc. erzeugt, gibt es die Möglichkeit, ebenso viele Konflikte hochzuziehen. Hintergrund ist auch, dass es immer noch weit über hundert Praxis-Softwaresysteme für die niedergelassenen Ärzte gibt und eine ganze Reihe unterschiedlicher DV-Systeme bei den Krankenhäusern. Bei den Ärzten musste bisher als einziges Funktionsmerkmal die Anschlussfähigkeit an die EDV der Kassenärztlichen Vereinigungen zur Abrechnung einheitlich sein. Jenseits dieser Schnittstelle gibt es eine bunte Vielfalt. Bei den Krankenhäusern liegt das Problem oft schon darin, dass in jedem Haus eine Vielzahl von Systemen zum Einsatz kommt, aber ihre Integration fehlt. Immerhin ist es so weit, dass inzwischen alle Ärzte und Krankenhäuser elektronisch mit den Kassen abrechnen. Das ist erwähnenswert, weil das für viele andere Leistungserbringer, vor allem im Hilfsmittelbereich noch nicht gilt.

Mit der heftigste Konflikt drehte sich um das elektronische Rezept, dessen Potential schon früh beschrieben wurde (Debold & Lux 2001). Mit der Entwicklung elektronischer Bestellmöglichkeiten im Internet bei nicht-deutschen Versandapotheken wuchs jedoch der Widerstand der Apothekerverbände. Das Problem war, dass die nicht-deutschen Versandapotheken Rabatte (Boni) geben dürfen, während den deutschen Apotheken diese Möglichkeit wegen der nationalen Arzneimittelpreisbindung versagt war. Die Apotheker fürchteten, das eRezept würde die Präsenzapotheken massive Marktanteile kosten. Die deutsche Preisbindung ist jedoch im EU-Binnenmarkt unzulässig. Wie man für den deutschen Arzneimittelmarkt entweder die Gleichpreisigkeit erhalten kann (Regierungsentwurf des Apotheke-vor-Ort-Gesetzes) oder durch die Zulassung von Boni die Binnenmarktkonformität herstellt, ist nach wie vor politisch offen.

Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage wirkte sich die „Ursünde“ im Entwicklungskonzept der Telematik-Infrastruktur (TI) aus: Die anfängliche Verpflichtung auf Einstimmigkeit gab den Apothekern in den Nuller-Jahren die Gelegenheit, die Entwicklung der TI jahrelang zu blockieren. (Aber auch die Ärzte haben erst vor wenigen Jahren ihre Blockade aufgegeben.) Die Idee der Einstimmigkeit beruhte auf der Vorstellung, dass alle Beteiligten ein gleichgerichtetes Interesse an der Modernisierung des Gesundheitswesens hätten. Diese, in den Diskussionsrunden der GVG gewachsene Vorstellung stellte sich schon bald als Illusion heraus. Schon der Gedanke an das elektronische Rezept war für die Apothekerlobby Teufelszeug und sollte möglichst gar nicht erst aufkommen. Dass sich heute (möglicherweise) sogar die Präsenzapotheker mit dem eRezept arrangieren können (der Frieden ist noch nicht wirklich gemacht), hat mit einer Verschiebung der Interessenlage zu tun: Durch die Ermöglichung von Botendiensten könnten auch die „Vor-Ort-Apotheken“ im Wettbewerb mit den Versendern ggf. erfolgreich sein.

Wie unvollkommen die elektronische Kommunikation derzeit noch ist, zeigt sich etwa an der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Mit dem Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz – TSVG) wird zum 1. Januar 2021 ein einheitliches und verbindliches elektronisches Verfahren zur Übermittlung von Arbeitsunfähigkeitsdaten durch die Ärzte an die Krankenkassen eingeführt und damit die bisherige für die Krankenkasse bestimmte papiergebundene AU-Bescheinigung ersetzt. Aber erst mit dem Dritten Bürokratieentlastungsgesetz (BT-Drs. 19/13959) wurde die elektronische Information der Arbeitgeber erlaubt und die Weiterentwicklung eines elektronischen Meldeverfahrens angestoßen. Bis es ab 1.1.2021 so weit ist, bleibt das Verfahren mit dem „gelben Zettel“ wie gehabt bestehen.

