Schlagzeile statt Schlagkraft

Wie Bundesgesundheitsminister Lauterbach der Ökonomisierung den Kampf ansagt und die Gesundheitspolitik auf der Strecke bleibt

Fina Geschonneck

Prof. Dr. Andreas Lehr

Groß ist die Euphorie noch zu Beginn der Legislaturperiode, als die Wahl des Bundesgesundheitsministers auf Karl Lauterbach fällt. Ein Wissenschaftler und Arzt – da werden die gesundheitspolitischen Themen endlich angepackt, so schwärmen Mediziner, Wissenschaftler und auch Verbände. Doch 2023 sieht der Blick auf die politische Leistung des SPD-Mannes eher traurig aus. Die großen Baustellen GKV-Finanzierung oder Pflegereform lassen weiter auf sich warten, Notfallreform – in weiter Ferne. Und bei der Krankenhausreform mischen nun die Länder kräftig mit, gemeinsam soll ein Gesetzentwurf entstehen. Mit dem Auslaufen der Pandemie droht dem Minister zu allem Überfluss noch, „sein“ Thema abhanden zu kommen. In dieser persönlichen Notlage interpretiert er ein altes Thema für sich und andere neu und trägt es bei jeder besten Gelegenheit vor: weniger Ökonomie, mehr Medizin, und zwar überall. Das derzeitige Allheilmittel des Karl Lauterbachs. Doch die Finanzierung blendet der SPD-Politiker aus – und nicht nur die.

Ist im Sommer noch Corona das prägende Thema des Bundesgesundheitsministers, schwenkt Lauterbach am 8. September 2022 um. Die aus seiner Sicht richtige Corona-Politik ist beim Ringen um politische Akzeptanz immer wieder torpediert worden. Ein neues Thema muss her. Im Bundestag spricht der Minister über notwendige Maßnahmen für Kinderkliniken mit Blick auf das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Und nimmt sich dabei seinem neuen Motto an: der Ökonomisierung.

 

Endlich steht Patient im Mittelpunkt

Der ökonomische Druck auf Kliniken wird „von jetzt auf sofort beendet“, sagt der SPD-Politiker vollmundig. Anreize würden gegeben, „dass tatsächlich die demografische und medizinische Situation verantwortlich ist, wo investiert wird“. Auch das sei „eine sehr wichtige Entökonomisierung unserer Krankenhausversorgung“. Und sogleich macht Lauterbach klar, wann sie kommt: „Jetzt. Sie wird vorbereitet.“ Nicht nur, dass sich das widerspricht. Unklar ist auch, was er konkret meint. Das ist jedoch zweitrangig. Denn die vermeintliche „Entökonomisierung der Gesundheitsversorgung“ verfängt emotional. Endlich steht der Patient im Mittelpunkt, nicht mehr der Profit. Mit Gesundheit darf kein Geld verdient werden. Punkt.

Den konzeptionellen Grundstein dafür legt er schon im Juli 2020. Via Facebook und Twitter schreibt er zu diesem Zeitpunkt noch ausführlich: „Die Ökonomisierung unserer Kliniken ist leider klar zu weit gegangen.“ Studien hätten schon Anfang 2000er Jahre ergeben, dass Kliniken mit mehr Erfahrung bei schwierigen Eingriffen viel bessere Ergebnisse hätten. „Das gilt auch heute noch.“ Viele Eingriffe seien überflüssig, würden von Ärzten nie bei der eigenen Familie gemacht, „und sind dem Gewinn- oder Existenzkampf der Klinik geschuldet.“ Der einzelne Arzt sei „da oft nur ein Rad in einer Maschine. Operiert er zu wenig, sinkt in der 1. Runde sein Einkommen, in der 2. Runde verliert er die Position.“ Verantwortlich seien die Fallpauschalen, die sogenannten DRGs. Wichtiger wäre: Kliniken müssten eine ausreichende Basisbezahlung haben, die unabhängig von der Zahl der Fälle ist. Dazu zähle eine ausreichende Vergütung aller Investitionen und des Pflegepersonals.

 

Vorbehalte schon bei Einführung der Fallpauschalen

Es ist müßig daran zu erinnern, dass Lauterbach seinerzeit bei der Einführung der Fallpauschalen unmittelbar dabei ist – als engster Berater der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt; der „Einflüsterer“, wie der „Spiegel“ ihn in einem Beitrag aus dem Jahre 2004 nennt. Kein Wort über Vorbehalte, Zwänge oder Nachteile. Im Gegenteil: Ulla Schmidt bezeichnet die Einführung des neuen Systems als „die größte Krankenhausreform aller Zeiten“.

Etliche Kritiker wenden jedoch von Anfang ein, dass Fallpauschalen nicht in allen Bereichen zum Einsatz kommen sollten. In der Pädiatrie oder bei schweren chronischen Krankheiten mit Multimorbidität taugen sie nicht, erinnert Franz Knieps den Minister in seinem Kommentar in der „Frankfurter Rundschau“ (30. Dezember 2022). „War es nicht Karl Lauterbach, der Ende der neunziger Jahre der Politik empfahl, auf ein solches System zu setzen, und organisierte er nicht damals Studienreisen in die USA und nach Australien, um Zweifler zu überzeugen?“, schreibt er weiter. Knieps, heutiger Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbandes, muss es wissen, ist er doch zu Zeiten von Ulla Schmidt Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit.

