Zehn Leitideen für ein langfristig funktionsfähiges Gesundheitssystem 2050

Dr. Michael Sander, Cluster Lead Healthcare der „Zukunft-Fabrik.2050“

Noch ist Argentinien nur eine Mahnung für den drohenden Abstieg Deutschlands. Ein aus dem Kreis der Alumni an der Hochschule St. Gallen hervorgegangener Think Tank – Zukunft-Fabrik.2050 – entwickelt positive realistische Visionen. Es wird für Bereiche wie Staat, Arbeit, Mobilität und auch Gesundheit eine langfristige und aktivistische Perspektive aufgezeigt: Was wollen wir im Jahr 2050 erreicht haben?

Konkret für das Gesundheitswesen werden zehn Leitideen entwickelt. Sie stellen insbesondere auf die Gesundheitsregion als bestimmendes Merkmal der Versorgung der Zukunft ab. Schlüsseltechnologien wie Digitaler Zwilling und KI werden zu umfassenden Standards für die Umsetzung. Die Finanzierung basiert auf einem Capitation-Ansatz im Rahmen der solidarischen Krankenversicherung. Jetzt sind es noch 26 Jahre, um zumindest im Bereich der Gesundheit den Abstieg á la Argentinien zu verhindern.

 

Auslöser: ein Besuch in Argentinien

Im Oktober 2023 bin ich aus rein touristischen Gründen nach Buenos Aires gereist. Völlig unvorbereitet auf das, was ich dort erleben würde, stellte sich sehr schnell die Frage: Ist das, was sich dort entwickelt hat, eine mögliche Zukunft für Deutschland?

Vor 100 Jahren noch war Argentinien eines der reichsten Länder der Welt. Heute ist Argentinien in der OECD das einzige Land, das im Jahr 2024 weniger wachsen wird als Deutschland. (OECD 2024) Einer der Hauptgründe für die Abwärtsspirale sei der sog. Kollektivismus – die Aufgabe der Freiheit und des Kapitalismus zugunsten eines Staates, der alle Aspekte des sozialen und wirtschaftlichen Lebens steuert und reguliert. (Spruk 2019)

Dieses Beispiel eines failed state ist Legitimation und Mahnung genug, sich mit der Zukunft unserer Gesellschaft im Allgemeinen und unseres Gesundheitswesens im Speziellen zu beschäftigten. Aus einer solchen Motivation heraus hat sich seit 2021 die Zukunft-Fabrik.2050 als ein gemeinnütziger Think Tank aus dem Kreis der Alumni der Universität St. Gallen (HSG) gebildet. Heute vereint er über 100 ehrenamtliche Fellows aus unterschiedlichen Berufen und Hochschulen. Das Alleinstellungsmerkmal der Zukunft-Fabrik.2050 ist die langfristige, aktivistische Perspektive: Was wollen wir im Jahr 2050 erreicht haben?

Hierzu entwickelt die Zukunft-Fabrik.2050 in diversen Bereichen, bspw. Staat, Arbeit, Mobilität, positive realistische Visionen. Es soll ein Beitrag dazu geleistet werden, dass sich die Diskussionen auf ein langfristiges und durchdachtes Zielbild konzentrieren und nicht auf Stückwerk. So geschehen eben auch für den Sektor Gesundheitswesen. All dies in der Absicht, dass wir als Gesellschaft nicht dem Weg Argentiniens folgen oder im Bereich Gesundheit nicht in der Kostenexplosion der USA oder in der Mangelverwaltung in Großbritannien enden.

 

Ausgangslage: seit Jens Spahn auf dem richtigen Weg?

Um heute halbwegs sicher beurteilen zu können, ob wenigstens das deutsche Gesundheitswesen weiß, wohin es steuert, ist es sinnvoll, den Blick auf vorgestern zu richten, d.h. auf die Amtszeit von Jens Spahn. Er hat mit Übernahme des BMG im März 2018 das Amt und das Gesundheitswesen in das öffentliche Rampenlicht gerückt.

Wichtige Meilensteine sind 2019 unstreitig das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) [App auf Rezept] oder das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG). Vor allem aber verbindet sich mit seiner Person und dem Amt das Thema Digitalisierung. Und zumindest für diesen Bereich würden sicher auch seine Kritiker ihm zugestehen, dass er so etwas wie eine Vision für die Digitalisierung des Gesundheitswesens als eine Art Masterplan im Kopf hatte. Die Machtübernahme (via TSVG) in der Gematik durch das BMG kann man als gesunden Machiavellismus ansehen, um die bereits im eHealth-Gesetz 2015 beschlossene Einführung der elektronischen Patientenakte (ePa) zum Jahresbeginn 2021 umzusetzen.

