Think Tanks und die Diskurshoheit in der Gesundheitspolitik

Das neue Buch „Think Tanks im Gesundheitswesen“ führt trotz methodischer Schwächen weiter

Dr. Andreas Meusch, Beauftragter des Vorstandes der Techniker Krankenkasse (TK) und Dozent Gesundheitspolitik an der HAW Hamburg

Stellt Euch vor, es gibt Revolution und keiner kriegt‘s mit. Keine Barrikaden, keine Toten und keine Plakate mit Forderungen nach dem Sturz des bestehenden Systems – und trotzdem eine revolutionäre Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Kann es so etwas geben? Klar! Das war zumindest die These eines Professors aus Milwaukee, der eine solch stille Revolution 1977 beschrieb. Ronald Ingelhart heißt der Professor, und seine Thesen veröffentlichte er in dem Buch „The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics“. Seine These, dass in westlichen Gesellschaften ein Wertewandel stattfindet, hat inzwischen zwar wegen seiner Eindimensionalität an Glanz eingebüßt, aber die Überzeugung, dass sich politische Werte und Stile leise verändern und die Koordinaten von Gesellschaft und politischen Entscheidungsträgern nachhaltig verschieben, ist inzwischen Allgemeingut. Kein Stammtisch würde der Aussage widersprechen, dass Debatten zur Nachhaltigkeit und zu Gendergerechtigkeit vor 50 Jahren so nicht möglich waren. Wertewandel eben.

Und jetzt, nicht einmal ein halbes Jahrhundert später, kommt ein deutscher Professor daher und behauptet, so etwas gebe es auch im deutschen Gesundheitswesen. Das heißt bei ihm zwar nicht „silent revolution“. Wenn Professor David Matusiewicz im Vorwort seines Buches zu „Think Tanks im Gesundheitswesen“ aber von „neuen Diskursstrukturen“ spricht, über die das Buchprojekt einen ersten Überblick geben will (S. V), dann geht es aber genau um das, was der Titel des Buches von Ingelhart aus dem Jahr 1977 meint: eine Veränderung von Werten und politischen Stilen. Matusiewicz identifiziert „Think Tanks“ als Treiber dieses Wandels, so die zentrale These des Buches.

Bevor wir uns des Themas Think Tanks nähern, lohnt es aber, einen Moment innezuhalten, um sich vor Augen zu führen, wie systemsprengend diese neuen Diskursstrukturen sein können. Heerscharen von Analysten des deutschen Gesundheitswesens haben Terabytes und tonnenweise Literatur zu Themen wie Pfadabhängigkeit der deutschen Gesundheitspolitik und die unsägliche Rolle der vielen Vetoplayer geschrieben (mea culpa: der Autor dieser Zeilen gehört auch dazu). Und jetzt kommt jemand und behauptet einfach: Das muss nicht so bleiben, es gibt Menschen, die daran arbeiten, dass sich das ändert. Na, dann wollen wir doch einmal sehen, was es mit diesen Think Tanks so auf sich hat.

 

Think Tanks: Begriffscontainer?

Wenn man bei google „Think Tank“ mit den verbindenden Anführungszeichen zusammen mit Begriff ‚Health‘ eingibt, erhält man 30 Millionen Treffer. Ersetzt man ‚health‘ durch ‚Gesundheit‘, sind es immerhin noch ungefähr 659.000 Treffer. Das ist schon einmal ein Indiz für die Relevanz des Phänomens und weckt das Bedürfnis nach Eingrenzung. Um es vorwegzunehmen: Das ist nicht das Ziel des Herausgebers. Gleich zu Beginn gibt er eine Definition: „Als Denkfabriken (engl. Think Tanks) werden Organisationen (in der Regel Stiftungen, Vereine, (g)GmbHs oder informelle Gruppen bezeichnet, die insbesondere durch wirtschafts- und sozial- und gesundheitspolitische Konzepte und Strategien Einfluss auf die Politikberatung und die öffentliche Meinungsbildung nehmen“ (S. V). Das persönliche Google im Kopf spuckt bei dieser Definition schon zwei- bis dreistellige Treffer für Organisationen aus, auf die die Definition zutrifft: Wie viele Ärztestammtische, die sich öffentlichkeitswirksam als Ärztenetze definieren, wollen genau das. Jedes mittelgroße Unternehmen, das Gesundheitsprodukte verkauft, jede PR-Agentur mit Kunden im Gesundheitswesen, hat Abteilungen, auf die diese Definition zutrifft. Der ein oder andere Think Tank, der sich in dem Buch vorstellen darf, macht deutlich, wie breit die Palette ist. Auch wenn es den Rezensenten nicht befriedigt, dass „Think Tank“ ein Begriffscontainer ist, in dem man sehr Unterschiedliches unterbringen kann, Matusiewicz ist da im Einklang mit der Forschung: „Als ‚Think-Tanks auf Zeit‘ gelten heute u. a. Planungsworkshops und Ideenwerkstätten in zumeist ungezwungener Klausuratmosphäre, bei denen die gemeinsame Denkanstrengung im Vordergrund steht – in der Regel der informelle Austausch zwischen Managern und Unternehmern unterschiedlicher Branchen und Vordenkern, Zukunftsforschern, Wissenschaftlern und Kreativen“[1].