Fürwahr: Die neuen Fallpauschalen bringen nicht den gewünschten Erfolg. Im Jahre 2009 folgt eine Krankenhausfinanzierungsreform per Gesetz. Rund 3,5 Milliarden Euro fließen zusätzlich in deutsche Kliniken. Die Krankenkassen müssen sich anteilig an der Finanzierung der Lohn- und Gehaltserhöhungen 2008 und 2009 beteiligen. Zudem sieht die Reform ein Programm vor, das die Einstellung von zusätzlichen Pflegekräften fördert. 20.000 neue Stellen verspricht sich die Politik davon.

Es läuft jedoch nicht für die Krankenhäuser, der Ruf nach Geld ist laut: 2013 veröffentlicht die SPD-Bundestagsfraktion als Opposition und pünktlich zum Wahlkampf ein Konzept zur Krankenhausreform. Es geht um Qualität, sektorübergreifende Versorgung, leistungsgerechte und planbare Finanzierung.

 

Ankündigungen – je mehr, desto besser

Heute ist Lauterbach Bundesgesundheitsminister, gibt sich geläutert, und seinen für ihn gesetzten Weg der Entökonomisierung beschreitet er mit großen Schritten weiter. Nicht kleckern, sondern klotzen – vor allem mit Ankündigungen. Detaillierte, evidenzbasierte Begründungen in Verbindung mit einem sachlichen Diskurs sucht man vergebens. Lauterbach steht nun für eine eminenzbasierte ministerielle Politik.

Am 18. Oktober 2022 wird Lauterbach konkreter zu seinem Motto – per Twitter, dem von ihm bevorzugten Medium. 20 Jahre alt sei das DRG-System, „hat die Ökonomisierung der Krankenhäuser zu weit getrieben und muss jetzt durch ein modernes System abgelöst werden“. Intensiv werde jetzt an dieser – „der größten Krankenhausreform seit 20 Jahren“ – gearbeitet. Kostenneutral will er seine Klinik-„Revolution“ gestalten. „Nicht machbar“, hält ihm die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) angesichts eines strukturellen Defizits von 15 Milliarden Euro entgegen – unterstützt vom Krankenhaus-Barometer des Deutschen Krankenhausinstituts, das eine Insolvenzwelle auf die Kliniklandschaft 2023 zurollen sieht.

Mit markigen Sprüchen gibt der Bundesgesundheitsminister doch weiter seine Richtung vor. In der Krankenhausreform gehe es „jetzt zur Sache“ (Twitter, 24. Oktober 2022). Medizin sei eine Fürsorge auf Grundlage der Wissenschaft. „Keine Ware des Kapitalismus.“ Zu viel Ökonomie, zu wenig Medizin gebe es in allen Bereichen, „ob in den Krankenhäusern, durch die Fallpauschalen, bei den Medikamenten, wo es ebenfalls heißt: Hauptsache billig – und jetzt auch bei den Arztpraxen, wo nun billige Massenabfertigung droht.“ (Zeit, 14. Dezember 2022)

Lauterbach verfährt nach dem Prinzip: Ankündigungen – umso mehr, desto besser. Am 20. Oktober 2022 nimmt er sich im Bundestag der Arzneimittelversorgung an hinsichtlich Reform des AMNOG im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Als erstes werde dort ein Problem angegangen. Das hätte über viele Jahre „nie“ gelöst werden können aufgrund des Drucks der Lobbygruppen. Und dann beschreibt Lauterbach, was er meint. In Deutschland sei es möglich, mit Arzneimitteln auf den Markt zu kommen, die keinen gesicherten oder nur einen sehr geringen Zusatznutzen bringen im Vergleich zu bereits erhältlichen Arzneimitteln, „aber trotzdem deutlich mehr – zum Teil 50 Prozent oder sogar 100 Prozent – kosten.“ Lauterbach bezeichnet dies als eine Situation der Übergewinne.

Jetzt geht es den Arzneimittel-Festbeträgen an den Kragen. Die waren nämlich aus des Ministers Sicht in dem Falle wegen des Kostendrucks – und nicht wegen des Lobbydrucks – in Deutschland ausnahmsweise nicht zu hoch, sondern zu niedrig. Das führte zu Lieferengpässen. Lauterbachs Rezept: Entökonomisierung. Die Krankenkassen gehen den Weg für drei Monate mit.

 

Politik gegen Lobbygruppen

Der Minister entdeckt für sich neben der Entökonomisierung eine neue Zielscheibe: die Lobbygruppen. Wer ist das? Die Selbstverwaltungen – gemeinsam und sozial –, Verbände, Beratungsfirmen? Wieder wird im Dunkeln getappt.