 

„Neue“ Kommunikation

Neben den reinen Datenflüssen nützt die Telematik-Infrastruktur auch der individuellen bzw. persönlichen Kommunikation der Akteure im Gesundheitswesen. Ein elektronischer Arztbrief ist ebenso wie ein (elektronischer Entlassbrief eines Krankenhauses oder eine elektronische Überweisung) nichts wirklich Revolutionäres, sondern holt nur zu einem Kommunikationsstandard auf, der in anderen Bereichen längst selbstverständlich ist. Sicher bedarf es hier besonderer Schutzmaßnahmen für die Vertraulichkeit der Gesundheitsdaten, aber z.B. angesichts von über zehn Jahren Online-Banking erscheinen hier die Sicherheitsprobleme eher aufgebauscht.

Auch die Videosprechstunde ist eine Kommunikationsform, die nicht spezifisch für das Gesundheitswesen ist und – vor dem Hintergrund millionenfacher tagtäglicher Video-Chats – keinesfalls als besonders fortschrittlich gelten kann. Auch hier geht es eher um eine „nachholende Modernisierung“.

Schließlich tragen auch die Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), d.h. der Gesundheitsämter, und ihr Anschluss an die Telematik-Infrastruktur diesen Charakter. Seit über 15 Jahren wird über E-Government gesprochen, und Länder und Gemeinden wollten und wollen ihre Dienste für die Bürger und die Wirtschaft digital anbieten. Auch die interne Kommunikation sollte modernisiert werden. Der tatsächliche Prozess kann dagegen nur als stockend bezeichnet werden. Der ÖGD wurde ohnehin vernachlässigt und blieb daher erst recht bei der Digitalisierung der Verwaltung zurück. Wenn nun im 2. Bevölkerungsschutzgesetz die Digitalisierung des ÖGD während der Pandemie durch Finanzhilfen des Bundes unterstützt werden soll (verstärkt durch das aktuelle Konjunkturpaket der Bundesregierung, Ziffer 50 „Pakt für den ÖGD“), büßt man damit für Versäumnisse der Vergangenheit.

 

Zentraler Anwendungsbereich Wissensmanagement

Die verbesserte Datenkommunikation im Gesundheitswesen ist sicher eine, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung für eine bessere Informationsentwicklung, aber auch für den wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn z.B. die Daten des Gesundheitswesens ohne Medienbrüche bewegt werden können, können sie auch besser gesammelt, strukturiert bereitgestellt und ausgewertet werden. Damit Daten zu Informationen werden, müssen sie allerdings verarbeitet und verdichtet werden. Erst dann lassen sich daraus im optimalen Falle Handlungsperspektiven ableiten. Das gilt für den Einzelfall der Therapieentscheidung bis hin zur medizinischen und epidemiologischen Forschung. Bei der Therapieunterstützung geht es vor allem um die elektronische Patientenakte (ePA).

So lange die ePA aber „nur“ eine Sammlung von pdfs darstellt, kann sie die Therapieentscheidung eines Arztes (bei angemessenem Aufwand) nur dann unterstützen, wenn der Patient die „wichtigen“ Dokumente selbst kennt, vorsortiert und dem Arzt die „richtigen“ präsentiert. Ohne diese „Intelligenz“ gibt es keinen Erfolg. – Vielleicht ist es richtig, die ePA als Trägerelement schon jetzt einzuführen, auch um die Versicherten dafür zu interessieren. Die eine oder andere Anwendung könnte dazu tauglich sein. So hat die gematik z.B. angekündigt, dass ab Juli der Medikationsplan und der Notfalldatensatz auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden können[2]. Also zwei (nicht unwichtige) Elemente einer ePA. Die Nutzbarkeit hängt jedoch an der Bereitstellung von E-Health-Konnektoren, die sich noch in der Erprobung befinden. Ob diese Konstellation die Versicherten von elektronischen Akten begeistern wird, ist zu bezweifeln.

