31.07.2018
Elektronische Patientenakten – die wirkliche Revolution des deutschen Gesundheitswesens
Jens Naumann, Geschäftsführung medatixx GmbH & Co. KG
„Digitale Patientenakten“ – kein Interview, keine Tagung, keine Publikation, kein Aufruf im Umfeld der deutschen Gesundheitspolitik kommt derzeit ohne dieses Thema aus. Zu Recht; bergen sie doch das Potenzial für eine wirkliche Revolution des Systems.
Wir erinnern uns: Noch vor kurzem wurde kontrovers darüber diskutiert, ob es sich bei digitalen, patientengeführten Gesundheitsakten um eine vorübergehende Modeerscheinung handele, die man mit Argumenten, wie „Datenschutz“, „Gefährdung des Arzt-Patient-Vertrauensverhältnisses“ oder „nicht nachgewiesenem Nutzen“ aussitzen könne. Diese Phase ist – gottlob – vorbei: Heute beherrscht der Wettbewerb um die Deutungs- und Betreiberhoheit zu digitalen Patientenakten die Szene. Politik, Ärzte, Apotheker, Kassen – gesetzlich, wie privat –, die Pharma- und die MedTech-Industrie, die etablierte Gesundheits-IT-Industrie, Marktforscher, globale Player, wie Apple & Co. und gefühlt unendlich viele Start-ups – sie alle diskutieren heute, dass eAkten in Bezug auf Behandlungstransparenz und Patienten-Compliance Großes bewegen können und die Daten darin das „Gold von morgen“ sind.
Dabei ist das Thema so neu nicht und – näher betrachtet – ein weites Feld: über einrichtungs-, behandler-, fachrichtungsübergreifende elektronische Akten, über Gesundheits-, Fall-, Arzt-, indikationsspezifische und Patienten-akten wird seit vielen Jahren weltweit geforscht und publiziert. Und: In der Regelversorgung etablierte eAktensysteme gibt es anderorts seit langem; sie werden unaufgeregt und selbstverständlich genutzt.
Patient wird vom Objekt zum Subjekt
Die Aufregung – oder Goldgräberstimmung; je nach Lager – bei uns entsteht aus der Erkenntnis, dass „Echtzeit“-Behandlungsdaten in den Händen des Patienten das Potenzial haben, die Kräfte- und Machtverhältnisse in unserem System zu verändern: Mit der Hoheit über seine Daten beschleunigt sich der vielzitierte Wandel des Patienten „vom Objekt zum Subjekt“ in dramatischer Art und Weise. Diagnostik und Therapie werden transparent und vergleichbar; das Netz liefert Zweit-, Dritt- und Viertmeinungen gratis dazu – all dies mit der Folge, dass der Patient immer mehr verstehen möchte, warum, wann etwas geschieht bei der Behandlung seiner Krankheit. Vielleicht möchte er seine Daten sogar verkaufen oder der Forschung spenden.
Bei diesem Thema gilt idealtypisch eine Grunderkenntnis aus der Innovationsforschung: Bei echten Innovationen wird zu Beginn oft die Sofortwirkung überschätzt, die Langzeitwirkung aber dramatisch unterschätzt. Elektronische Patientenakten – zur Vereinfachung sind damit hier digital verfügbare, halbwegs strukturierte Behandlungsdaten aus Praxen und Kliniken in der Hand des Patienten gemeint – haben das Potenzial, Patienten zum aktiven Mitgestalter ihrer Prävention, ihrer Diagnostik, ihrer Therapie und ihrer Rekonvaleszenz werden zu lassen. Die zeit- und ortsunabhängige, behandlerübergreifende Verfügbarkeit dieser Daten ermöglicht dem Patienten, seiner Familie, seinen Dienstleistern und seinen Behandlern eine ungeahnte Transparenz. Viele Patienten werden diese Daten in IT-Systeme einspeisen, die versprechen, dass sie mit Methoden der künstlichen Intelligenz nach der besten Therapie suchen können. Die Ärzte werden sich mit diesen neuen Wettbewerbern um das Vertrauen des Patienten konfrontiert sehen – und Antworten darauf finden müssen, was sie von KI- und big-data-basierter Maschinendiagnostik und -therapie unterscheidet.
Selten war Gesundheits-IT ein solch spannendes und systemrelevantes Thema wie derzeit; nicht nur, weil der amtierende Gesundheitsminister vergleichsweise jung und damit digitalaffin scheint und wohl auch ist. Spannend ist es zu beobachten, wie die unterschiedlichen Player ihre Positionen besetzen und je nach Ausgangsposition Besitzstandswahrung oder Raumgewinne anstreben. Es ist zu begrüßen, dass es gerade die Versicherer sind, die ihren Patienten diese Datenhoheit ermöglichen wollen; wohl wissend, dass ein durch Datenhoheit emanzipierter, aufgeklärter Patient der beste Versorgungsmanager in eigener Sache sein kann.
