18.03.2019
Wettbewerb und Vorgaben des Preises beißen sich
Wieviel wiegt das unternehmerische Risiko bei Pflegeeinrichtungen? Neue Studien des IEGUS zeigen Fallstricke auf
Fina Geschonneck
Thomas Meißner
„Pflegeeinrichtungen sollen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und Maßstäben geführt werden. Am Ende braucht jede Unternehmung, die sich im Wettbewerb bewähren soll, schwarze Zahlen. Das unternehmerische Risiko muss honoriert, Investitionen müssen gestemmt, Zukunftsplanung muss betrieben werden.“[1] Diese Sätze stammen aus der Feder von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Doch wie soll das gelingen bei den gesetzlichen Vorgaben von tariflicher Bezahlung des Personals und ihrer Ausstattung, wachsenden Qualitätsanforderungen – und das alles bei keiner freien Preisbildung. Zwei Studien des Institutes für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft (IEGUS) über das unternehmerische Wagnis in der stationären und ambulanten Pflege haben versucht, Licht ins Dunkel unternehmerisches Risiko zu bringen und es zu bestimmen.[2]
14.480 Pflegeheime und 14.050 ambulante Pflegedienste gibt es laut Statistischem Bundesamt 2017.[3] Die überwiegende Zahl der Pflegeheime befindet sich 2017 in privater (6.167) und freigemeinnütziger Trägerschaft (7.631). Gerade mal 682 Einrichtungen sind in öffentlicher Trägerschaft.[4] Bei den ambulanten Pflegediensten überwiegt die Zahl der privaten Träger mit mehr als 9.240 und lediglich 192 öffentlichen Betreibern.[5]
Fast alle Einrichtungen finanzieren sich aus vier Säulen: der Pflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Sozialhilfe und den Selbstzahlern. Sie bieten ihre Leistungen auf Grundlage mehrerer Sozialgesetzbücher an: SGB V für die häusliche Krankenpflege bzw. Behandlungspflege sowie SGB XI. Hinzu kommen Leistungen, die vom Sozialhilfeträger bzw. vom Pflegebedürftigen selbst bezahlt werden. Und sie alle haben bei Verhandlungen mit den Kostenträgern vor allem im Blick: Wie hoch ist das unternehmerische Risiko und wie geht man damit um?
Was heißt angemessene Vergütung?
Auslöser der Diskussion ist die neue Fassung des § 84 Abs. 2 im SGB XI – durch das dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III) festgeschrieben, das seit 1. Januar 2017 in Kraft ist. Darin heißt es: „Die Pflegesätze müssen einem Pflegeheim bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren und seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen unter Berücksichtigung einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos.“[6] Doch was heißt angemessen, denn bei alledem ist festgelegt: „Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ist zu beachten.“ Ein Dilemma für die Einrichtungen, genauso aber auch für Kassen und andere Kostenträger, die eine Lösung in den Verhandlungen suchen. Oftmals landen die Beteiligten vor der Schiedsstelle.
Die Wissenschaftler der IEGUS-Studien haben im Auftrag des Bundesverbandes der privaten Anbieter (BPA) das unternehmerische Wagnis benannt und Lösungsvorschläge erarbeitet. Mehr als 540 stationäre Einrichtungen und mehr als 150 ambulante Pflegedienste standen für die Studie Rede und Antwort und stellten ihre Daten zur Verfügung. Juristen, Vertreter der Kostenträger, Verbänden und Bankinstituten wurden mit einbezogen.
Unterschiedliche Situation ambulant und stationär
Verabschiedet wurde sich von dem Begriff Unternehmensrisiko, stattdessen wurde das allgemeine unternehmerische Wagnis gewählt, um der gängigen Praxis gerechter zu werden. Berücksichtigt wurde zudem das betrieblich-spezifische Einzelwagnis. Für alle Leistungserbringer gilt: Die Handlungsfähigkeit ist durch Überschüsse zu sichern. Denn der Unternehmer muss mögliche Verluste auffangen.