Die (bisherige) Funktionsweise der elektronischen Patientenakte kann man am Beispiel von „vivy“ betrachten, die den Versicherten von mehreren gesetzlichen und privaten Krankenkassen angeboten wird. Dabei sind u.a. die Allianz PKV, die Gothaer und die Barmenia. Von den gesetzlichen Kassen insbesondere die DAK und rund 30 Betriebs- und Innungskrankenkassen. Die Betreiber erklären, es gehe um eine „allen zugängliche App: … Mit Vivy erschaffen wir eine intuitiv zu bedienende elektronische Gesundheitsakte, die aus jedem Smartphone einen Ort macht, an dem alle relevanten medizinischen Unterlagen gesammelt werden können.“[3] Bereitgestellt werden u.a. eine Notfallakte, ein (selbst zu erstellender) Medikationsplan mit Erinnerungsfunktion (die Barcodes von Medikamenten werden gescannt), eine Hinweisliste der empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen sowie ein Impfbuch. Ärztliche Dokumente können von den Ärzten angefordert oder auch selbst gescannt, eingestellt bzw. hochgeladen werden. Vorbereitet ist ein Kategoriensystem mit 17 Kapiteln vom „Allergietest“ über das „Blutbild“ bis hin zur „Überweisung“.

Vivy kann aber noch viel mehr als eine elektronische Gesundheitsakte, heißt es typischerweise in der Eigenwerbung. Als „persönliche Gesundheitsassistentin“ bietet sie vielfältige Funktionen, wie z.B. ein Bewegungs- und Ernährungs-Tagebuch mit Auswertungsfunktionen. „Ein integrierter Gesundheits-Check vermittelt zusätzlich ein holistisches Bild der individuellen Gesundheit – für sich selbst und die genauere Abstimmung mit behandelnden Ärzten.“ Darüber hinaus gibt es allerlei mehr oder weniger nützliche Gesundheitstipps und ein Abrechnungs- bzw. Einreichungstool für die PKV.

Bei den Patientenakten anderer GKV-Kassen, wie etwa bei der „TK-Safe“ der Techniker Krankenkasse, kann man außerdem die Abrechnungsdaten der Behandlungen, die der Kasse vorliegen, automatisch in die Akte übertragen lassen: Arzt- und Zahnarztbesuche, Impfungen, rezeptpflichtige Medikamente und Krankenhausbesuche.

Das ist schon eine ziemlich breite Palette, die auch Minister Spahn in seiner Begeisterung für die ePA beeinflusst haben dürfte. Aber auch vivy und TK-Safe bereiten nur die eingegebenen bzw. gemessenen Fitnessdaten auf, nicht die gespeicherten Gesundheitsinformationen. Auch der Medikationsplan geht (mit seinen Interaktionshinweisen) kaum über die reine Aufzeichnung hinaus. Wenn in solchen Systemen jedoch nicht genügend eigene Intelligenz steckt, z.B. mit Sortierungs- und Priorisierungsfunktionen, ist die Akte für die Therapieunterstützung der Ärzte bestenfalls am Rande nützlich. Außerdem ist der entsprechende Einsatz abhängig von technischen Geschick des Nutzers, der Kooperationsbereitschaft der Ärzte und dem Einsatz eines jüngeren Smartphones (denn z.B. vivy funktioniert nur mit Face-ID).

Bei diesem relativ bescheidenen Stand der Entwicklung erscheint es geboten, Politik und Öffentlichkeit für eine erweiterte Nutzung der elektronischen Patientenakte zu gewinnen. Die vielfältigen Möglichkeiten, die elektronische Patientenakte direkt zur Verbesserung von Diagnostik und Therapie zu nutzen, werden z.Z. zu wenig beachtet und treten in der öffentlichen Diskussion oft hinter weniger wichtigen Aspekten zurück (z.B. der Eingabe „selbsterhobener Daten“ der Versicherten). Nur mit der genannten Perspektive kann die Patientenakte jedoch ihr eigentliches Nutzenversprechen einlösen. Das kann an internationalen Beispielen gezeigt werden[4].