Vivy und TK Safe – Meilensteine im Gesundheitssystem
Dass im Projekt „vivy“ gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherer bei einem solch strategischen Thema eng zusammenarbeiten, darf getrost als Meilenstein in unserem Gesundheitssystem gelten. Der clevere Ansatz von vivy – der Patient als Multiplikator – kann der Königsweg sein, denn wenn es gelingt, den Patienten dazu zu ermutigen, seine Daten in der Praxis und im Krankenhaus digital einzufordern, wird sich kein Arzt auf Dauer dagegen wehren können; sollte er es überhaupt vorhaben. Die Wahrnehmung ist schon heute im Versorgungsalltag oft eine andere: Die allermeisten Ärzte sind bereit, ihren Patienten deren Bilder, Befunde, Arztbriefe mitzugeben und sie verständlich zu erklären. Dies geschieht heute auf Papier, auf Röntgenfilmen oder Datenträgern, wie DVDs oder USB-Sticks; morgen per Knopfdruck via Internet und eAkte.
Spannend ist auch der Ansatz der Patientenakte der Techniker Krankenkasse „TK Safe“. In dieser App kann der Patient alle Daten anfordern, die im IT-System der TK über seine Behandlungen gespeichert sind. Auch, wenn diese Daten heute noch mindestens sechs Monate alt sind und viele wichtige Behandlungsinformationen nicht beinhalten, weil die TK sie schlichtweg nicht besitzt (und nicht besitzen darf) – allein die Tatsache, dass der Patient plötzlich sieht, welche Leistungen der Arzt für seine Behandlung abgerechnet hat, ist eine kleine Revolution.
Die Reaktion der verfassten Ärzteschaft ließ nicht lange auf sich warten: „Lieber Herr Baas, so bitte nicht!“ überschrieb die KV Westfalen-Lippe ihre Protestnote. Dabei hat der Patient schon seit vielen Jahren einen Rechtsanspruch auf genau diese Daten in Form einer Patientenquittung; ausgedruckt natürlich und damit von keinem Patienten eingefordert. Transparenz schafft neue Herausforderungen; und Digitalisierung ermöglicht diese Transparenz überhaupt erst
Weitere Weichenstellungen des Gesetzgebers – Katalysatoren im TSVG
Für die nächsten Monate sind weitere Weichenstellungen des Gesetzgebers zu Betreiber-, Finanzierungs- und Zugangskonzepten für eAkten, weitere Aktenprojekte von Kostenträgern (und Ärzten, Marktforschern, Pharmaunternehmen, Technologiekonzernen?) und vor allem die Verbreitung von ePatientenakten-Apps auf den Smartphones der Patienten zu erwarten.
Weitere Katalysatoren dieser Entwicklung sehen wir im Referentenentwurf des TSVG (Terminservice- und Versorgungsgesetz): Es sollen die heute im § 291a SGB V festgelegte Trennung von arztgeführter elektronischer Patientenakte (ePA) und des vom Patienten geführten elektronischen Patientenfaches (ePF) aufgehoben werden und die Nutzung der elektronischen Patientenakte in datenschutzrechtlicher und technischer Hinsicht deutlich vereinfacht werden. Dieses Gesetz „befreit“ die ePA von der zwingenden Verwendung eGK-Chipkarte für den Zugriff darauf – und macht sie damit für die breite Masse der Patienten auf Smartphones, Tablets und PCs einfach und mobil verfügbar. Dass Krankenkassen mit dem Gesetz verpflichtet werden sollen, ihren Patienten ab spätestens 2021 eine ePA zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass auch der Gesetzgeber der Ansicht ist, dass die Kasse aus Sicht der allermeisten Patienten genau jene Vertrauensstelle ist, bei der man seine Daten sicher behandelt weiß.
Machtpositionen in Veränderung
Die sich aus der Etablierung der ePA ergebenden Veränderungen von Machtpositionen, von Informations- und Finanzströmen, die Herausforderungen für Datenschutz und Datensicherheit, die Anforderungen an die Digital-Kompetenz der Patienten, Ärzte, Apotheker, der Selbstverwaltung und nicht zuletzt der Politik lassen sich derzeit nur erahnen und prophezeien uns eine der spannendsten Perioden in der Geschichte unseres Gesundheitssystems. Nutzen wir diese Chancen und schaffen wir soweit wie nötig regulatorische Leitplanken für den Weg in das digitalisierte Gesundheitssystem, damit es das bleiben kann, was es heute ist: eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Bald auch digital.
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