Für eine soziale Priorisierung von Impfungen

Gegen eine kurzsichtige Forderung der Hausärzteschaft zur Abschaffung von Impfzentren

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.

Am 22. April 2021 verkündete der Bundesgesundheitsminister das Ende der Priorisierung bei Impfungen gegen SARS-Cov-2 für Anfang Juni. Bis dann sollte die Priorisierungsgruppe 3 (im Wesentlichen Personen über 60 Jahren) komplett einen Impftermin erhalten haben. Dann könnte jeder sich um einen Impftermin ohne weitere Kriterien bemühen.

Ein Ende der Priorisierung ist aber zu diesem Zeitpunkt weder richtig und noch gerecht. Nicht alle Bürgerinnen und Bürger haben zu diesem Zeitpunkt das gleiche Infektionsrisiko und die gleiche Chance auf eine Impfung – im Gegenteil: Es bedarf einer Neuausrichtung der Priorisierung. Statt eines individuellen Risikos aufgrund von Alter oder Vorerkrankung steigt das soziale Risiko der Epidemie. Eine Entpriorisierung erhöht die Gefahr von nachhängenden Infektionsgebieten in prekären Stadtteilen, die die Pandemie unnötig verlängern können.

 

1. Höhere Infektionsquote in prekären Quartieren

Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Gesundheit ist hinlänglich bekannt. Er zeigt sich auch in der Pandemie. Die sozioökonomischen Unterschiede im Infektionsrisiko hat das RKI für die 2. Welle für Deutschland kürzlich bestätigt (DÄB, JG 118, Heft 15 vom 16. April 2021 S 269f). Auch sozialräumlich kann dies an Beispielen aus Hamburg und Bremen belegt werden. Entsprechende regionale Analysen liegen für verschiedene Städte und Kommunen in Deutschland vor. Eine koordinierte Erhebung unterhalb der Kreisebene gibt es von Seiten des Robert-Koch-Instituts nicht.

 

soziale Priorisierung Grafik 1

 

soziale Priorisierung Grafik 2

 

Abb. 1 und 2: Stadtteile in Hamburg – Verteilungsmuster der sozialen Belastungen (Abb. 1) und der Corona-Inzidenzen. Auffällig ist die Übereinstimmung der „belasteten“ Stadtteile. Mit freundlicher Genehmigung des NDR zur Nutzung der Grafiken.

 

Ähnlich sieht es in Bremen aus. Hier ist der direkte Vergleich des „reichsten“ und „ärmsten“ Ortsteils der Stadt:

 

soziale Priorisierung Grafik 3

 

Abb. 3 Soziale Spreizung der Ortsteile in Bremen zwischen Schwachhausen und Gröpelingen
Quelle: BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Drucksache 19/127Landtag19. Wahlperiode 03.11.15 Mitteilung des Senats vom 3. November 2015 Lebenslagen im Land Bremen Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht des Senats der Freien Hansestadt Bremen -2015- Seite 38

 

Diese Spreizung spiegelt sich in Bremen kontinuierlich bei der Entwicklung der Infektionszahlen wider:

 

soziale Priorisierung Grafik 4

 

Abb. 4: Entwicklung der positiven Testraten in Schwachhausen (niedriger Benachteiligungsindex) – Fälle pro 1000 Einwohner über jeweils zwei Kalenderwochen

 

soziale Priorisierung Grafik 5

 

Abb. 5: Entwicklung der positiven Testraten in Gröpelingen (hoher Benachteiligungsindex) – Fälle pro 1000 Einwohner über jeweils 2 Kalenderwochen

 

In beiden Städten zeigt sich eine große Übereinstimmung zwischen Stadt-/ Ortsteilen mit hoher sozialer Belastung und Stad-Ortsteilen mit einer hohen Infektionsrate. Die Unterschiede zwischen wohlhabenden und ärmeren Ortsteilen liegen in Bremen bei bis zu 300 % innerhalb einzelner Wochen. Dabei handelt es sich nicht um Clusterausbrüche im institutionellen Sinne, sondern um disseminierte Verteilungen von Infektionen.

Es ist vielfach belegt, dass Gesundheitskompetenz und Gesundheits-Compliance abhängig von der jeweiligen sozialen Lage Einzelner beziehungsweise ganzer Stadtteile ist. Bei Infektionskrankheiten wie der SARS-CoV-2-Infektion sind zusätzlich zu sozialen und individuellen Unterschieden auch die strukturellen Gegebenheiten in diesen benachteiligten Stadtteilen zu berücksichtigen, die eine Übertragung erleichtern. Hierzu zählen beispielsweise

  • das Wohnen auf engem Raum,
  • Arbeitsplätze, die nicht ins Home-Office verlegt werden können,
  • Arbeitsplätze, die Kontakte unvermeidbar machen,
  • Nutzung des ÖPNV und
  • eine steigende Arbeitslosigkeit und damit eine weitere häusliche Verdichtung.

