Der DigiG-Entwurf nach der Anhörung im BMG

Die hohen Erwartungen der Digitalisierungsstrategie werden so nicht erfüllt

Pia Maier, Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin

Der August begann mit der Anhörung zum Referentenentwurf des „Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG)“. Weiterentwicklung und Beschleunigung für die digitale Transformation im Gesundheitswesen und der Pflege verspricht der 139 Seiten starke Gesetzentwurf, 54 davon enthalten fünf Artikel mit Änderungen, 95 Nummern in zwei Artikel beziehen sich auf das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V). Aber was steckt in diesen Änderungen gemessen am Anspruch, den die Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege schon entwickelt hatte?

 

EPA als Plattform für den Datenaustausch

Die Digitalisierungsstrategie vom 9. März 2023 hat ein Zielbild der elektronischen Patientenakte (ePA) entwickelt, die eine Datenplattform ist, in der strukturierte Daten zwischen allen Behandelnden ausgetauscht und geteilt werden können. Die aktuelle ePA genügt diesem Anspruch nicht, da die Daten als Dokumente eingestellt werden – eine Filterung ist nur nach den gesamten Dokumenten möglich. Eine Datenplattform müsste deshalb künftig in der Lage sein, die Daten aus verschiedenen Dokumenten zusammenzuführen – zum Beispiel eine Entwicklung der Medikation über einen Zeitraum darstellen können, nicht nur die Medikationspläne einzeln anzeigen.

Die wesentliche Änderung für die ePA, die mit dem DigiG umgesetzt werden soll, ist die automatische Einführung der ePA für alle. Vorausgesetzt, ein Widerspruch liegt nicht vor (Opt-Out-Regelung). Dazu ist jedoch notwendig, den Auftrag an die Krankenkassen so umzuformulieren, dass sie die ePA allen Versicherten zur Verfügung stellen müssen. Der Gesetzgeber legt dafür Vorgaben für zahlreiche Informationen fest, die die Versicherten von den Krankenkassen bekommen müssen. Im § 343 Absatz 1a SGB V werden beispielsweise explizit 24 einzelne Punkte über den Inhalt des Informationsmaterials der Krankenkassen beschrieben. Ziel ist es, dass die ePA „in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache und barrierefrei zur Verfügung“ gestellt werden muss.

Auch die Zugriffsrechte der Versicherten – mit einem geeigneten Endgerät oder über Zugriffsberechtigungen für Dritte – werden detailliert aufgeführt, ebenso wie die Möglichkeiten, verschiedene Zugriffsberechtigungen für bestimmte Gruppen, Daten und Dokumente differenziert zu gestalten. Genauer ausgestaltet wird das Thema Medikationsmanagement und Medikationsplan, um einen Mehrwert für die Versicherten zu schaffen. Auch dafür braucht es zahlreiche einzelne Vorgaben: Im Entwurf wird dazu konkret Stellung genommen, was genau, bis wann und durch wen geleistet werden muss. Grundlage dafür sind weiterhin die Informationsobjekte (MIO), die semantische und syntaktische Interoperabilität garantieren.

Das ist ein guter Einstieg, sortiert aber bisher nur Dokumente, denn die MIOs dienen der gleichartigen Darstellung bestimmter Daten, sie bieten aber keine Grundlage für eine Datenbank, die eine ePA als Datenplattform aber eigentlich sein müsste.

Wenn es um die weiteren Daten geht, die schon länger gesetzlich vorgesehen Teil der ePA werden sollen, verweist der Entwurf dann aber auf eine noch zu erstellende Rechtsverordnung – das betrifft Daten aus Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), aus Disease Management Programmen (DMP), die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und Labordaten. Diese Daten werden also erst später bearbeitet und ohne parlamentarisches Verfahren umgesetzt.

Wesentlich für den Erfolg der ePA wird sein, dass die Informationen weitgehend automatisch fließen. Das wiederum ist aber nur für einen Teil der Daten vorgesehen. Denn über den Standard-Datensatz hinaus wird das Verfahren zur Integration von Daten in die ePA wiederum eines, das ausdrückliche Aufklärung und Dokumentation braucht. Damit wird diese Verfahrensweise für viele Leistungserbringende schon wieder zu viel Aufwand sein. Besser wäre hier ein Automatismus, der nicht Leistungserbringer in die Pflicht nimmt, sondern Daten an der „Tür“ der ePA aufnimmt oder abweist – je nach Einstellung in der Akte.