Schon vor zehn Jahren wettert Lauterbach dagegen. „Wir machen Politik gegen Lobbygruppen, für den Verbraucher und Patienten.“ Konkret geht es in dem Interview mit dem „ND“ am 8. Juli 2013 mit dem Titel „Keine Angst vor Lobbyisten“ um Arzneimittelpreise. Die wolle er „auf das europäische Durchschnittsmaß begrenzen“. Und dann teilt er mit, was ihn in führender politischer Funktion vorschwebt: „Würde ich Minister, verstünde ich mich nicht als Bittsteller, sondern schaute, was die Menschen brauchen. Ich habe durchaus die Erfahrung gemacht, dass man Politik gegen die Lobbygruppen machen kann.“

Seine Vision hält er ein. Bei der Vorstellung der Vorschläge seitens der Regierungskommission zur Krankenhausreform bringt Lauterbach wieder sein Motto auf die Tagesordnung. „Die Medizin wird wieder in den Vordergrund der Therapie gestellt und folgt nicht der Ökonomie. Die Krankenhäuser haben gravierende Probleme.“ Das Hauptproblem sei die Bezahlung der Kliniken über sogenannte Fallpauschalen. „Egal wie aufwendig der Fall behandelt wird, egal, wo er behandelt wird, ob er gut behandelt wird oder nicht so gut behandelt wird.“ Unterm Strich lohne es sich für Kliniken, möglichst viele Behandlungen auf möglichst billige Weise durchzuführen. „Somit hat man mit diesem System eine Tendenz zu billiger Medizin.“ (Observer Datenbank, Report, 6. Dezember 2022)

Überhaupt sind dem SPD-Mann private Geldgeber – egal, wo – ein Dorn im Auge. Und er ist einem neuen Übeltäter auf der Spur: den privaten Investoren im ambulanten Bereich. Am 14. Dezember gibt er seine Kritik per „Zeit“-Interview zum Besten: „Dringend unterbinden“ wolle er, dass internationale Firmen beispielsweise Praxen in der Zahn-, Augenheilkunde oder in der Dialyse übernehmen würden. „Wir wollen keine Investoren-Medizin“, tönt er. Medizin sei eine Fürsorge auf Grundlage der Wissenschaft. „Keine Ware des Kapitalismus.“ Zu viel Ökonomie, zu wenig Medizin, in den Krankenhäusern, durch Fallpauschalen, bei Medikamenten. „Wir sind zu weit gegangen“, sagt er.

 

Frage nach Finanzierung bleibt unbeantwortet

In drei Bereichen wolle er die Ökonomisierung „sofort durchbrechen“, macht er im Interview der BAMS am Heiligabend 2022 konkret: in Krankenhäusern, bei den Generika-Arzneimitteln und den MVZ. „Versorgungssicherheit muss vorgehen“, betont er. Einen Riegel wolle er davorschieben, dass Investoren „mit absoluter Profitgier“ Arztpraxen aufkaufen. Der fatale Trend sei, dass Investoren medizinische Versorgungszentren mit unterschiedlichen Facharztpraxen aufkaufen, um sie anschließend mit maximalem Gewinn zu betreiben.

Die Praxen müssten denen gehören, die dort tatsächlich arbeiten. Lauterbach: „Dann ist auch Schluss damit, dass ein Promi-Arzt seinen Namen für Dutzende Praxen hergibt, in denen junge Ärzte Hamsterradmedizin mit unnützen Behandlungen in schlechter Qualität betreiben, um absurde Profitziele zu erreichen.“ Lauterbach bringt es auf den Punkt: „Grundsätzlich müssen wir das absurde Gewinn-Konzept im Gesundheitssystem ändern.“

Und am zweiten Weihnachtstag verkündet Lauterbach seinen politischen Vorsatz per Twitter: „Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes Weihnachten. Schon bald kommt das Ende. Weniger Gier, mehr Menschlichkeit braucht unser Gesundheitssystem.“

Löblich, doch wie will er das finanzieren? Wie will er jungen Ärzten die „Work-Life-Balance“ ermöglichen, die sich auch nicht mit hohen Krediten verschulden wollen? Wie stellt Lauterbach die ambulante Versorgung sicher mit Blick auf die zahlreichen Ärzte, die in Rente gehen?

Für die vom Gesundheitsminister geäußerten Vorwürfe gebe es keinerlei Belege, das hat auch ein Gutachten im Auftrag des Gesundheitsministeriums bestätigt, kritisiert Sibylle Stauch-Eckmann, Vorsitzende Bundesverband der Betreiber medizinischer Versorgungszentren. Karl Lauterbach sei als der Minister gestartet, der evidenzbasierte Politik versprochen habe – seine Aussagen würden diesen Anspruch vermissen lassen: „Es ist purer Populismus.“

Die generelle Antwort auf die Frage, wer das alle bezahlen soll, bleibt der Bundesgesundheitsminister schuldig. Auch eine Art der „Entökonomisierung“!

 

Fina Geschonneck

Redaktionsleiterin Observer Gesundheit, Redakteurin Observer Datenbank

 

Prof. Dr. Andreas Lehr

Inhaber und Geschäftsführer Agentur für Gesundheitspolitische Information, Honorarprofessor WiSo-Fakultät, Universität Köln


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