Ohne die Datenschutzinteressen der Versicherten zu beeinträchtigen wäre es daher nützlich zur Stärkung/Flankierung der elektronischen Patientenakte ein Instrument auszubauen, das den Behandlungsprozess nachhaltig unterstützt. Dabei sollte auch – mit Zustimmung der Versicherten – die direkte Kommunikation zwischen den beteiligten Ärzten (und Kliniken) zugelassen und gefördert werden. Im Hinblick auf diese Zielsetzung wäre zu prüfen, wie die gesetzlichen Regelungen angepasst werden sollten. Die weitere Entwicklung einer wirklich „personalisierten Medizin“ hängt vom Fortschritt in diesem Bereich ab.

Dass die Institutionen des Gesundheitswesens und die Wissenschaft von der besseren Kommunikation von Daten profitieren, liegt auf der Hand. Die jüngsten (und positiven) Beispiele sind – Corona-bedingt – die schnelle Entwicklung eines bundesweiten Registers zur Intensivmedizin (DIVI) und die Zusammenführung von Obduktionsdaten Corona-Toter bei der Universitätsmedizin Aachen (seit 22. April). Dass aus Daten gewonnenes Wissen nützlich sein kann, lernen wir auch schmerzhaft an den holprigen Corona-Datenmeldungen der Gesundheitsämter an das Robert-Koch-Institut: Zum Teil mit FAX-Standard, lückenhaft und erheblichen Zeitverzögerungen. Komplexere Fragestellungen können so nicht effektiv verfolgt werden. Das erklärt z.B. den bedauerlichen Mangel an Informationen über die Relevanz bestimmter Situationen für die Infektionswahrscheinlichkeit, obwohl die Gesundheitsämter bei den Infizierten und Verdachtsfällen aufwendige Befragungen zur Nachverfolgung der Kontakte durchführen. Wenn es ein schnelles und standardisiertes Meldesystem gäbe, könnten damit auch differenziertere Daten erfasst und ausgewertet werden. So wäre es ein sinnvoller Beitrag für die Spezifikation von Präventions- und Schutzmaßnahmen, wenn man z.B. mehr über die Berufe der Infizierten wüsste. Dieses Datum wird aber nicht erhoben. Immerhin wird das Alter der Verstorbenen mitgeteilt. Auch die Vorerkrankungen bleiben ein „Rätsel“[5], obwohl dazu das eine oder andere erfragt wird. Es gibt aber keine systematische Erfassung und keine strukturierte Auswertung etc.

Das ambitionierteste Vorhaben in diesem Bereich ist der mit dem Digitale Versorgung-Gesetzes (DVG) angestoßene Aufbau eines Forschungsdatenzentrums, an das die Kassen die Diagnose- und Abrechnungsdaten in pseudonymisierter Form zu übermitteln haben. Die Zwecke der Datennutzung sind in § 303e SGB V umfassend beschrieben und reichen von den Steuerungs- und Planungsaufgaben von Politik, Kassen und ihren Kollektivvertragspartnern bis zur epidemiologischen und Versorgungsforschung. Hier bleibt abzuwarten, wann durch die besser erschlossene Datenfülle eine neue Qualität des Wissens erreicht werden kann. Künstliche Intelligenz könnte hier zu einer höheren Effizienz der Datennutzung beitragen. Ob und wie ggf. BIG-Data-Analysen mit diesen Daten, die ja im Kern keine medizinischen Daten sind, für die medizinische Forschung doch etwas erbringen können, bleibt abzuwarten.

Hier muss man vor allem eine Fortsetzung der bereits erwähnten Forschung mit GKV-Routinedaten sehen (nun mit einer Gesamterhebung statt mit Stichproben und einer einheitlich standardisierten Datenaufbereitung, was auch etwas wert ist). Für die medizinischen Forschungsinteressen im engeren Sinne bringt das Zentrum wahrscheinlich keinen qualitativen Sprung nach vorn. Denn außer den Diagnosen und abgerechneten Medikamenten haben die Kassen (insbesondere im ambulanten Bereich) so gut wie keine klinisch relevanten Daten, wie z.B. Laborergebnisse. Insoweit gewinnt man vor allem Patientenhistorien bzw. „Bewegungsprofile“: Wer war wann bei welchem Arzt etc. Das ist zwar auch interessant und relevant für die Behandlungsepidemiologie, dürfte jedoch die Kliniker enttäuschen. Für die ergänzend vorgesehenen „Datenspenden“ der Versicherten gibt es zwar eine hohe Bereitschaft, aber bisher kein (rechtlich und) technisch praktikables Verfahren. Schließlich dürfte sich auch der wissenschaftliche Informationswert der Spende von schlecht sortierten pdf-Sammlungen, die die Patienten womöglich noch „gesäubert“ haben, in engen Grenzen halten. Erst recht, wenn man keine Ahnung hat, wer sie „gespendet“ hat, d.h. wie repräsentativ sie für die Bevölkerung sind bzw. welche Selektionseffekte möglicherweise eine Rolle spielen.

