Ratlosigkeit angesichts der regionalen Unterschiede

Was sagen Kommissionsbericht, „Deutschlandatlas“ und IW-Regionalstudie zur Gesundheit?

Dr. Robert Paquet

In den vergangenen Wochen beschäftigten sich verschiedene Publikationen mit regionalen Unterschieden der Lebensverhältnisse in Deutschland. Dabei ging es auch um die Themen „Gesundheit und Pflege“. Die präsentierten empirischen Ergebnisse bieten nichts Neues und werden vom brancheninternen Niveau der Diskussion weit in den Schatten gestellt. Aber auch ihre jeweilige Interpretation und Bewertung zeigt sich sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen flau: In ihrem Maßnahmenkatalog hat die Bundesregierung das Themenfeld „Gesundheit und Pflege“ sogar ganz ausgespart. Auch beim Risikostrukturausgleich (RSA) gibt es erhebliche, jedoch schwer erklärliche regionale Unterschiede. Dementsprechend tragen die Reformvorschläge dazu eher den Charakter politischer Kompromisse als konzeptionell überzeugender Lösungen. Das alles verweist auf grundlegende Schwierigkeiten: Aus Datenanalysen und Landkarten lassen sich nicht umstandslos politische Handlungsanweisungen ablesen. Die normativen Begriffe „gleichwertige Lebensverhältnisse“, „Daseinsvorsorge“ und „Mindeststandards“ etc. sind weitgehend offen. Es fehlt auch eine Diskussion zu ihrer politisch-pragmatischen Präzisierung. Schließlich ist oft unklar, wer zum Handeln verpflichtet bzw. berechtigt ist. Das institutionelle Gefüge erscheint (auch verfassungsrechtlich) nicht gerade förderlich für praktikable Lösungen zu sein.

 

Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“

Die Bundesregierung will sich um das Regionale kümmern. Das allein schon ist bei unserem föderalistischen Staatsaufbau bemerkenswert. Dazu wurde bei der letzten Regierungsbildung nicht nur die Zuständigkeit des Innenministeriums auf die sogenannte „Heimat“ ausgeweitet. Im Koalitionsvertrag werden immerhin sechs Mal die „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ beschworen und an prominenter Stelle heißt es: „Die Bundesregierung wird zusammen mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden eine Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ einsetzen, die bis Mitte 2019 konkrete Vorschläge erarbeitet.“ (Randziffern 5495 – 5497) Zwar wurden als besondere Schwerpunkte die problematischen „Kassenkredite“ der Kommunen und die „Altschuldenproblematik kommunaler Wohnungsbauunternehmen“ genannt. Das Themenfeld der Kommission war jedoch ganz breit angelegt.

Vor der Sommerpause hat nun das Bundeskabinett am 10. Juli den pünktlich abgelieferten Bericht der Kommission zur Kenntnis genommen. Das dabei verabschiedete Maßnahmenpaket[1] (mit seinen zwölf Punkten auf knapp acht Seiten) hat wenige Reaktionen ausgelöst. Zu recht. Denn es erschöpft sich weitgehend in bekannten Allgemeinplätzen, wie z.B. „3. Breitband und Mobilfunkt flächendeckend ausbauen“ oder „8. Engagement und Ehrenamt stärken“ etc. Immerhin ist von einigen Kommentatoren doch bemerkt worden, dass das gesamte Themenfeld Gesundheit und Pflege in den beschlossenen Maßnahmen überhaupt nicht vorkommt. Das ist irritierend, weil doch im Bericht der Kommission „Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige Lebensverhältnisse überall“[2] das Thema durchaus nennenswert vertreten ist. In der „Situationsbeschreibung – Gleichwertige Lebensverhältnisse nicht gegeben“ werden unter der Überschrift „Soziale Daseinsvorsorge“ (in der entsprechenden Facharbeitsgruppe 5 hatte das Bundesgesundheitsministerium übrigens den Ko-Vorsitz) z.B. Gesundheitsaspekte explizit und relativ ausführlich einbezogen: Für die Lebensqualität der Menschen vor Ort – so erfährt man dort – hätten „beispielsweise Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Kindergärten“ etc. eine „hohe Bedeutung“ (S. 12). Probleme gebe es schon in den nächsten Jahren, weil viele Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand gehen werden. „Die Anteile von stationärer, ambulanter und familiärer Pflege in den Regionen (seien) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei der Versorgung mit Haus- und Fachärztinnen und -ärzten, Pflege- und Rettungsdiensten sowie Apotheken steht in dünn besiedelten ländlichen Räumen die Erreichbarkeit im Vordergrund.“ (S. 13).