Das Digitale ist aber noch nicht das Ganze. Im Gesundheitswesen wird immer noch analog operiert oder rehabilitiert und erst recht analog gepflegt.

Blickt man seit Dezember 2021 auf den Nachfolger Prof. Karl Lauterbach, dann kann man den Eindruck bekommen, dass das Pendel wieder in die andere Richtung geschwungen ist. Digitale Themen stehen nicht mehr so öffentlichkeitswirksam im Vordergrund – vielleicht mit Ausnahme der verpflichtenden Einführung des eRezepts zu Beginn dieses Jahres mit Hilfe des Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (DigiG) und des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG). Das Leib-und-Magen-Thema im BMG scheint aktuell eher die Krankenhausreform (Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz – KHVVG) zu sein.

Parallel hat es dazu mit dem Gesundheitskiosk im Rahmen des Entwurfs zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) und diversen Pflegethemen weitere Weichenstellungen gegeben. Schaut man sich die gesundheitspolitische Halbzeitbilanz in der Ärzte Zeitung an, dann dominiert unter 39 Sachständen „offen“ (11) oder „in Arbeit“ (18). (Halbzeitbilanz 2023)

Eines haben beide Regierungskoalitionen offenbar gemeinsam. Hinterfragt man, wohin diese Weichenstellungen führen, kommen so gut wie nie klare und durchdachte Vorstellungen zum Ziel der Reise. Der Horizont ist eher auf ein oder zwei Jahre ausgerichtet, was gerade so ausreicht, um bspw. die Finanzierung der GKV zu durchdenken.

Ein Big Picture ist dies nicht. Zumal wichtige Einzelphänomene in der Betrachtung selten auftauchen. Wer hatte vor November 2022 das Thema KI wirklich auf dem Radar? Wer hat heute den sich anbahnenden Trend zu Longevity im Blick? Das sind rhetorische Fragen, die aber ihre Berechtigung haben, weil noch nicht einmal das seit vielen Jahren so offensichtliche Thema wie die aktuelle Nachhaltigkeitslücke von 447,8 Prozent des BIP, also die explizite und implizite Verschuldung des Staates i.H.v. EUR 17,3 Billionen (Raffelhüschen 2023) eine Rolle spielt. Würde man sich allein den Auswirkungen dieser Verschuldungslast auf die (Steuer-) Finanzierung des Gesundheitswesens bzw. der gesamten Sozialversicherungssysteme widmen, dann käme man unweigerlich zu dem Schluss, dass ein Durchwursteln mit Lösungshäppchen für jeweils 12, 24 oder 48 Monate verantwortungslos ist.

Zwischenfazit: Mit unserem Gesundheitswesen sind wir nicht auf dem richtigen Weg.

 

Mut zur Utopie

Es ist müßig, noch länger darüber zu diskutieren, warum und wieso wir da gelandet sind, wo wir sind. Die Probleme und ihre Ursachen sind hinlänglich bekannt. Auch der an einer solchen Stelle üblicherweise folgende Spruch „wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“ hilft nicht weiter. Aus dem einfachen Grund, weil gar nicht hinreichend klar ist, was eigentlich umgesetzt werden sollte.

Genau an dieser Stelle ist es erforderlich, sich mit Utopien auseinanderzusetzen. Nicht allein, weil schon Oscar Wilde der Auffassung war: „Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien“ (Wilde 1891). Viel eher noch, weil der Begriff Utopie genau das trifft, was für die Zielbestimmung (gesundheits-) politischen Handelns hilfreich ist. Utopie ist im Englischen phonetisch gleich mit „ou-topos“ – „Nirgend-Ort“ und „eu-topos“ – „Schöner-Ort“. Utopie meint das (scheinbar) Unmögliche und zugleich Erstrebenswerte.

Damit Utopien wirksam werden können, sollten sie echte Bedürfnisse beschreiben, Möglichkeitsräume eröffnen und Komplexität reduzieren; sie dürfen ruhig selektiv ungenau sein. Dadurch helfen sie allen Beteiligten aus dem Diktat der Kurzfristigkeit auszusteigen. Utopien werden somit zu dynamischen Zukunftsbildern – NICHT zu Masterplänen.