Die ePA kommt dank der Verpflichtung der Einrichtung für alle voran. Ob es dann auch eine nützliche ePA ist, sie also auch rege gebraucht wird, ist noch offen.

 

Stärkung der Interoperabilität

Interoperabilität wird künftig die Aufgabe des Kompetenzzentrums, das bei der Gematik eingerichtet wird. Das Zentrum empfiehlt Standards, schlägt sie dem BMG vor und beauftragt Dritte mit der Entwicklung. Auch hier soll eine noch zu schreibende Rechtsverordnung in Zukunft Licht ins Dunkel bringen: Wenn das BMG in die Anlage der Rechtsverordnung Standards aufnimmt, werden diese somit verbindlich festgelegt. Für diese festgelegten Standards muss die Interoperabilität künftig mit einem Zertifikat nachgewiesen werden. Dieses kann das Kompetenzzentrum ausstellen oder Dritte damit beauftragen. Es darf maximal drei Jahre gültig sein, muss bei wesentlichen Änderungen angepasst und kann entzogen werden, wenn die Anforderungen nicht mehr erfüllt sind. All das wird auf einer Plattform öffentlich dargestellt, inklusive der Versagungen und Widerrufe. In erster Linie richtet sich die Pflicht für diese Zertifikate an PVS und KIS-Systeme, aber auch alle anderen IT-technischen Geräte im Gesundheitswesen, die keine Medizinprodukte sind, werden dieser Pflicht unterliegen.

Eine starke Stelle zu etablieren, die die Kraft hat, die Anforderungen dann auch umzusetzen, ist grundsätzlich gut. Allerdings ist der Auftrag an das Kompetenzzentrum sehr weit bestimmt, umfasst insbesondere auch den Auftrag, eigene technische, semantische und syntaktische Standards, Profile und Leitfäden selbst zu entwickeln. An keiner Stelle wird dabei ein Vorrang von internationalen Standards festgehalten. Diese Orientierung auf eigene Entwicklung ist insbesondere vor dem Hintergrund kritisch, dass das Ministerium hier eine breite Möglichkeit an Änderungen und detaillierten Festlegungen im Rahmen einer Rechtsverordnung trifft, also ohne weiteren Einfluss etwa des Gesetzgebers.

Theoretisch könnte ein so beauftragtes Kompetenzzentrum eigene Standards entwickeln, die unabhängig von allen etablierten internationalen Formaten zum Einsatz kommen. Das wäre ein Rückschritt in der bereits erreichten Interoperabilität.

 

Digitale Gesundheitsanwendungen

Auf der Haben-Seite bei den DiGA steht die Möglichkeit, dass künftig auch Produkte der Risikoklasse IIb DiGA werden können, wobei sie keine Erprobungsphase durchlaufen können und eine prospektive Vergleichsstudie vorlegen müssen, um den medizinischen Nutzen nachzuweisen. DiGA-Studien sollen möglichst in Deutschland durchgeführt worden sein – das wird für diese Art von Produkten mangels Erstattungsmöglichkeiten dann allerdings schwierig.

Dem stehen drei deutliche Rückschritte für DiGA-Hersteller gegenüber.

1. Ergänzende Geräte dürfen nur noch leihweise abgegeben werden. Im Sinne einer ökologischen Kreislaufwirtschaft wäre das wünschenswert, schränkt hier aber die Gestaltungsfreiheit unnötig ein, denn schon heute gibt es ganz verschiedene Wege der Umsetzung im Markt.

Bislang waren drei DiGA im Markt, bei denen Zusatzgeräte inkludiert waren:

  • eine VR-Brille zur Behandlung von Angstphobien,
  • ein Energieband zur Versorgung nach Schlaganfall und
  • Bewegungssensoren bei Hüftarthrose.

Diese drei Hersteller gingen dabei unterschiedliche Wege in der Erstattung. Die VR-Brille ist im Vergütungsbetrag inbegriffen, das Energieband war Teil der teureren Erstverordnung und ist nicht mehr auf dem Markt, die Bewegungssensoren werden immer nach dem Einsatz von 90 Tagen zurückgeschickt und aufbereitet. Die bisherige Gestaltung der Geräteversorgung führt aktuell zu keinen Mehrkosten für die Krankenkassen durch teure Erstverordnungen, daher ist kein Änderungsbedarf zu erkennen.