Die Situation im stationären sowie im ambulanten Pflegebereich könnte bei den Unternehmensrisiken nicht unterschiedlicher sein. In stationären Einrichtungen wurden 15 Einzelwagnisse herausgearbeitet. Dazu gehören beispielsweise regionale Auslastungserwartungen, abweichende Personalabwesenheit, spezifische Folgen der Personalfluktuation, unterschiedliche Preise bei Wasser / Energie, die Kostenentwicklung in Fremddienstleistungsbereichen.
Für die Kalkulation der branchenspezifischen Komponenten des allgemeinen Wagnisses in Pflegeheimen haben die Autoren der Studie 50 Faktoren ausfindig gemacht, wie demografische Entwicklung, Stabilität wichtiger Kostenträger als Partner, die Entwicklung des Marktes oder die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Risiken sind begrenztes Arbeitskräftepotenzial und Begrenzung der Gestaltungsfreiheit aufgrund von politischen Rahmenbedingungen.
Das allgemeine Wagnis variiert im stationären Bereich innerhalb der Bundesländer zwischen 5,08 Prozent – Baden-Württemberg und Niedersachsen – und 4,84 Prozent – Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Saarland. Im Schnitt wurde ein allgemeines Wagnis von 4.9 Prozent errechnet. Besondere Regionen seien Ballungszentren, wie Berlin (5,38 Prozent) und Hamburg (5,62 Prozent).
Kalkulation im ambulanten Bereich nur schwer möglich
Im ambulanten Bereich müssen mehr Punkte berücksichtigt werden. Das unternehmerische Risiko ist nach der zweiten Studie von IEGUS höher und teilweise nicht einschätzbar. Denn die Vergütung nach SGB XI könnte nicht unterschiedlicher sein. Es gibt nach Aussage von Andreas Heiber, Unternehmensberatung System & Pflege, Bielefeld, 18 Kataloge zur Pflegeversicherung bundesweit mit sage und schreibe bis zu 27 Preisvarianten. Eine Vergleichbarkeit sei damit nicht möglich. Bundesempfehlungen würden auf Landesebene weitgehend ignoriert. Selbst in einem Bundesland ist nach Aussage von Heiber der Katalog der Häuslichen Krankenpflege nicht vergleichbar. Durchschnittlich bringen es die einzelnen Bundesländer auf 22 Kataloge – mit teilweiser unterschiedlicher Systematik.
Und vor allem im Bereich betriebliches Wagnis gehen die ambulanten Pflegedienste auf Risiko (4,95 und 6,47). Während in der stationären Pflege Platzzahlen festgelegt, Versorgungszeiten der Bewohner vorgegeben sind – 24 Stunden rund um die Uhr – und damit eine Kalkulation gut möglich ist, müssen ambulante Pflegedienste mit vielen großen Unbekannten rechnen. Planbare Patientenzahlen sind im ambulanten Pflegedienst nicht möglich; darunter auch die erbrachten Leistungen. Zudem haben die Unternehmen aufgrund der Regulierung einen hohen Aufwand für Nachweispflichten und Dokumentationen.
Die Autoren der IEGUS-Studie kommen zu dem Ergebnis, dass „angesichts des aktuellen Erscheinungsbildes der Rahmenbedingungen auf dem teilregulierten Mark ein überdurchschnittlich hohes Risiko“ abgeleitet wird. Dr. h. c. Jürgen Gohde vom Kuratorium Deutsche Altershilfe verwies bei der Vorstellung der Studie zu den ambulanten Pflegediensten auf die „enorme Bandbreite an Risiken“, die wesentlich mehr seien als im stationären Pflegebereich; darunter dezentrale Abläufe sowie fehlende Kalkulationsgrundlagen. Jedoch gibt es aufgrund der Leistungsvergütung aus „gesetzlich definierten Versicherungssystemen“ auch Planungssicherheit.