Einen solchen Versuch für das Gesundheitswesen haben die zehn Autoren des Health Cluster in der Zukunft-Fabrik.2050 unternommen. (Vgl. zum Folgenden: Sander et al. 2023)

 

Leitideen und Kategorien

Fortschritt und langfristige Finanzierbarkeit von Gesundheit stehen für diese, in zehn Leitideen formulierte „Utopie“ im Mittelpunkt. Ein Anker für alle folgenden Überlegungen ist die Einsicht, dass das Gesundheitssystem sich wegen verschiedener Faktoren – wie beispielsweise seinem Charakter als Daseinsvorsorge und Infrastruktur, hohen Informationsasymmetrien zwischen Anbieter und Nachfrager sowie unserem sozialen Anspruch, dass jeder unabhängig von eigenen finanziellen Mitteln überall gut versorgt wird – nicht gut für rein marktwirtschaftliche Lösungen eignet. Aus diesem Grund hat sich Deutschland seit langem für ein streng reguliertes Gesundheitssystem entschieden, welches sehr hohe Ineffizienzen birgt.

Hier setzen wir für ein langfristiges, durchdachtes Zielbild, ein ganzheitliches Verständnis von einem Gesundheitssystem für das Jahr 2050 an. Mit einem solchen Zielbild lassen sich dann die notwendigen Reformen viel besser entwickeln, begründen und umsetzen.

Die zehn Leitideen bündeln wir in drei Kategorien:

 

Erste Kategorie

Die Gesundheitsregion soll das bestimmende Merkmal der Versorgung der Zukunft sein. Für Deutschland bedeutet dies etwa 80 bis 100 regionale Einheiten. In ihnen übernehmen medizinische Fallmanager die Versorgung vor Ort; weiterentwickelte Gesundheitskioske und Apotheken spielen eine zentrale Rolle, auch bei der Verzahnung von Gesundheits- und Sozialwesen. Die Koordination einer Gesundheitsregion erfolgt durch eine regionale Leitstelle in enger Abstimmung mit den zwei zentralen Maximalversorgern, die jede Region prägen.

 

Abbildung 1 Sander

 

Abb. 1: Leitidee 1 – Die Gesundheitsregion ist das bestimmende Wesensmerkmal der Gesundheitsversorgung in der Zukunft        

 

Warum Gesundheitsregionen?

Soweit zur Idee der Gesundheitsregion. Bei der Begründung folgen wir zwei Prinzipien: Gesundheit ist lokal; Best Practices weisen den Weg. Zum ersteren braucht es keinerlei wissenschaftliche Begründung, sondern nur gesunden Menschenverstand. Eine zentrale Frage ist allenfalls, welchen Radius an Fahrtzeit oder Kilometern man ziehen will, um das Ausmaß einer Region mit Gesundheitsversorgung abzuschätzen. Wenn man von einem Radius von 30 Kilometern bzw. 60 KM-Durchmesser und max. einer Stunde Fahrtzeit ausgeht, dann kann man sich eine realistische geographische Größenordnung einer Gesundheitsregion vorstellen.

Zum zweiten ist es empfehlenswert, sich von der politisierten Diskussion, um Gesundheitsregionen in Deutschland zu lösen. Best Practices bspw. in Israel, Spanien oder den USA belegen die Machbarkeit – ohne allzu viel ideologische Diskussion. Für Israel gilt bspw., dass jeder Bürger Mitglied in einer der vier (Clalit, Leumit, Maccabi und Meuhedet) großen Gesundheitsorganisationen (Health Maintenance Organizations, HMO) ist.

In Spanien wird die ambulante hausärztliche Versorgung zumeist in lokalen und öffentlich getragenen Gesundheitszentren erbracht. Die Ärzte sind angestellt und können innerhalb des zuständigen Gesundheitsgebiets von den Versicherten frei gewählt werden. Sie sind im Regelfall die erste Anlaufstelle und überweisen die Patienten bei Bedarf in die Facharztschiene oder ins Krankenhaus. Aus eigener Anschauung übernimmt insbesondere Katalonien eine Führungsrolle in der Ausgestaltung dieser Ansätze.

Und in den USA darf die altbekannte Erfolgsstory und der Pilgerort aller deutschen Gesundheitspolitiker von Kaiser Permanente herhalten. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine sog. HMO, die in den USA in acht Bundesstaaten plus Washington D.C. über 12 Millionen Menschen mit einer eigenen Krankenversicherung, Krankenhäusern und ambulantem Sektor versorgt.