Das Infektionsrisiko in solchen Stadtteilen ist somit strukturell nachvollziehbar höher als in den wohlhabenderen Stadtteilen.

Einzelne Städte versuchen, durch niedrigschwellige Angebote von Gesundheitsaufklärung und Präventionsmaßnahmen dem erhöhten Risiko entgegenzutreten. Zusätzliche Ansprachen der Bevölkerung erfolgen ausgewählten Gemeinwesen. So wenden sich in Berlin-Neukölln aufsuchende und aufklärende Teams insbesondere an den migrantischen Teil der Bevölkerung. Mobil und in hausärztlichen Sprechstunden wird über Corona-Präventionsmaßnahmen und geltende Infektionsschutzbestimmung informiert. Die Teams arbeiten eng mit dem örtlichen Gesundheitsamt zusammen (https://chance-berlin.com/index.php/unsere-angebote/interkulturelles-aufklaerungsteam-gesundheitsmittler).

In Bremen werden in sozial schlechter gestellten Stadtteilen die vorhandenen lokalen gesundheitsfördernden Strukturen stärker gefördert und zusätzliche Stellen für Gesundheitskräfte geschaffen. Deren Ziel ist es, niedrigschwellig in den jeweiligen Quartieren Präventionsbewusstsein zu verbessern (https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt/deutschland-welt-politik_artikel,-gesundheit-haengt-mit-den-lebensbedingungen-zusammen-_arid,1969309.html).

So wichtig und nachahmenswert die sozialkompensatorischen Maßnahmen dieser Städte sind, so wenig können sie allerdings die genannten strukturellen Risiken verändern. Es ist eine infektiologische Notwendigkeit, neben nicht-pharmazeutischen Präventionsangeboten auch die Möglichkeiten von Impfungen gezielt zu berücksichtigen, da andernfalls das notwendige Quorum einer Herdenimmunität nicht zeitnah erreicht werden kann. Dabei kann man nicht alleinig darauf vertrauen, dass die bisherigen institutionellen Angebote greifen. Dazu bedarf es kleinteiliger Analysen entsprechender sozialer und pandemischer Gefährdungspunkte.

 

2. Zwei-geteilte Impfbereitschaft?

Die „COVIMO-Studie: Impfverhalten, Impfbereitschaft und -akzeptanz in Deutschland“ des RKI hat mit der 3. Auswertung beschrieben, dass die Impfbereitschaft bei Personen mit einem höheren Schulabschluss besser ausfällt als bei geringerer Bildung (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/COVIMO_Reports/covimo_studie_bericht_3.pdf?__blob=publicationFile). In dieser Studie wurden allerdings nur drei Kategorien von Schulabschlüssen als soziales Kriterium herangezogen. Ob sich die Einstellung zwischen der Impfbereitschaft und der eigentlichen Impfung ändert, ist nicht bekannt. Detaillierte Studien zur sozialen und ökonomischen Situation von Geimpften liegen für Deutschland bisher nicht vor.

In Impfzentren Beschäftigte berichten, ohne Anspruch auf Repräsentativität, dass bei der altersbezogenen priorisierten Impfung sehr selten Impfungen an Personen mit erkennbarem Migrationshintergrund beobachtet worden sind. Wenn es dann richtig ist, dass damit eine Aussage zur sozialen Situation verbunden sein könnte, ist die These zu verifizieren, dass Personen mit einem schlechteren sozial-ökonomischen Hintergrund das Impfangebot seltener angenommen haben.

 

3. Impfgerechtigkeit durch Hausarztpraxen? – Kurzsichtige Forderung der Hausärzteschaft zur Abschaffung von Impfzentren

Man könnte vermuten, dass durch das zusätzliche Impfangebot der Hausarztpraxen der soziale Gradient von Impfungen abnimmt. Hausarztpraxen gelten als gewohnte und akzeptierte Anlaufstellen für medizinische Behandlungen, aber auch für Krankschreibung. Hausarztpraxen sind ortsnah und mit der Lebenssituation der jeweiligen Personen in vertraut. Sie genießen allgemein hohes Renommee und Vertrauen ihrer Patientinnen und Patienten. Von daher besteht eigentlich die Hoffnung, dass durch die Integration der Hausarztpraxen sich auch in sozial prekären Stadtteilen die Impfquote erhöhen ließe.