Auch in den „Handlungsempfehlungen“ der Kommission sind Gesundheit und Pflege durchaus vertreten. Dort heißt es: „Gerade bei der Gesundheitsversorgung in ländlichen und strukturschwachen Gebieten wird es darauf ankommen, diese stärker über Sektorengrenzen hinweg zu organisieren und dabei regionale Aspekte wie Erreichbarkeit, digitale Vernetzung oder die Stärkung ehrenamtlicher Angebote in einem Gesamtzusammenhang zu betrachten. Hier ist eine enge Verzahnung der Akteure erforderlich.“ (S. 23) Was das allerdings praktisch bedeuten soll, wird – bis auf sechs spröde „Empfehlungen“ – nicht näher ausgeführt. Stattdessen wird auf „die im Koalitionsvertrag vorgesehene Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur sektorenübergreifenden Versorgung“ hingewiesen. Die habe dazu erste Vorschläge vorgelegt. Das entsprechende „nicht mit der Leitung des BMG abgestimmte“ Eckpunktepapier[3] vom 8. Mai 2019 beeindruckt jedoch auf seinen sechs Seiten mit inhaltlicher Leere. Der einzige erkennbare „Kerngedanke“ besteht darin, dass die Länder künftig in eigener Verantwortung die Krankenhäuser immer weiter für die ambulante Behandlung öffnen dürfen sollen.

In den sechs „Empfehlungen“ zum Thema wird als erstes festgestellt, mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sei man im ambulanten ärztlichen Bereich bereits auf dem richtigen Weg. Dann sollen Telemedizin und „rollende Praxen“ sowie die Prävention genutzt werden um die Versorgung in der Fläche sicherzustellen. Schließlich kommt das Allheilmittel der „Small-is-beautiful“-Fraktion: „Kommunen sollten mehr aktive Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Ausrichtung der pflegerischen Versorgungsangebote vor Ort im Rahmen der Versorgungsverträge erhalten.“ (S. 23). Angesichts der bisherigen Aktivitäten der Kommunen ein ziemlich dreister Anspruch.

Im Bericht der Facharbeitsgruppe werden die erwähnten Empfehlungen auf den Seiten 102-104 etwas weiter ausgeführt. Chancen werden gesehen in den Projekten des Innovationsfonds. Die Länder wollen das Instrument der Sonderbedarfszulassung weiter ausbauen und die „kleinräumigere Planung“ verbessern. Die „Landarztquote“ wird positiv erwogen. Die „Erfahrungen mit den präventiven Hausbesuchen bei älteren Menschen aus den Modellprojekten in den Ländern“ sollen genutzt werden. Und so weiter. Postuliert wird zwar: „Eine Politik, die dem Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilräumen Deutschlands verpflichtet ist, muss deshalb verschiedene gesundheitspolitische Themenfelder zu einer Strategie zusammenführen, die den spezifischen Besonderheiten sowohl der ländlichen Räume als auch der urbanen Ballungsräume gerecht wird.“ (S. 102). Wie diese „Strategie“ aber aussehen soll, wird aus dem „Deutschlandplan“ nicht klarer.

Der ansonsten als durchsetzungsstark geltende Gesundheitsminister Spahn scheint in diesem Projekt jedenfalls keinen Ehrgeiz entwickelt zu haben. Das passt insoweit, als Jens Spahn auch in seinen engsten Zuständigkeitsfeldern weniger an „Strategien“ interessiert ist als an populär wirksamen Einzelmaßnahmen. Der „Deutschlandplan“ musste aber zwangsläufig abstrakt und allgemein bleiben; bis auf die beiden bereits im Koalitionsvertrag genannten Aufgaben in Sachen Altschulden. Insoweit war für die Ambitionen von Spahn bei diesem Geleitzugprojekt vieler Bundesministerien, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände nicht viel herauszuholen.

 

Deutschlandatlas

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch ein Blick in den kurz vor dem „Deutschlandplan“ veröffentlichten „Deutschlandatlas“[4], der vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) und dem Thünen-Institut (Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei) herausgegeben wird. Auch dort geht es um das Thema Gesundheit[5]. Zusammengestellt sind im Atlas Karten zu den Strukturunterschieden, in der Regel regionalisiert auf das Gebiet von Landkreisen und kreisfreien Städten. Betrachtet werden über 50 Indikatoren, von der Flächennutzung und Bevölkerungsdichte über die Breitbandversorgung und die Erreichbarkeit von Lebensmittelläden bis hin zur Häufigkeit von Wohnungseinbrüchen. Die Herausgeber versprechen: „Die vorliegende Kartensammlung ist nicht abschließend. Sie kann und wird erweitert werden.“ Die verantwortlichen MinisterInnen (Seehofer, Klöckner und Giffey) erklären in ihrem Vorwort: „Die Muster der Ungleichverteilungen variieren. … Wenn wir verhindern wollen, dass Regionen abgehängt werden, müssen wir daher heute die Kehrtwende zu einer aktiven Strukturpolitik vollziehen.“

Für den Atlas wurde einige Substanz zusammengetragen, und bunte Karten kommen immer gut an. Die jeweiligen Texte dazu werden als „Lesehilfen“ bezeichnet und halten sich in ihren Wertungen wohltuend zurück. Immerhin ist „Unsere Gesundheitsversorgung“ dabei mit neun Indikatoren und damit rund einem Sechstel des Gesamtwerks vertreten. Dargestellt werden z.B. (mit einem Auszug aus den Kurzkommentaren)

  • die Erreichbarkeit von Hausärzten: „Im Mittel kann in Deutschland eine Hausarztpraxis mit dem Auto in 6 Minuten erreicht werden. 87 Prozent der Bevölkerung kann den nächsten Hausarzt mit dem Pkw in maximal 5 Minuten Fahrzeit erreichen, 11 Prozent benötigen zwischen 5 und 10 Minuten….“ (S. 76)
  • die Erreichbarkeit von Krankenhäusern der Grundversorgung: „Im Mittel lässt sich in Deutschland das nächste Krankenhaus der Grundversorgung in 16 Minuten mit dem Pkw erreichen. Für etwa 78 Prozent der Bevölkerung sind es maximal 15 Minuten, für weitere 14 Prozent maximal 20 Minuten mit dem Pkw, die verbleibenden 3 Prozent benötigen mehr als 20 Minuten… Insgesamt zeigt die regionalisierte Betrachtung ein relativ ausgewogenes Muster. … Die größten Lücken zeigen sich in ländlichen Randgebieten insbesondere der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Bayern.“ (S. 80)
  • die Erreichbarkeit von Apotheken: „Im Mittel kann die nächste Apotheke in Deutschland mit dem Pkw in 7 Minuten erreicht werden. … In wenigen ländlichen Regionen sind Fahrzeiten von über 15 Minuten notwendig, regional gehäuft ist das in dünn besiedelten Regionen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und dem nördlichen Sachsen-Anhalt sowie entlang der Südgrenze Bayerns der Fall.“ (S. 84)
  • die stationäre Pflege: „Ein Vergleich der Verteilung von ambulanter Pflege und stationärer Pflege zeigt, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen tendenziell eher ambulante als stationäre Pflege wahrgenommen wird und umgekehrt.“ (S. 90)

Dabei ist die Auswahl der Indikatoren nicht problemorientiert, sondern zeigt eher spielerisch was man machen kann. Auch technisch bleiben die Herausgeber weit hinter den Möglichkeiten der verschiedenen öffentlichen Datenquellen zurück. Im Bereich der GKV gibt es weit ausgefeiltere und im Hinblick auf politische Entscheidungen konzipierte Auswertungen[6]. Die Zurückhaltung in der Darstellung, aber vor allem in der Kommentierung der aufgezeigten Unterschiede dürfte dabei einen einfachen Grund haben: Es fehlen die Maßstäbe zur Bewertung.

 

„Spatial Turn“ und der Regionalfaktor im RSA

Das Problem der Einordnung bzw. des „Framing“ zeigt sich auch in einem anderen Bereich der aktuellen Gesundheitspolitik. Auch der Versuch, die Bedeutung der Regionalität für den Risikostrukturausgleich (RSA) einzufangen, zeigt das Bewertungs-Dilemma: Man sieht die regionalen Unterschiede und findet dazu immer mehr Daten. Die damit aufgeworfenen Fragen sind jedoch normativ. Die Erkenntnis, dass ein Faktor wichtig ist, führt noch nicht zu einer überzeugenden Lösung für die Einbeziehung in ein Ausgleichssystem.

Seit etwa anderthalb Jahrzehnten ist auch in der gesundheitswissenschaftlichen und -politischen Diskussion (zunehmend) eine Art „spatial turn“ zu verzeichnen[7]. Eine Entwicklung, die die anderen Sozialwissenschaften schon länger ergriffen hat. Das zunehmende Interesse an der räumlichen Dimension der Versorgung und Finanzierung drückt sich seitdem in einer wachsenden Zahl von Studien zu diesen Aspekten aus. Im Zusammenhang mit dem RSA sollen hier nur exemplarisch die beiden im Auftrag der bayerischen Staatsregierung erstellten Gutachten zu den regionalen Kostenstrukturen und Deckungsbeiträgen angesprochen werden[8]. Die Fülle der Literatur zeigt regelmäßig bemerkenswerte regionale Unterschiede, die sich jedoch nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Außerdem variieren sie im Laufe der Zeit, wie sich in dem jüngeren der erwähnten Gutachten zeigt: in den drei untersuchten Jahren schwanken die Deckungsquoten der bayerischen Landkreise durchaus mit Vorzeichenwechsel.

Auch das Regionalgutachten des RSA-Beirats[9] zeigt, dass die Region als Faktor finanziell und für den Wettbewerb der Kassen relevant ist. Einen wirklich regierenden Faktor für die Variationen bekommt jedoch auch dieses Gutachten nicht zu packen[10]. Das war vor allem für die Ersatzkassen enttäuschend, die ursprünglich darauf gesetzt hatten, dass sich die regionalen Angebotsfaktoren als bestimmende Größe für die Unterschiede nachweisen ließen. War doch die Hoffnung, dass sich für die vorwiegend städtische Klientel dieser Kassen eine Angebotsinduktion für die Inanspruchnahme zeigen lässt. Das war jedoch nicht der Fall. Außerdem gibt es prominente (und irritierende) Einzelbeispiele von Großstädten mit ausgeglichenen bzw. günstigen Deckungsbeiträgen (Frankfurt am Main, Bremen) und ländliche Regionen mit Unterdeckung (Mecklenburg-Vorpommern).

Der RSA-Beirat hat sich daher mit einem breit angelegten Suchprozess beholfen und schließlich einen unter den Gutachtern konsensfähigen Kompromiss gefunden. Das FKG ist auch hier dem Beirat gefolgt: „Der RSA wird um eine Regionalkomponente erweitert. Hierfür werden regionale Variablen (wie z. B. der Anteil der ambulant Pflegebedürftigen in einer Region) in den RSA einbezogen, die einen hohen statistischen Erklärungsgehalt für die regionalen Deckungsbeitragsunterschiede aufweisen. Regionale kassenbezogene Über- und Unterdeckungen werden dadurch abgebaut und im Ergebnis gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Krankenkassen geschaffen. Zudem kann Marktkonzentrationsprozessen vorgebeugt werden, die sich in einigen Bundesländern abzeichnen. Im Gegensatz zu einem regionalen Ist-Kostenausgleich (Kreismodell) bleiben in einem Modell mit regionalen Variablen Wirtschaftlichkeitsanreize erhalten. Angebotsorientierte Faktoren (wie Arztdichte, Krankenhausbettenzahl) werden nicht in den Ausgleich einbezogen, um Fehlanreize im Hinblick auf die Verstetigung von Über- und Unterversorgung zu vermeiden“[11].

Politisch könnte damit zwar ein Lösungsweg gebahnt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Erklärung in der Sache bleibt der Kompromiss jedoch unbefriedigend. Außer dass die Ursachen der gefundenen Unterschiede multifaktoriell und komplex sind, weiß man immer noch nicht genug bzw. in Wirklichkeit nicht viel.

Das gilt erst recht für die Bewertung: Sie ist für fast alle festgestellten regionalen Unterschiede oft schon ein Streitpunkt: Ist die Bevölkerungsdichte zwischen Düsseldorf und Dortmund ein Vorteil oder Nachteil, einschließlich der Überversorgung mit Krankenhäusern bei gleichzeitig insuffizienter Versorgungsstruktur? Welche Kompensationsbeziehungen gibt es zwischen regionalen Vor- und Nachteilen? Welche verbleibenden Unterschiede müssen/sollen (vom wem?) ausgeglichen werden? Können wir uns das leisten?

Was sind Mindeststandards? Wieviel Zentralisierung ist nötig (um beispielsweise in Krankenhäusern die zur Sicherung der Qualität erforderlichen Mindestmengen zu erreichen)? Und wieviel Regionalität (z.B. „flächendeckende“ Notfallversorgung) ist erreichbar? Wer ist für die Ausgewogenheit von zentraler und dezentraler Versorgung verantwortlich? Wie sollen dafür mittel- und langfristig (jenseits der jeweils aktuellen gefühlten Benachteiligungen) die Maßstäbe bestimmt werden?

Ähnlich wie in der Bildungs- und vor allem in der Schulpolitik zeigt sich auch in der Gesundheitspolitik, dass die Konstruktion bzw. Zuständigkeitszuweisung, die uns das Grundgesetz vor 70 Jahren beschert hat, der modernen Entwicklung nicht mehr gewachsen ist. Eine Diskussion um eine Neuordnung des Föderalismus ist allerdings nicht in Sicht.

 

Die Regionalstudie des IW

Einige der angeführten Fragen greift die am 8. August vorgestellte Regionalstudie des IW auf[12]. Betrachtet werden dort auch der „normative Rahmen für die Regionalpolitik“ (Kapitel 2) und die „verfassungsrechtlichen Grundlagen der Regionalpolitik in Deutschland“ (Kapitel 3).

Im Grundgesetz war ursprünglich von der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ die Rede. „Bei der Verfassungsreform 1994 wurde diese Formulierung durch „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ ersetzt“ (Art. 72 Abs. 2 GG). Beides – Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit – seien mehrfach unbestimmte Rechtsbegriffe (S. 276). Die Autoren des verfassungsrechtlichen Kapitels kommen zu dem folgenden Ergebnis[13]: „Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse verlangt eine Angleichung der unterschiedlichen Lebensniveaus in Deutschland, jedoch unter möglichst weitgehender Erhaltung der identitätsbestimmenden sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Eigenheiten der Regionen. … Aus dem Grundgesetz ergibt sich kein allgemeines Staatsziel und mithin kein normativ verbindlicher („obligatorischer“) allgemeiner Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Dies gilt auch für die ganz überwiegende Zahl der Landesverfassungen. … Lediglich vier Landesverfassungen (Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen) enthalten ein allgemeines Staatsziel „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“, welches die Landesstaatsgewalten verpflichtet, im Interesse einer gerechten Ressourcenverteilung tätig zu werden, ohne dabei jedoch die Einzelheiten (insbesondere Mittel, Schwerpunkte, Zeithorizonte und dergleichen) der Zielverwirklichung vorzugeben.“ (S. 63). Und als Fazit: „Bund, Länder und Gemeinden können im Rahmen ihrer jeweiligen, ihnen vom Grundgesetz und der jeweiligen Landesverfassung zugewiesenen Kompetenzen zur Umsetzung des Gleichwertigkeitsziels tätig werden. Ihnen kommt hierbei ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu.“ (ebenda).

Zum „normativen Rahmen“ wird festgestellt: „Wenn Unterschiede in der Ausstattung mit öffentlichen Gütern und kommunalen Leistungen zwischen verschiedenen Regionen gesellschaftlich als zu groß angesehen werden, leiten sich daraus regionale Umverteilungsansprüche ab.“ (S. 38). Für eine entsprechende Regionalpolitik bleibt jedoch ein „weiter Interpretationsspielraum“ (S. 39). Praktisch läuft das vor allem auf die Gewährleistung von Mindeststandards hinaus. „Die Konkretisierung dieser Mindeststandards ist jedoch alles andere als trivial und naturgemäß politisch umstritten.“ (ebenda) Außerdem sollten sie – nach der ökonomischen Theorie des Föderalismus – keineswegs einheitlich sein. „Die Entscheidung über die Ausgestaltung der Mindeststandards sollte vor allem vor Ort getroffen werden.“ (S. 40). Auf lokaler Ebene könnte es sehr „unterschiedliche Lösungen für die Bereitstellung von Infrastruktur“ geben (S. 46). Im ihrem Fazit resümieren die Autoren: „Mindeststandards in Kombination mit Freiheiten in der Umsetzung und Anreizen zur Eigeninitiative stellen daher eine Kompromisslösung dar, die sowohl die Interessen der Geber- als auch der Nehmerkommunen sowie der übergeordneten und zusätzlich finanzierenden Gebietskörperschaften berücksichtigen. … Die Überlegungen dieses Kapitels verdeutlichen, dass eine einheitliche, universell einsetzbare Regionalpolitik nicht durchführbar ist.“ (S. 44f.) An anderer Stelle heißt es: „Das Ziel der Regionalpolitik bleibt trotz aller Erwägungen unscharf.“ (S. 276).

Eine wichtige Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Daseinsvorsorge zu (S. 277 bzw. Kapitel 4). Dort weisen die Autoren u.a. darauf hin, dass dieser Begriff noch Anfang der 1990er Jahre in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt war. Bis heute fehle „ein differenziertes Konzept“ genauso „wie eine eindeutige Zuordnung von konkreten Diensten und Leistungen zur öffentlichen Daseinsvorsorge“. Der Begriff bleibe „unscharf und vieldeutig, mit den damit verbundenen Stärken und Schwächen“ (S. 68). Am deutlichsten spreche noch das Raumordnungsgesetz (ROG): Danach sei „Daseinsvorsorge die flächendeckende Versorgung mit vom Gesetzgeber als lebensnotwendig eingestuften Gütern und Dienstleistungen zu sozial verträglichen Preisen und mit angemessener Erreichbarkeit“ (S. 68f.). Im Ergebnis gehe es also „um räumliche Gerechtigkeit unter dem Leitbild der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 ROG)“. (S. 69). Also eine etwas zirkuläre Erklärung.

Interessant ist dabei der Hinweis, dass angesichts der „Vielfalt und Komplexität in der Daseinsvorsorge“ das „Rollenverständnis, das unser Bild von Daseinsvorsorge traditionell prägt: Der Staat trägt Verantwortung und erbringt die Leistung, die Bürger sind Leistungsempfänger“, nicht mehr trägt. Der Staat und die Kommunen seien nur in Teilen und Teilbereichen Leistungserbringer. In vielen Bereichen handele der Staat nur als „Gewährleistungsstaat“, indem er die von Dritten erbrachten Leistungen im Sinne des Gemeinwohls sichert oder reguliert (S. 75f.). Es gehe also um ein „erweitertes Verständnis von Daseinsvorsorge“ (S. 76). Am Ende resümieren die Autoren: Neben „die räumliche Vielfalt und Uneindeutigkeit“ treten eine „Unschärfe der Daseinsvorsorge und eine Unübersichtlichkeit bei der Erbringung“ (S. 78).

Vor diesem Hintergrund findet sich auch in der IW-Regionalstudie ein Kapitel zur „Ärztlichen Versorgung in den Regionen“ (Kapitel 14). Zustimmen kann man den Autoren sicher bei der Feststellung: „Im Rahmen der Daseinsvorsorge ist das Ziel einer ausreichenden medizinischen Ressourcenausstattung unumstritten“. (S. 252). Allerdings kommen sie zu dem Schluss: „Die Aussagekraft des Indikators Ärztedichte ist beschränkt. Zum einen schwankt er mit der Bevölkerungsentwicklung, zum anderen bleibt die Qualität der medizinischen Versorgung außer Acht.“ (S. 262). „Die empirischen Ergebnisse nähren Zweifel an der öffentlichen Wahrnehmung einer zunehmend ausgedünnten medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten“ (S. 261). Auch das Vorurteil eines pauschalen West-Ost-Gefälles der Versorgung bestätigt sich nicht (S. 255).

 

Was heißt das alles?

Die (kritische) Betrachtung der drei neueren Veröffentlichungen ist kein Plädoyer fürs Nichts-Tun. Man sollte aber nicht glauben, aus den empirischen Analysen fielen politische Handlungsanweisungen heraus. Man müsste nur noch mehr Daten einbeziehen und die Kartenwerke ordentlich schütteln. Im Gegenteil: Die Probleme liegen eher im Politischen selbst, d.h. in den unbestimmten Rechtsbegriffen, in der Unklarheit der Normen und in der Frage wer für welche Ziele zuständig und handlungsberechtigt ist.

Außerdem fällt auf, dass bei (fast) allen neueren Veröffentlichungen ein Aspekt ganz unberücksichtigt bleibt, der eigentlich zur methodischen Standarddiskussion gehört: Er trägt den seltsamen Namen MAUP. „MAUP ist ein englisches Akronym für modifiable areal unit problem und beschreibt eine potentielle Fehlerquelle bei räumlichen Analysen, wenn diese aggregierte Daten … nutzen. Unterschiedliche Felder in der Humangeographie und Landschaftsökologie sind von diesem Problem betroffen … . Es ist verwandt mit der ecological fallacy (Ökologischer Trugschluss), die fälschlicherweise räumliche homogen vorliegende Daten annimmt …“ (WIKIPEDIA[14]). Mit anderen Worten: in den Darstellungen und Analysen werden fast immer die gerade aktuellen politischen Regionsgrenzen (also Länder, Kreise, Planungsregionen etc.) zugrunde gelegt. Die Versorgung und Inanspruchnahme (nicht nur) von Gesundheitsleistungen schert sich jedoch wenig z.B. um Kreisgrenzen[15]. Wenn andere Raumabgrenzungen maßgeblich wären, käme man folglich auch zu anderen Einschätzungen hinsichtlich der Versorgungsgrade bzw. von Über- und Unterversorgung. Die Ergebnisse würden zwar nicht völlig auf den Kopf gestellt, die Abweichungen wären aber merklich. Das Phänomen dürfte jedem politisch Interessierten aus der Diskussion um Wahlkreis –Zuschnitte (und die entsprechenden Erfolgschancen der Direktkandidaten) bekannt sein.

Auch aus diesem Grund sollte man skeptisch gegenüber allen schrillen Klagen über Benachteiligungen sein, die sofort ausgeglichen werden sollten. Stattdessen sind in Sachen Handlungsbedarf Nüchternheit und Sorgfalt angesagt. Die Vorsicht und Vagheit der Bundesregierung zu den Kommissions-Ergebnissen ist daher durchaus verständlich und berechtigt. Wenn auch sicher enttäuschend für diejenigen, die sich schlechter gestellt fühlen und auf schnell umsetzbare Handlungsanweisungen aus den Studien gehofft hatten.

 

[1] Download von: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gleichwertige-lebensverhaeltnisse/gleichwertige-lebensverhaeltnisse-node.html

[2] Unser Plan für Deutschland, BMI https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/heimat-integration/gleichwertige-lebensverhaeltnisse/schlussfolgerungen-kom-gl.html;jsessionid=FF6EA6A3904BEE37CC7F82D552E1C526.1_cid295

[3] Arbeitsentwurf für ein Eckpunktepapier der Bund-Länder-AG „sektoren-übergreifende Versorgung“ zur Vorbereitung der Sitzung auf Leitungsebene am 8. Mai 2019.

[4] https://heimat.bund.de/static/downloads/Deutschlandatlas_Download_Version.pdf

[5] Genutzt wird dabei das Datenmaterial, das dem (ausführlicheren) Raumordnungsberichts der Bundesregierung zugrunde liegt. Siehe beispielhaft „Unterrichtung durch die Bundesregierung. Raumordnungsbericht 2017“, Bundestags-Drs. 18/13700, S. 95 – 110.

[6] Z.B. im Zusammenhang mit dem RSA: Drösler, S. et al. (2018): Gutachten zu den regionalen Verteilungswirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, Bonn. Oder zur kassenärztlichen Bedarfsplanung: Prof. Dr. Leonie Sundmacher et al.: Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung, Endbericht der Gutachter für den Gemeinsamen Bundesausschuss, Berlin, April 2018.

[7] Karl Schlögel: „Im Raume lesen wir die Zeit – Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“, München/Wien 2013, S. 60ff.

[8] Ulrich V. und Wille E. (2014): Zur Berücksichtigung einer regionalen Komponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi‐RSA). Endbericht für das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. Ulrich V., Wille E. und Thüsing G. (2016): Die Notwendigkeit einer regionalen Komponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich unter wettbewerbspolitischen und regionalen Aspekten. Gutachten für das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP).

[9] Drösler, S. et al. (2018): Gutachten zu den regionalen Verteilungswirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, Bonn.

[10] Siehe auch meine (kritische) Besprechung: Robert Paquet: „RSA Regionalgutachten 2018 – Gefangen in der eingespielten Logik“ – Observer Gesundheit vom 23.08.2018.

[11] Bundesministerium für Gesundheit: „Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs und des Organisationsrechts“, März 2019.

[12] Michael Hüther/Jens Südekum/Michael Voigtländer (Hrsg.): „Die Zukunft der Regionen in Deutschland – Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit“, IW-Studien – Schriften zur Wirtschaftspolitik aus dem Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 2019. Download über: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Externe_Studien/2019/IW-Regionalstudie_2019.pdf

[13] Alle Hervorhebungen in den folgenden Zitaten: R. Paquet.

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/MAUP, abgerufen am 12. August 2019, 15.45 Uhr

[15] Man denke nur an die Doppelstadt Mannheim und Ludwigshafen oder die „Mitversorgungsfunktion“ von Hamburg für Schleswig-Holstein oder von Berlin für Brandenburg etc.


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