Insofern ist es in der Sache eigentlich wenig förderlich, über das „Was“ einer Gesundheitsregion zu streiten, sondern viel eher über das „Wie“. Gerade die Grenzziehung von Regionen stößt auf vielfältige lokalpolitische und regionskulturelle Besonderheiten. Eine pragmatische Einschränkung gilt es vermutlich zu akzeptieren. Damit ist der Rahmen des Föderalismus gemeint. Es ist realitätsfern anzunehmen, dass ein solches regionales Konstrukt gegen den Föderalismus umgesetzt werden kann. Mit einer solchen Einschränkung kann man sicherlich leben; vielleicht wird es in 26 Jahren dann auch einen gelebten bundesländer-übergreifenden Pragmatismus geben, wie es bspw. die Region Ulm (Baden-Württemberg) und Neu-Ulm (Bayern) anbietet.

Ein weiteres zentrales Argument für die Gesundheitsregionen liegt in der Standardisierung und Skalierbarkeit. Wenn man sich auf nationaler Ebene – in Verbindung mit dem Capitation-Ansatz – und in Kooperation mit den Ländern für das Instrument Gesundheitsregion entscheiden würde, dann ließen sich die erforderlichen Standards für die Umsetzung gleich einschließen. Das wäre ein entscheidender Multiplikator, um ein solches Konzept überhaupt zu skalieren.

Als Aperçu am Rande in Bezug auf die Anzahl und Größe der Regionen sei vermerkt, dass die Deutsche Bundespost 1992 in ihrem Konzept „Brief 2000“ 83 Briefzentren als regionale Aufteilung für den Postdienst nach der Wiedervereinigung festgelegt hat. Die Schätzung von 80 bis 100 Gesundheitsregionen für die gesamte Bundesrepublik ist auch mit diesem Blick über den Tellerrand nicht willkürlich.

 

Warum Gesundheitskioske?

Neben dem Stichwort Gesundheitsregion ist der Begriff „Gesundheitskiosk“ sicher ebenfalls begründungswürdig. Wir binden diesen Begriff nicht allein an die Bedeutung, wie er aktuell im Gesetzgebungsverfahren definiert ist. Der Begriff „Gesundheitskiosk“ ist eine selten gelungene Wortschöpfung, die bei den Versicherten und Patienten genau das vorherrschende Bedürfnis trifft. Es geht um die fast allseits und allzeit verfügbare Nahversorgung und Lösung der alltäglichen Gesundheitsanliegen – auf dem Land und in der Stadt.

Eine solche ambulante Einrichtung kann entweder in der gesetzgeberisch vorgeschlagenen Form betrieben werden; oder ein Teil der Weiterentwicklung des Apotheken-gestützten Versorgungsangebots sein; oder Einrichtungen meinen, die von nicht-ärztlichen aber medizinisch geschulten Kräften bedient werden. Hier ist auf Grund der technologischen Entwicklung (MedTech und Telemedizin) sehr schnell sehr viel mehr möglich, als der Gesetzgeber gerade vordenken kann.

Und wieder lohnt ein Blick auf Best Practices: medgate hat 2017 in Basel an einem Standort von Novartis sowie in einer Apotheke am Barfüßerplatz sog. Mini Clinics aufgebaut. Hierbei handelt es sich, stark vereinfacht ausgedrückt, um Hightec Tower für Anamnese. Diese ambulanten Anlaufstellen oder Container werden von medizinisch geschultem Personal betrieben und sind gleichzeitig mit telemedizinisch verfügbaren Ärzten verbunden. Patienten können dies mit oder ohne Anmeldung nutzen. Es können bspw. einfache Labortests, EKG, Lungenfunktionstests vor Ort durchgeführt werden. Mit Hilfe der Telebiometriestation, also dem Hightec Tower, können auch Biodaten von der Untersuchungsstation übertragen werden, damit ein ggfs. zugeschalteter Arzt diese Daten und Bilder (bspw. Gehörgang oder Rachen) weiter begutachten kann. Schaut man sich allein die Produktpalette der Firma Higo an, dann ist es beeindruckend, was medtechnologisch ambulant und mobil im Markt verfügbar ist. Solche Mini Clinics unterstützen die Versorgung sowohl auf dem Land als auch an hochfrequenten Standorten wie Apotheken, Bahnhöfen, Einkaufszentren oder Postfilialen. (Vgl. Amelung 2021)

 

Zweite Kategorie

Damit die Gesundheitsregionen überhaupt funktionieren können, sind Standards notwendig. Zentral sind dabei der digitale Zwilling und die künstliche Intelligenz (KI) als Schlüsseltechnologien, um Effizienzsteigerungen und Prävention zu ermöglichen. Neben diesem digitalen Standard braucht es auch einen Versorgungsstandard im Sinne von „digital vor ambulant vor stationär“. Um dies zu ermöglichen, ist eine gesetzliche Normierung von Datenschutz und Datenschatz zwingend erforderlich.