Bundessozialgericht hat Wagniszuschlag 2013 festgeschrieben
Doch beides miteinander zu vergleichen, fällt schwer. Für die ambulante Pflege bestehen zwar keine vorgeschriebenen Regelungen zur Personalbemessung, dennoch mehrdeutige Vorgaben der Qualifikation zur Erbringung der einzelnen Leistungen. Sehr unterschiedlich ist beispielsweise geregelt, welche Qualifikationen die Mitarbeiter haben müssen, um die einzelne Behandlungspflege nach SGB V erbringen zu dürfen. Auch stehen sich Einzel- und Pauschalvergütungen, Leistungsgruppen und Zeitvergütungen gegenüber. Bei mehr als einer Behandlungspflege kommt selten die Addition der Vergütung zur Anwendung, sondern die Vergütung der höchsten Leistungsgruppe. Bestimmen also Willkür und Spardiktate die Verhandlungen zur Preisfindung?
Noch einmal ein Blick zurück auf den rechtlichen Rahmen. Bereits im Jahre 2009 urteilte das Bundessozialgericht (29. Januar stationär und 17. Dezember ambulant)[7]: „Eine Vergütung für stationäre [ambulante] Pflegeleistungen ist deshalb im Grundsatz erst dann leistungsgerecht, wenn sie die Kosten einer Einrichtung hinsichtlich der voraussichtlichen Gestehungskosten unter Zuschlag einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos und eines etwaigen zusätzlichen persönlichen Arbeitseinsatzes sowie einer angemessenen Verzinsung ihres Eigenkapitals deckt.“
Am 16. Mai 2013 hatte das BSG dann einen allgemeinen Wagniszuschlag für das Unternehmensrisiko festgeschrieben: über einen festen umsatzbezogenen Prozentsatz oder auch über die Abbildung einer kalkulatorischen Auslastungsquote, die als Maßstab dient. [8] Für die ambulante Pflege ist die BSG-Feststellung nur begrenzt verwertbar, schreiben die Autoren und besagt auch die Praxis. Denn der kalkulatorische Auslastungsgrad ist nicht bestimmbar. Theoretisch zwar schon, jedoch sind bestimmte Arbeiten überhaupt nicht abgedeckt, wie beispielsweise Leitung und Verwaltung, denen keine direkten Umsatzerlöse gegenüberstehen. Kleinteilige Leistungsdefinitionen folgen zudem dem Grundsatz: Leistungsabrechnung folgt der konkreten Leistungserstellung.
Die ambulanten Pflegedienste haben noch mit anderen Problemen zu kämpfen: mit der personelle Unterbesetzung wegen fehlender Arbeitskräfte, wie die Wissenschaftler Tobias Hackmann und Laura Sulzer beschrieben haben.[9] Im Pflegethermometer 2018 haben mehr als die Hälft der befragten Pflegedienste mitgeteilt, dass sie als Folge bereits Patienten abweisen mussten bzw. eine geplante Angebotsausweitung zurückgenommen haben.[10] Viele der Pflegefachkräfte wandern in die Krankenhäuser ab, weil sie dort nicht nur planbare Arbeitszeiten haben, sondern im Schnitt auch 600 Euro mehr verdienen im Monat.[11] Zudem bieten Kliniken mittlerweile auch diverse Extras an, um Mitarbeiter zu locken. Selbst, wenn, wie die Bundesregierung fordert, flächendeckend Tarifverträge in der Altenpflege zur Geltung kommen, wird sich die Situation nicht entspannen. Denn die entscheidende Frage ist, wer finanziert das? Die Kostenträger, die Pflegebedürftigen bzw. ihre Angehörigen?
Unwägbarkeiten bei den Verhandlungen berücksichtigen
Während die stationären Pflegeeinrichtungen bzw. ihre Träger mit den Kostenträgern einzeln verhandeln, sind bei den ambulanten Pflegediensten die Kollektivverhandlungen gang und gäbe. Die Einzelverhandlung ist die Ausnahme, schreiben die Autoren der IEGUS-Studie. Ob die Einzelverhandlung für die Pflegedienste die Lösung ist, bleibt dahingestellt. Der zeitliche Aufwand ist immens und sollte wirklich wohlüberdacht sein.