 

Zentraler Anwendungsbereich Therapie

In der Diagnostik sind digitale Instrumente seit Jahrzehnten routinemäßig im Einsatz. Hier liegt nicht das Neue, außer in dem Potential, das in ihrer Einbindung in die (ggf. automatisierte) digitale Kommunikation liegt, die natürlich auch zur Gewinnung neuer Erkenntnisse beitragen kann. Die große Hoffnung auf die Digitalisierung bezieht sich hier vor allem auf den Einsatz digitaler Therapien.

Therapeutische Anwendungen digitaler Technik reichen vom intelligenten Herzschrittmacher, der digital überwacht und eingestellt werden kann, über Cochlear-Implantate (computergesteuerte Hörprothesen für Gehörlose), digital gesteuerte Insulinpumpen bis hin zum computerassistierten Operieren. Um nur auf technisch sehr avancierte Anwendungen hinzuweisen. Hier gibt es jedoch nichts grundsätzlich Neues, außer möglicherweise den Grad, in dem digitale Instrumente (vor allem durch die zunehmende Möglichkeit der Miniaturisierung) in den Körper der Patienten implantiert werden können. Die Medizin hat sich nämlich schon immer hochentwickelter Technik bedient. Das gilt für die Intensivmedizin, die Strahlentherapie und die Operationstechnik etc. Im Kern geht es aber auch dort stets um die Unterstützung von Personen, die behandeln. Wenn man die Broschüren der renommierten Medizintechnik-Hersteller durchblättert, wird das deutlich: Es geht um „Entscheidungsunterstützung“, Förderung der Kommunikation/Vernetzung der Behandler (im Krankenhaus und insgesamt), die Verbesserung der Informationsgrundlagen, des Datenaustauschs und der Kooperation innerhalb und zwischen den Behandlungsteams[6].

Das eigentlich Neue, auf das sich die Hoffnung richtet, sind elektronisch selbständige Therapie-Tools. Also therapeutische Instrumente, die unabhängig von Menschen eingesetzt werden können. Hier bewegt man sich immer noch auf sehr unsicherem Terrain. Noch vor wenigen Jahren wurde über Hunderttausende von medizinischen Apps berichtet, die sicher auch Minister Spahn im Sinn hat, wenn er sich für die „digitalen Anwendungen“ begeistert. Der größte Teil dieser Apps besteht aber aus unzähligen Varianten von Schrittzählern und Ernährungstagebüchern. Also im Grunde Spielzeug und medizinischer Firlefanz. Wenn die Apps therapeutisch wirksam sind, haben sie dagegen einen hohen Anspruch und müssen (nach einer Nutzenbewertung) als Medizinprodukte zugelassen werden. Von diesem Typus gibt es bisher relativ wenige Anwendungen. Eine App, die dem Diabetiker hilft, die Insulingabe zu steuern, gehört in diese Kategorie und ist lebenswichtig.

Auch z.B. interaktive physiotherapeutische Trainingsprogramme, die im Rahmen der ambulanten Rehabilitation eingesetzt werden können (das Programm korrigiert während des Trainings „falsche“ Bewegungsabläufe bei den Patienten), müssten als Medizinprodukte geprüft werden. Es muss mindestens sichergestellt werden, dass sie nicht gesundheitsschädlich sind.