 

Abbildung 2 Sander

 

Abb. 2: Leitidee 5 – Versorgungsstandard – Es gilt der Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“

 

Dritte Kategorie

Finanziert wird das Konzept der Gesundheitsregionen auf der operativen Versorgungsebene durch ein Capitation-Modell und auf der gesellschaftlichen Ebene durch die solidarische Krankenversicherung. Der Staat übernimmt die Finanzierung der regionalen Gesundheitsinfrastruktur aus Steuermitteln. Gesundheits- und Sozialbudgets werden ganzheitlich gedacht.

 

Überblick: zehn Leitideen für ein langfristig funktionsfähiges Gesundheitssystem

  • Die Gesundheitsregion ist das bestimmende Wesensmerkmal der Gesundheitsversorgung in der Zukunft – 2050.
  • Der Gesundheitskiosk sichert die Nahversorgung durch eine Kombination von medizinischem Case Management, Sozialdienst und Apotheken.
  • Die Leitstelle koordiniert die regionale Auslastung der Gesundheitsressourcen inklusive der Maximalversorger.
  • Digitaler Standard – Der digitale Zwilling und die Künstliche Intelligenz sind die wesentlichen Schlüsseltechnologien im Gesundheitswesen.
  • Versorgungsstandard – Es gilt der Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“.
  • Datenstandard – Wir gewährleisten Datenschutz bei gleichzeitiger Hebung des Datenschatzes durch gesetzliche Standardisierung.
  • Innovation wird als Schlüssel für die Steigerung der Qualität in der Gesundheitsversorgung und die Senkung der Gesundheitskosten entfesselt.
  • Neue Berufsbilder und Ausbildungen sind geformt.
  • Finanzierung der Gesundheitsregion – Was zahlt der Patient, was die Versicherung, was der Staat?
  • Das Prinzip Moore-2 bewirkt enorme industrielle Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen.

 

Ausblick: 26 Jahre Zeit

Jetzt allerdings stehen wir doch vor einem Umsetzungsproblem. Vor der Utopie hatten wir noch verneint, dass es ein Umsetzungsproblem gäbe, da wir kein Ziel hatten. Jetzt, wo mit hinreichender Ungenauigkeit klar ist, wohin die Reise des Gesundheitswesens in den nächsten 26 Jahren hingehen könnte, wird klar, dass nicht die Utopie das Problem ist, sondern Betroffene und Beteiligte zu finden, die den Weg zu dem „schönen Ort“ mitgehen wollen und das „(scheinbar) Unmögliche und zugleich Erstrebenswerte“ auch erreichen können.

Die Interessen und Anreizsysteme der Beteiligten, z.B. in den Sektoren des Gesundheitswesens und auch in der Politik sowie den Verbänden, sind nicht so ausgerichtet und angelegt, dass sie einen langfristigen und ganzheitlichen Ansatz verfolgen wollen. Es bräuchte allerdings so etwas wie einen überparteilichen Konsens und ein auf zehn oder fünfzehn Jahre befristetes sowie kontrolliertes Mandat für eine Handlungsagenda und ein handelndes Team.

Jahrzehntelang hatte das Gesundheitsressort stets das Image, man könne damit keine Wahlen gewinnen, sondern nur verlieren. Vielleicht können sich die Parteien der Mitte gerade deshalb auf einen Sonderweg verständigen und ein „intellektuelles Sondervermögen“ als Form politischer Kollaboration entwickeln.

Scheinbar unmöglich? Sicherlich für den Moment schwer vorstellbar. Nur zeigt das eingangs erwähnte Beispiel Argentinien, dass der Abstieg einer ganzen Nation auch für Deutschland ein konkretes Szenario ist. Lassen wir es gar nicht so weit kommen, einen kettensägenden (Gesundheits-) Reformer auf die entscheidungspolitische Bühne zu holen.

Lieber jetzt den Mut zur Utopie, ansonsten stolpern wir wirklich in unsere Zukunft.

 

Literatur:

 

Der Autor wird diese Leitideen auf der DMEA am Mittwoch, 10. April 2024, in Berlin im Rahmen eines Diskussionsbeitrags zur Krankenhausreform vorstellen.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen