Wieder angstfrei zum Arzt gehen

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

Aktuell mehren sich die Hinweise aus der ambulanten und stationären Versorgung, dass viele Patientinnen und Patienten aus Sorge vor einer COVID-19-Infektion Arztbesuche verschoben haben. Hier dürften in Kürze erhebliche Nachwirkungen dieser Unterschätzung konkurrierender Gesundheitsrisiken zu sehen sein. Es ist wichtig, die Relationen im Auge zu haben: Laut Robert-Koch-Institut (RKI) gab es am 5. Mai 2020 nur noch rund 22.000 aktiv COVID-19-Infizierte. Zum Vergleich: An einem normalen Tag werden rund 3,9 Millionen Menschen in der vertragsärztlichen Versorgung behandelt. Von diesen sind ein Drittel älter als 75 Jahre, über die Hälfte davon leiden an mindestens einer oder mehreren aufwändig längerfristig behandlungsbedürftigen oder chronischen Krankheiten. Eine geordnete Rückkehr zur Normalität unter Wahrung besonderer Vorsichts- und Hygienestandards ist im Gesundheitswesen daher eine medizinische Notwendigkeit.

Die Rückkehr zur Normalität erfordert jedoch organisatorische Voraussetzungen in der Versorgung. Wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung in ihrem Konzeptpapier „Back to Life“ spricht sich das Zi gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) dafür aus, die medizinische Versorgung konsequent in drei Stränge zu teilen: (1) Patienten mit allgemeinen Behandlungsanlässen ohne Verdacht auf eine COVID-19-Infektion, (2) Patienten mit einem Verdacht auf eine COVID-19-Infektion oder in Quarantäne als Kontaktperson und (3) solche mit bestätigter COVID-19-Infektion.

 

Ziel: Vermeidung von nosokomialen Infektionen

Letztere müssen im Einklang mit den jeweils geltenden Quarantänebestimmungen während der Infektionsphase täglich engmaschig und eventuell auch telemedizinisch kontrolliert werden, um schwere Verläufe auszuschließen. Patienten mit Infekt-Symptomen sollten konsequent nur in Infekt-Sprechstunden oder besonderen COVID-Praxen behandelt werden, um das Übertragungsrisiko auf andere Patienten zu minimieren. Auf diese Weise kann die normale Regelversorgung für das Gros der Patienten wiederaufgenommen werden. Eine vergleichbare Dreiteilung sollte in der fachärztlichen und stationären Versorgung vorgenommen werden. Diese organisatorischen Maßnahmen müssen von einer konsequenten Teststrategie für Beschäftigte im Gesundheitswesen und besondere Risikopopulationen, etwa Personen in Pflegeheimen, begleitet werden. Ziel muss es sein, nosokomiale Infektionen zu vermeiden und eventuell wieder entstehende Infektionscluster insbesondere bei Hochrisikopatienten unmittelbar zu erkennen.

An dieser Stelle müssen die Anstrengungen der Kassenärztlichen Vereinigungen hervorgehoben werden, die anfänglich bestehenden Engpässe bei der Versorgung mit Schutzausrüstung zu überwinden und die Versorgung entsprechend den oben genannten Gesichtspunkten zu gliedern, so dass in der vertragsärztlichen Versorgung heute die entsprechenden Voraussetzungen weitestgehend bestehen. Die Laborkapazitäten von mehr als 800.000 PCR-Tests wöchentlich würden mit entsprechenden Pooling-Maßnahmen im derzeitigen Pandemieverlauf ausreichen, da das Infektionsgeschehen mittlerweile in rund 40 Prozent aller Landkreise praktisch zum Erliegen gekommen ist. Bleibt es beim derzeitigen Verlauf mit unter 1.000 Neuinfektionen täglich und einer Reproduktionszahl (Rt) unter 1, wird die Pandemie langsam auslaufen.

In der politischen Diskussion überwiegt trotz der wirtschaftspolitischen Notwendigkeit einer Lockerung der Kontaktbeschränkungen vielfach die Sorge vor einer zweiten Infektionswelle und einer potenziell daraus entstehenden Überforderung des Gesundheitswesens. Relevant würde dies erstmals bei einem Anstieg von Rt auf Werte >1. Allerdings wäre dies per se noch kein Grund zur Panik. Es kommt darauf an, wann die Belastungsgrenze des Gesundheitswesens erreicht wäre. Auch die aktuell festgelegte Obergrenze von Neuinfektionen kann Probleme bereiten: Entweder liegt sie zu niedrig, um eine Rückkehr zur Normalität zuzulassen oder sie signalisiert trügerische Sicherheit, wenn unberücksichtigt bleibt, mit welcher Geschwindigkeit man sich ihr nähert.

 

Frühindikator des Zi als Antwort auf Verwirrung

Angesichts der Verwirrung, an welchen Indikatoren sich die Politik bei ihren Entscheidungen zum Pandemie-Management orientieren soll, hat das Zi einen Frühindikator vorgelegt, mit dem die Komplexität des Pandemiegeschehens in einen Zeitraum umgerechnet wird, der der Politik für ein angemessenes Handeln verbleibt. Wir nennen dies die Vorwarnzeit. Sie beschreibt bei gegebenem Pandemiegeschehen zu einem Stichtag die Anzahl verbleibender Tage bis rechnerisch die Überforderungsgrenze des Gesundheitswesens erreicht würde. Hier fließt eine Vielzahl von Werten ein. Dazu gehören: Der Anteil der gemeldeten Fälle, die bei gegebener Teststrategie einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen, deren Verweildauer auf der Intensivstation, die tägliche Veränderung gemeldeter Fälle und die Reproduktionszahl Rt. Berücksichtigt man, dass aufgrund von Verzögerungen bei der Erfassung von Fällen, für Beschlüsse von Maßnahmen und für deren Wirkung auf das Pandemiegeschehen noch ein Zeitraum bis zur erwünschten „Bremswirkung“ abgezogen werden muss, den wir auf etwa 21 Tage schätzen, verbleibt eine effektive Vorwarnzeit.

Am 6. Mai 2020 hätte diese Vorwarnzeit bei einem (hypothetischen) R-Wert zwischen 1,1 und 1,3 bei 78 bis 298 Tagen gelegen. Faktisch lag Rt am 6. Mai2020 bei 0,66. Kritisch wäre am 6. Mai2020 ein Wert R> 1,5 gewesen. In diesem Fall hätte die effektive Vorwarnzeit nur noch 23 Tage betragen. Relevant wird der Indikator Vorwarnzeit immer erst bei einer Zunahme des Infektionsgeschehens, also Rt > 1.

Aktuell sieht die Politik die Interventionsgrenze bei 50 Neuinfektionen pro Woche je 100.000 Einwohner in einem Kreis oder kreisfreien Stadt. Im Vergleich dazu liegt die von uns ermittelte rechnerische Belastungsgrenze des Gesundheitswesens bei 137 Neuinfektionen. Damit besteht zwar offenkundig eine Sicherheitsmarge. Unser Indikator könnte aber helfen, den Handlungsbedarf präziser zu erfassen, um im Falle einer potenziellen zweiten Welle mit Augenmaß über Maßnahmen zu entscheiden. Das Zi wird den Indikator weiterentwickeln, regionalisieren und täglich aktualisieren, damit er im Bedarfsfall zur Verfügung steht.

Im Ergebnis kommen wir zu dem Schluss, dass aktuell die Voraussetzungen für eine Rückkehr zur normalen medizinischen Versorgung bestehen – dies müssen die Versicherten jetzt auch erfahren, um davon profitieren zu können.


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