Andere Apps sind therapieunterstützend (z.B. Erinnerung an Medikamenteneinnahme) oder sammeln Informationen, sind jedenfalls nicht selbständige Therapieformen, sondern gehören eher zum Rankewerk. Natürlich ist bei allen Therapien, bei denen Medizinprodukte zum Einsatz kommen, deren Steuerung zunehmend digital. Das gilt wie bei allen Medizingeräten, die jedoch inzwischen – mit zunehmender Komplexität ­– auch bei chronisch kranken Patienten zu Hause ankommen (beispielsweise sogar Beatmungsgeräte).

Eine Sonderrolle spielen psychotherapeutische Online-Therapien (z.B. Internet-Depressions-Coaches). So weit es nicht um Beratung und Kontakt im Sinne einer Videosprechstunde geht, wird es interessant. Immerhin öffnen sich die Psychotherapeuten allmählich für Selbsttherapie-Instrumente in ausgewählten Fällen, wenn auch nur sehr zögerlich. Voraussetzung des Einsatzes solcher Tools (bzw. ihrer Finanzierung durch die Kassen) muss jedoch auch hier die Zertifizierung als nützliches Medizinprodukt sein.

Die Euphorie über die digitalen Anwendungen ist daher inzwischen einer gewissen Ernüchterung gewichen. Auch der aufmerksame Beobachter des Gesundheitswesens kann das Blütenmeer der Apps bisher nicht erkennen. Die „Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung – DiGAV“ ist am 21. April in Kraft getreten, und auch der Leitfaden des BfArM für deren Prüfung und Zulassung liegt inzwischen vor. Ab Juli können Anträge gestellt werden. Die Zeichen für digitale Lösungen – für welche Probleme auch immer – stehen eigentlich recht gut. Wir sind gespannt, was dabei herauskommt.

Die Corona-Tracing-App ist ein weiterer Sonderfall. Im Kern geht es hier überhaupt nicht um Medizin, sondern um den datenschutzkonformen Nachvollzug bestimmter Kontakte. Dabei ist zu befürchten, dass die App angesichts des aktuellen Motivationsstandes zu spät kommt: Nach den div. Lockerungen der Kontaktbeschränkungen etc. ist die „Entspannung“ in der Bevölkerung – dahingestellt, ob berechtigt oder nicht – zur Zeit nicht dazu geeignet, die notwendigen Nutzungsquoten zu erreichen. So bedauerlich es ist: Angst hätte jedenfalls zunächst die Nutzung beflügelt. War am Anfang die Rede davon, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung die App nutzen müssten, um einen echten Informationsgewinn zu erreichen, ist Minister Spahn inzwischen damit zufrieden, wenn es wenigstens ein paar Millionen Nutzer gibt. Das lässt die Zweifel wachsen. Die sind ohnehin gerechtfertigt, weil die App nur auf Handys der jüngeren Generation (nach iPhone 6) funktioniert[7]. Es drängt sich dabei auch die Frage auf, ob die tatsächlichen „Risikogruppen“ damit erreicht werden (seien es die „Super-Spreader“ oder deren „Opfer“). Schließlich wird sogar der Sinn des Projekts insgesamt bezweifelt. Selbst für Länder mit zentraler Speicherung und ohne Anonymisierung wird der Erkenntniswert in Frage gestellt[8].

 

Ergebnis

Gegenwärtig haben wir es in der Politik – nicht nur bei Minister Spahn – mit geradezu schwärmerischen Äußerungen zur Digitalisierung zu tun. Zum Beispiel fordern die Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Gesundheit, Forschung und Digitalisierung in einem Positionspapier vom 25.5.2020 pathetisch „Das selbstbestimmte Recht, die eigenen Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, muss verwirklicht werden“, sagen aber nicht, wie das mit der „Datenspende“ funktionieren soll[9]. Auch der Vorsitzende des Bundestags-Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel MdB, fordert in einem Beitrag für den OBSERVER-Gesundheit[10]: „Ein Digitalisierungsfonds muss … unbedingt noch in dieser Legislaturperiode kommen.“ – Man fragt sich da, ob die entsprechenden Maßnahmen der div. Corona-Not-Gesetze und Verordnungen sowie der bereits verabschiedeten „normalen“ Gesetze dieser Wahlperiode wirklich nicht ausreichen. Dann kommt noch das Konjunkturpaket hinzu, nach dem jedem Gesundheitsamt im Durchschnitt 10 Mio. Euro zur Verfügung stehen sollen (aber nicht nur zur digitalen Modernisierung). Schließlich fragt man sich, was gematik, Kassen und KVen etc. relativ kurzfristig in Sachen Digitalisierung darüber hinaus zu leisten in der Lage wären.

Es gibt jedoch auch die umgekehrte Richtung: Böning et al. (2019) kommen in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem Schluss, dass die Nutzung von Gesundheits-Apps und Wearables die Solidarität in der Krankenversicherung untergraben. Die Menschen würden damit individualisiert und in bisher nicht konkurrenzorientierten Lebensbereichen auf Wettbewerb orientiert.

Wir befinden uns zurzeit in einem gewaltigen Sozialexperiment, bei dem die Digitalisierung eine prominente Rolle spielt. Durch die Pandemie steht vor allem das Gesundheitswesen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei sollte man sich vor Euphorie und Pessimismus gleichermaßen hüten. Im Einzelnen wird sich zeigen, was digital geht und was nicht, was die Apps können und wo sie keine Lösung bieten. Jedenfalls hat Corona die Bereitschaft bei allen Beteiligten (Patienten, Ärzten, Apothekern etc.) erhöht, die digitalen Kommunikationsmittel zu nutzen. So wird die Videosprechstunde, die sich gegenwärtig großer Beliebtheit erfreut, auch wieder etwas zurückgehen. Aber sie wird als Möglichkeit im Bewusstsein bleiben.

Vielleicht ist aber viel wichtiger, dass man seit einiger Zeit Arttermine elektronisch buchen kann (und z.T. heute muss, um Wartezimmer-Kontakte zu reduzieren). Oder dass man Anschlussrezepte elektronisch anfordern kann, ohne die Praxis aufzusuchen. Das wird als positive Erfahrung bleiben und sich weiter ausbreiten, also zur Routine werden. Die wirksamsten Dinge werden sich in diesem Bereich der Kommunikation abspielen. Und was den prägenden Eindruck machen wird, das sind Veränderungen wie das elektronische Rezept, die E-Überweisung und die elektronische AU-Bescheinigung. Massenhafte Vorgänge, die ein Großteil der Bevölkerung erleben wird. Die aber – gemessen an anderen Bereichen – längst überfällige Veränderungen darstellen und vor allem dazu dienen, den digitalen Rückstand des Gesundheitswesens aufzuholen.

Bis sich die ePA zu einem wirklich hilfreichen Instrument für die Therapie entwickelt, wird es dagegen noch dauern. Das Problem liegt auch hier weniger in der Technik und noch nicht einmal in der Intelligenz der Systematisierung. Das zentrale Problem wird in unserem korporatistischen Gesundheitswesen sein, die Beteiligten auf einen anerkannten Standard zu konsentieren. Dafür dürften die Möglichkeiten z.B. des Gemeinsamen Bundesausschusses überfordert sein. Sollte Jens Spahn auch in der nächsten Wahlperiode Gesundheitsminister bleiben, könnte er sich hier als Beschleuniger verdient machen. Die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Medizin wird aber langsam und mühselig bleiben. Daran ändert auch die schnellere digitale Datenbereitstellung im Grunde wenig. Dass hochwertiges Wissen nicht so einfach zu gewinnen ist, zeigt gerade die aktuelle Diskussion zur Ätiologie, zum Charakter und Verlauf sowie zur Epidemiologie von Covid19 sehr plastisch.

Jens Spahn hat die Digitalisierung des Gesundheitswesens auf der politischen Tagesordnung bereits vorgefunden. Er hat das Thema aber aufgegriffen und beherzt vorangetrieben. Die Corona-Krise wirkt dafür als Turbolader. Dieser Teil der Modernisierung ist nicht zurückzudrehen.