Allerdings ist man in den USA, dem Mutterland der Think Tanks, auch nicht viel weiter. Selbst der Papst der Think Tank Forschung, der US-Amerikaner James G McGann, beginnt sein Standardwerk zum Thema gleich mit der Feststellung „Defining the concept is not as easy as it may seem[2]“ und sucht nach Unterstützung mit einem Zitat eines Mitbewerbers um die Papst-Rolle in der Think Tank Forschung, Thomas Medvetz[3]. Dieser meint, der Begriff sei “a murky, fuzzy concept that cannot be nailed down precisely”.

Und wie schwer sich auch McGann tut, der mit dem „The Think Tanks and Civil Societies Program“ (TTCSP) des Lauder Instituts der University of Pennsylvania jährlich eine Übersicht über die weltweit wichtigsten Think Tanks herausgibt[4], sieht man aus deutscher Sicht daran, dass in der Kategorie „Top Domestic Health Affairs Think Tanks“ immerhin auf Platz 31 eine deutsche Institution vorkommt: Das ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Bei vielen Institutionen, die der Autor dieser Zeilen im Buch von Matusiewicz vermisst: Auf das ZEW wäre er bei der Nennung des wichtigsten Think Tanks, der sich um Gesundheitsthemen (!) im eigenen Land kümmert, nicht gekommen.

Aber immerhin zeigt der Blick in die internationale Literatur, dass es Kriterien und Kategorisierungen von Think Tanks gibt, die man zu Grunde legen kann. Auch wenn McGann mehrfach in dem Buch zitiert wird, es orientiert sich nur begrenzt an seinen Kriterien. Das hängt auch mit dem Verfahren zusammen, mit dem die Buchbeiträge ausgewählt wurden: über einen öffentlichen Call for papers des Verlages[5]. Ob und wenn ja in welcher Form es einen Review der eingereichten Beiträge gegeben hat, ist nicht bekannt. Auf alle Fälle ist hier noch Luft nach oben. Matusiewicz ist deshalb gut beraten zu betonen, dass er „einen ersten Überblick“ geben will (S. 6). Selbst dann vermisst man Institutionen wie IGES aus Berlin oder AQUA aus Göttingen.

 

Thinks Tanks: Trojanische Pferde?

Den Kern des Problems dieses Buches liegt aber an anderer Stelle: Ihn hat der 2017 verstorbene Journalist Thomas Leif in seinem Buch über die Rolle der Beratungsgesellschaften bereits aufgeworfen: „Lobbying und PR in einem Boot: Die Berliner Thinktanks“[6].  Gibt es eine Abgrenzung zwischen Think Tanks auf der einen Seite und Lobbying und PR auf der anderen Seite? Sie wird zumindest im Buch von Matusiewicz erst gar nicht versucht. Zwei Beispiele:

  • Ein Arbeitskreis in einem Unternehmensbereich für Nahrungsergänzungsmittel (S. 80) wurde 2015 rechtlich unabhängig von dem Konzerneigentümer DSM (S. 85). Diese „Denkfabrik für Nutrition“ (S. 86) setzt sich für eine „Veränderung der Ernährungs- und Verhaltensgewohnheiten“ (S. 83) ein.
  • Der Zahnarzt und Unternehmensgründer Philipp Plugmann stellt unter der Überschrift „Globale Zukunftstrends in Health Care für die deutsche Wirtschaft nutzen“ seinen Think Tank „Dr. Dr. Plugmann Consulting“[7] (S. 291) vor und macht insbesondere Eigen-PR.

Jetzt kann man natürlich mit gewissem Recht fragen „So what?“ und das Buch zur Seite legen. Das wäre aber schade, zwei Gründe sprechen dagegen:

1. Wenn die Think Tanks wirklich für eine Veränderung der Diskursstrukturen stehen und bei diesen die Abgrenzung zu Lobbying und PR nicht möglich ist, dann ist das für die politischen Debatten in Deutschland schon relevant: Ist „Think Tank“ nicht nur ein Begriffscontainer, in den man alles Mögliche reinpacken kann, sondern sind Think Tanks trojanische Pferde, mit denen man die Diskurshoheit in der Gesundheitspolitik erobern will? Das vorliegende Buch bietet Stoff für politische Debatten.

2. Es gibt eine Reihe von interessanten Initiativen, die sich hier darstellen. Insbesondere die zehn Beiträge, die im dritten Kapitel „Next Generation Think Tanks im Gesundheitswesen“ zusammengefasst sind, bestätigen Matusiewiczs These von den neuen Diskursstrukturen, die die Gesundheitspolitik verändern werden. Auch hier zwei Beispiele:

  • „Aus alten Gewohnheiten ausbrechen! Wer, wenn nicht wir?!“ so überschreiben vier Autorinnen und ein Autor aus Organisationen der Betriebskrankenkassen (BKK) ihre „Denkfabrik BKK Young Talents“ (S. 171). Sie ist eine Gruppe von jungen Mitarbeitenden aus dem BKK-System, die mit Impulsen der jungen Generation die „BKK Group … auf die Herausforderungen der Zukunft einzuschwören“ will (S. 174). Es spricht für die Veränderungsbereitschaft des bestehenden Systems, dass es über einen Think Tank von jungen Menschen die Veränderung im eigenen System fördert. Die Denkfabrik als Personalentwicklungskonzept: ein interessanter Ansatz!
  • „Einen Mehrwert für die Anliegen der jungen Generation im Gesundheitswesen schaffen“ (S. 200), ist das Ziel der „Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise für eine enkeltaugliche Politik“, die die Ökonomin Luisa Tavera in ihrem Beitrag vorstellt. Die „Generationengerechtigkeitskämpfer“ (S. 197) legen Wert auf einen „respektvollen Umgang mit den Etablierten des Systems“ und wollen „als ansprechbarer Akteur erkannt werden und in diversen Landes- und Bundesgremien mitwirken“ (S. 200).

 

Think Tanks: Ein Label mit Zukunft

Insgesamt bleibt es ein großer Verdienst des Herausgebers, dass er die Veränderungen in der Diskurslogik im Gesundheitswesen erspürt hat und dieser tektonischen Verschiebung in der Gesundheitspolitik mit dem Label „Think Tanks“ eine Struktur gibt. Ihm gebührt noch ein zweites Verdienst: Bisher gibt es wenig systematisierende Literatur zu Think Tanks im deutschen Gesundheitswesen, und der Herausgeber kann deshalb mit gutem Recht in Anspruch nehmen, hier Neuland zu betreten. Der Ansatz, systematisierende Beiträge mit der Selbstdarstellung von Organisationen zu verbinden, die sich selbst als Think Tanks verstehen, ist für einen praktisch orientierten Zugang zum Thema gut geeignet. Allerdings sind die vorgestellten Institutionen so heterogen und die Auswahl für den Band so sehr durch Selbstselektion geprägt, dass deutlich wird, dass für eine politische und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Think Tanks im Gesundheitswesen noch viel zu tun bleibt. Es sei hier eine Prognose gewagt: Think Tank, das Label hat Zukunft!

 

[1] Thunert, Martin (2012): Vom Think-Tank zum Do-Tank: Wohin steuern die Denkfabriken? In: csr MAGAZIN No. 01/2012; https://www.csr-news.net/news/wp-content/uploads/2018/06/005_Denkfabriken_Thunert.pdf; abgerufen: 10. 11. 2020

[2] McGann, James G. (2016): The Fifth Estate. Think Tanks, Public Policy, and Governance; Brookings Institution Press, S. 5

[3] Medvetz, Thomas (2012): Think Tanks in America; The university of Chikago Press

[4] McGann, James G. (2020): 2019 Global Go To Think Tank Index Report; https://repository.upenn.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1018&context=think_tanks; abgerufen: 31. 10. 2020

[5] https://www.david-matusiewicz.com/2018/09/23/neu-denkfabriken-think-tanks-im-gesundheitswesen/; abgerufen: 02. 11. 2020

[6] Leif, Thomas (2006): beraten&verkauft. McKinsey&Co. – der große Bluff der Unternehmensberater, C. Bertelsmann; S. 283-290

[7] Eine google Recherche hat neben dem linkedin Profil lediglich folgenden Treffer mit Informationen zu dem Autor generiert: https://www.glusiness.com/DE/Leverkusen/1250634525077234/Prof-Dr-Dr-Plugmann-Consulting-Innovation-%26-Health-Care; abgerufen: 9. 11. 2020

 

David Matusiewicz (Hrsg.): Think Tanks im Gesundheitswesen. Deutsche Denkfabriken und ihre Positionen zur Zukunft der Gesundheit. Springer Fachmedien (Wiesbaden) 2020. XI, 353 Seiten. ISBN 978-3-658-29727-5 (Print)

 


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