Allerdings ist die Versorgung durch Hausarztpraxen weder an der Bevölkerungszahl noch an der Krankheitslast der jeweiligen Bevölkerung ausgerichtet. Die Bedarfsplanung von Hausarztsitzen versagt in Städten völlig, da alle Städte als ein Planungsbezirk (sogenannte „Mittelbereiche“) gelten und eine Binnensteuerung nach realem Bedarf bei der Positionierung von Hausarztpraxen nur in besonderen Ausnahmefällen rechtlich möglich ist. Im Gegenteil. Hausarztpraxen finden sich vermehrt in wohlhabenden Stadtteilen und in geringerer Zahl in sozial prekären Gebieten.

 

soziale Priorisierung Grafik 6

 

Abb. 6: Hamburger Stadtteile mit geringer Hausarztdichte entsprechen den belasteten Gebieten mit hoher Inzidenz in Abb. 1 und 2. Mit freundlicher Genehmigung des Hamburger Abendblatts zur Nutzung der Grafik. 

 

Rechnet man die Hausarztzahl auf die jeweilige Bevölkerungsdichte des Stadtteiles, verschiebt sich die Verteilung der Hausärzte noch weiter zu Gunsten wohlhabender Gebiete. So versorgte 2019 ein Hausarzt bzw. eine Hausärztin im wohlhabenden Eppendorf 938 Bewohnerinnen und Bewohner, im weniger gut situierten Stellingen 2380 und im sozialen Brennpunkt Neuallermöhe sogar 2960.

Es soll den Hausärzten und Hausärzten keinesfalls abgesprochen werden, dass sie sich vehement und positiv in die Impfkampagne einbringen wollen. Allerdings sind die Zeitressourcen in den Praxen begrenzt, da der „normale“ Praxisbetrieb weitergeführt werden muss. Hausärztinnen und Hausärzte klagen schon im Normalbetrieb über sehr hohe Belastungen. Dies gilt insbesondere für Praxen, die eine hohe Zahl von Patientinnen und Patienten beziehungsweise ein großes Einzugsgebiet zu versorgen haben. Dies trifft wieder besonders für Hausarztpraxen in prekären Stadtteilen zu. Hinzu kommt, dass die Impfdosen bisher nicht nach der Arzt-Bewohner-Verhältniszahl, sondern gleichmäßig auf alle Hausarztpraxen verteilt wurden.

Die Hausärztinnen und Hausärzte wählen aus, wen sie prioritär der Impfung zuführen wollen. Da bekanntlich sozial schwächer gestellte Menschen sich seltener ärztlich behandeln lassen, werden sie in den Praxen sicherlich nicht als dringende Fälle geführt werden. Vielmehr ist zu befürchten, dass sie ganz aus dem Visus von Hausarztpraxen herausfallen.

Im Ergebnis führt dies dazu, dass Bewohnerinnen und Bewohner von wohlhabenden Stadtteilen schneller geimpft werden, weil

  • es mehr Hausarztpraxen in diesen Gebieten gibt und
  • diese jeweils eine geringere Zahl von Patientinnen und Patienten zu versorgen haben,
  • sie häufiger hausärztlich angebunden sind.

 

Fazit

Wenn also in prekären Stadtteilen die Infektionszahlen deutlich höher liegen und hausärztliches Impfen diese Unterschiede indirekt noch verstärkt, müssen die Impfstrategien verändert werden. Nur wenn – entgegen der schlecht beratenden Ankündigung des Gesundheitsministers – eine Neujustierung der Priorisierung nach sozialen Gesichtspunkten vorgenommen wird, kann diese Schieflage angegangen werden. Andernfalls kann die Herdenimmunität nicht schnell erreicht werden, weil die Pandemie sich in den sozialen Brennpunkten „festsetzt“.

Spätestens nach der Abarbeitung der Priorität 3 muss also ein Schwerpunkt der Impfzentren in die sozial benachteiligten Stadtteile verlagert werden. Das in den Impfzentren vorhandene Know-how ist als offensives Vorort-Angebot dorthin umzulenken. Die Erfahrungen der Impfzentren mit mobilen Teams kommen dieser Notwendigkeit entgegen. Die Unterstützung örtlicher Vertrauenspersonen und Institutionen ist dabei zu suchen und einzubinden.

Ob eine ähnliche Tendenz in ländlichen Regionen vorhanden und eine entsprechende Vorgehensweise notwendig ist, kann aufgrund mangelnder Daten (noch) nicht entschieden werden.

Fatal wäre es dagegen, wenn der Forderung aus Kreisen der Hausärzteschaft gefolgt würde, und die Impfzentren aufgegeben würden. Es geht bei der Pandemie-Bekämpfung nicht um ein Prestigeprojekt, welches die bessere Impfinstanz ist, sondern um eine nach epidemiologischen Gesichtspunkten und Schnelligkeit ausgerichtete Gemeinschaftskampagne aller zur Verfügung stehenden Kräfte.


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