Die Pflicht zur leihweisen Abgabe macht manche DiGA möglicherweise sogar dauerhaft teurer, denn die Personalkosten können schnell die Kosten für einmalig zu beziehende Utensilien deutlich übersteigen. 

2. Versicherte sollen innerhalb von 14 Tagen nach erstmaliger Nutzung der digitalen Gesundheitsanwendung erklären, ob sie diese dauerhaft nutzen oder nicht. Wenn nicht, entfällt der Anspruch des Herstellers auf Vergütung. Selbst Umfragen von Krankenkassen zeigen, dass nur 26 Prozent die DiGA unter drei Monate nutzen – und das vielleicht auch, weil der erwartete Behandlungserfolg sich bereits eingestellt hat. (Kurzbericht Nutzbefragung DiGA, AOK-Bundesverband, Januar 2023). Außerdem kann es gute Gründe geben, nach 14 Tage noch nicht mit der Nutzung der DiGA begonnen zu haben – Urlaub, Infekt, Warten auf notwenige Geräte…

Digitale Gesundheitsanwendungen bieten neue technische Möglichkeiten, die zu nutzen prinzipiell im Sinne eines effizienten und nutzenorientierten Gesundheitswesens steht. Zum jetzigen Zeitpunkt stellt sich diese Regelung jedoch als Schikane gegenüber den Herstellern von DiGA dar. 

3. Es soll ein Mindestanteil von 20 Prozent erfolgsabhängige Vergütung festgeschrieben werden. Auch hier bieten DiGA technisch zum ersten Mal prinzipiell überhaupt solche Möglichkeiten. Es kann theoretisch technisch festgehalten werden, ob die DiGA wie vorgesehen genutzt wird. Ob sich damit auch der Erfolg eingestellt hat, steht allerdings auf einem anderen Blatt. DiGA haben bei der Zulassung einen medizinischen Nutzen nachgewiesen, der zum Beispiel darin liegen kann, dass bestimmte Blutwerte erreicht werden, auf Folgetherapien oder Arzneimittel verzichtet werden kann, weil Schmerzen gelindert sind – die Vielfalt ist groß. Erfolg kann nur daran gemessen werden, ob sich dieser Zweck einstellt, dafür liegen die erforderlichen Daten aber gar nicht vor.

 

Die Tendenz zur Rechtsverordnung

Drei neue Rechtsverordnungen werden mit diesem Gesetzentwurf begründet. Grundsätzlich ist die Idee dahinter richtig – das Gesetz sollte den Rahmen vorgeben, weitere Details können in Rechtsverordnungen in einem schlankeren Verfahren festgelegt werden. Insbesondere angesichts der Vielzahl der Detailregeln bezüglich der ePA ist es naheliegend, dass eine Rechtsverordnung hier künftig weitere Details regeln soll. Gerade hier wird das BMG aber nur ermächtigt, die weiteren Datenarten im Nachgang zu regeln, während die Medikationsdaten gesetzlich geregelt werden sollen.

Zwei weitere Rechtsverordnungen entstehen rund um die Anforderungen an Interoperabilität. Künftig werden verbindliche Standards, die dann auch mit einem Zertifikat nachgewiesen werden, in einer Rechtsverordnung festgehalten. Das ist angesichts der Menge der Standards auch sinnvoll. Hier fehlt allerdings die Orientierung durch den Gesetzgeber auf internationale Standards, sonst können hier untergesetzlich weitreichende Entscheidungen getroffen werden, die international vermarktete Produkte praktisch ausschließen. Außerdem werden weitere Verfahren zur Regelung von Schnittstellen und Standards in eine Rechtsverordnung verortet – auch das sicherlich sinnvoll, aber auch zeitlich verzögert.

Wenn die Rechtsverordnungen nun im Referentenentwurf stehen, werden sie erst frühestens drei Monate nach Beschluss des Gesetzes in Kraft treten, ggf. kann es auch deutlich länger dauern. Detailarbeit aus dem Gesetz rauszuhalten ist sinnvoll, sie zu gestalten, sollte nicht unterschätzt werden und zeigt, dass die Beschleunigung doch eher noch zu wünschen übriglässt, da viele Details noch fehlen.

 

Fazit nach Stellungnahmen und Anhörung

Die Anhörung hat gezeigt, dass die Zustimmung zur Opt-Out-Regelung bei der ePA hoch ist, begleitet von viel auch gegenläufiger Kritik im Detail. So unterstützten zum Beispiel auch die Patientenvertretungen das Opt-Out-Prinzip. Während die einen übersichtliche und einfache Regeln zum Management der Akte fordern, legen andere Wert auf noch mehr Differenzierungsmöglichkeiten. Die Anhörung musste die Themen aufgrund der Kürze der Zeit knapp zusammenfassen, viele Punkte blieben den schriftlichen Stellungnahmen vorbehalten, aber ein Punkt schaffte es mehrfach in die Debatte: Wie sollen alte Daten in Papierform in die Akte kommen? Vorgeschlagen ist das Recht der Versicherten, dass die Krankenkassen ihnen zehn Dokumente einscannen; und zwar genau zweimal in zwei Jahren. Das wollen weder die Krankenkassen noch die Ärzteschaft oder die Patientenvertretungen.

Weiterhin umstritten ist auch der sogenannte Fast Track für DiGA, also das Verfahren beim BfArM. Weder IQWiG noch G-BA wollen akzeptieren, dass es eine andere Stelle als ihre gibt, die eine Bewertung von Leistungen im Gesundheitswegen vornimmt. Das gilt insbesondere für die neu aufzunehmende Risikoklasse. Zusammen mit den erwähnten Einschränkungen des Bereiches wird es hier auch wieder eine Grundsatzdebatte um DiGA geben: Während zahlreiche Länder in Europa den Ansatz kopieren, diskutieren viele seine Wiederabschaffung.

Auch an der Telemedizin scheiden sich die Geister. Während viele die Abschaffung der Begrenzung der Videosprechstunden in der Praxis befürworten, gibt es aber auch klare Gegner, die am Goldstandard persönliche Behandlung unbedingt festhalten wollen. Und was genau die telemedizinische Assistenz sein soll, die künftig auch in Apotheken angeboten werden soll, wirft viele Fragen auf – sowohl von Seiten der Ärzteschaft, ob hier Heilkunde ausgeübt werden soll, wie auch von Seiten der Apotheken, deren Betriebsordnungen das gar nicht vorsehen.

Im Gesamtbild bringt der Entwurf viele Seitwärtsschritte, aber geht nur langsam nach vorne. Vor allem zeigt er, dass die Detailsteuerung durch den Gesetzgeber der Geschwindigkeit und der Dynamik nicht gerecht wird, die Digitalisierung entfalten kann, wenn sie getrieben von der Nutzerfreundlichkeit gänzlich neue Geschäftsmodelle öffnet und damit bestehende Strukturen zu Veränderungen zwingt. Das kann nur geschehen, wenn Akteure außerhalb eines Systems neu hinzukommen, die umfassend digital mögliche Prozesse nutzen, um neue Angebote, neue Dienstleistungen zu etablieren. Ein Wandel aus dem System heraus kann die Potenziale selbst nicht entfalten, erst recht nicht in einem hochregulierten System wie dem Gesundheitswesen.

Dieses Gesetz in seiner jetzigen Fassung macht die vorhandene ePA besser, bringt aber nur Trippelschritte. Sie ist zudem immer noch weit von den digital denkbaren Möglichkeiten entfernt. Gleichzeitig werden neue Geschäftsmodelle der DiGA eingeschränkt und mit weiteren Auflagen versehen, was die Dynamik bremst, die dieser neue Sektor ohnehin nur eingehegt entwickeln durfte. Die hohen Erwartungen der Digitalisierungsstrategie werden so noch nicht erfüllt.

 

 

Weitere Beiträge von Pia Maier zur Digitalisierung: 

„DiGA: Listung, Verordnung – Pleite?“, Observer Gesundheit, 29. Mai 2023,

„Datenflüsse durch Europa – Chance oder Risiko?“, Observer Gesundheit, 15. März 2023,

„DiGA – gegen alle Widerstände erfolgreich“, Observer Gesundheit, 16. Januar 2023,

„Höchstbetrag und Schwellenwert für DiGA entschieden“, Observer Gesundheit, 13. Juli 2022.

 


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