 

[1] Bundesgesetzblatt I S. 1626, Ausgabe 41 vom 25.11.2019

[2] Pressemitteilung der gematik GmbH vom 24.05.2020

[3] https://www.vivy.com/ueber-vivy/

[4] Z.B. https://www.epic.com/software#Clinicals

[5] Thomas Trappe „Das Rätsel der Vorerkrankungen“ im Tagesspiegel vom 18.05.2020, Seite 21

[6] Hier exemplarisch SIEMENS Healthineers: „Entscheidungsunterstützung über den gesamten Patientenpfad“, Erlangen 2020 https://www.siemens-healthineers.com/de/digital-health-solutions

[7] Z.B. Aachener Zeitung „Nicht für ältere Handys gedacht“, 9.6.2020, Seite 4

[8] Handelsblatt: „Viele Daten – geringe Erfolge“, vom 25.5.2020, Seite 16

[9] Positionspapier: „Mit Daten Leben retten: Für eine bessere Patientenversorgung durch Digitalisierung und Gesundheitsforschung“ vom 26.5.2020

[10] Erwin Rüddel: „Unser Gesundheitssystem hat sich bewährt“, OBSERVER-Gesundheit 29.05.2020 https://observer-gesundheit.de/unser-gesundheitssystem-hat-sich-bewaehrt/

 

Literatur

Roland Berger & Partner (1998): Telematik im Gesundheitswesen, Perspektiven der Telemedizin in Deutschland, München.

Booz/Allen/Hamilton GmbH (2006): Endbericht (im Auftrag der gematik) zur „Kosten-Nutzen-Analyse der Einrichtung einer Telematik-Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen“, Düsseldorf.

Böning/Maier-Rigaud/Micken (2019): „Gefährdet die Nutzung von Gesundheits-Apps und Wearables die solidarische Krankenversicherung? – Eine bevölkerungsrepräsentative Bestandsaufnahme der Solidaritätseinstellungen“, WISO-Diskurs13/2019, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Debold & Lux Beratungsgesellschaft (2001): „Kommunikationsplattform im Gesundheitswesen. Kosten-Nutzen-Analyse: Neue Versichertenkarte und Elektronisches Rezept“. Endbericht für die ABDA und den VdAK, Hamburg.

Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) (Hg.) (2005b): eHealth 2005. Telematik im Gesundheitswesen. Elektronische Gesundheitskarte: Kernelement sektorenübergreifender IT-Anwendungen. – Dokumentation zum nationalen und internationalen Kongress. München 2005. Berlin: Aka 2005 [= Schriftenreihe der GVG Bd. 51].

Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) (Hg.) (2005a): Telematik im Gesundheitswesen, Perspektiven und Entwicklungsstand. Berlin: Aka 2005 [= Schriftenreihe der GVG, Bd. 50].

Fina Geschonneck/Sebastian Hofmann/Prof. Dr. Andreas Lehr/Ines Niehaus (OBSERVER 2020): Von der Regierungsbildung im Bundestag bis zur Corona-Zäsur – Observer Gesundheit vom 8.4.2020 https://observer-gesundheit.de/von-der-regierungsbildung-im-bundestag-bis-zur-corona-zaesur/

Institut für Gesundheits- und Sozialforschung IGES (1985): „Leistungs- und Kostentransparenz in der GKV; konzeptionelle Grundlagen und Auswertungsbeispiele für Modellversuche nach § 223 RVO“; Schriftenreihe Strukturforschung im Gesundheitswesen, Band 14, Technische Universität Berlin (Autoren: P. Debold, R. Neuhaus, R. Paquet, W. Schräder)

Kühn, Hagen (1989): „Der automatisierte Sozialstaat – Arbeit und Computer in den Sozialverwaltungen“, herausgegeben vom WZB, Ed. Sigma Bohn, Berlin

Jens Spahn/Markus Müschenich/Jörg F. Debatin (2016): „App vom Arzt – bessere Gesundheit durch digitale Medizin“, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau

Swart, E./Ihle, P. (Hg.) (2005): Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse. Grundlagen, Methoden und Perspektiven 1

Swart, E./Ihle, P./Gothe, H./Matusiewicz, D. (Hg.) (2014): Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse. Grundlagen, Methoden und Perspektiven 2


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