Klar ist jedoch, dass das unternehmerische Wagnis in den Verhandlungen berücksichtigt werden muss. Nach der Studie beträgt der branchenspezifische Faktor durchschnittlich 5,2 – ausschlaggebend die bereits erwähnten 50 ermittelten Risikofaktoren, das ist ein Plus von 1,39 Prozent. Die branchenunabhängige Komponente beträgt, so die Autoren, rund vier Prozent. Dabei berücksichtigt ist, ob es sich um eine Grenzregion handelt oder ein Ballungsgebiet – ähnlich wie auch für den stationären Pflegebereich.
Sicher ist auch, dass die Verhandlungen zwischen stationären Pflegeeinrichtungen und Kostenträger planbarer sind als jene von ambulanten Pflegediensten. Letztere sind kaum in der Lage, alle Kosten konkret festzulegen für die Kostenträger. Die Unwägbarkeiten müssen berücksichtigt werden bei den Verhandlungen mit mehr Spielraum für die Pflegedienste. Denn eins steht fest: Stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste werden in den kommenden Jahren mehr denn je gefordert. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, und aufgrund der zu erwartenden hohen Eigenbeteiligung im stationären Bereich werden sich mehr und mehr Pflegebedürftige dafür entscheiden, zu Hause gepflegt zu werden. Dafür müssen jedoch die Rahmenbedingungen stimmen; müssen verbindlich sein für die Mitarbeiter, die Unternehmen und für die Patienten. Wer politisch sich zum Markt bekennt, muss auch dessen Risiken finanzieren, egal ob schwierig zu berechnen oder nicht.
Genau da beginnt das Problem der ambulanten Pflege: Über viele Jahre mit den unterschiedlichsten Vergütungssystemen konfrontiert, wenig genaue Zahlen, immer der Vorwurf von Intransparenz, wenig bis keine Forschung. Und dann steht noch die Kritik im Raum, zu wenig an die Mitarbeiter zu zahlen. Wie aber tariflich vergüten, wenn jeder Kostenträger alle paar Jahre die Vergütungsstruktur verändert? Wie Lohnzuwächse finanzieren, wenn die Verlässlichkeit der Finanzierung nicht gegeben ist? Wie Mitarbeiter an mittelständische Betriebe binden, wenn die Vergütungssätze einzelner Leistungen vor 23 Jahren höher waren als heute? So lag der Preis für eine Medikamentengabe am 1. Januar 1996 in Berlin bei der AOK bei 14,95 Euro (umgerechnet von DM), inklusive An- und Abfahrt und aller sonstigen Kosten, und heute zum 1. Januar bei 12,26 Euro, auch inklusive An-und Abfahrt und aller sonstigen Kosten. Zuschläge für Sonn- und Feiertage, Nachtdienste oder Spätdienste sind nur sehr selten Bestandteil von Vergütungsvereinbarungen. Der immer größer werdende „Schwarzmarkt“ der osteuropäischen „Privatversorgung“ kann auf Dauer nicht die Lösung sein! Wie also muss ambulant kalkuliert werden? Die Studie macht deutlich, eine eindeutige Lösung gibt es nicht, zu vielseitig die Risiken und Kalkulationsgrößen.
Weniger Vorwürfe und mehr Vertrauen
Deutlich herausgearbeitet sind von den Autoren die großen Unterschiede zwischen ambulant und stationär. Wenn das bei allen Beteiligten angekommen ist – und nur dann –, wird es leichter werden, die vielen Risiken in ein vertretbares System zu bringen. Voraussetzung ist Vertrauen, weniger Vorwürfe und mehr konstruktiver Dialog. Wir brauchen Forschung, die der Kleinteiligkeit dieses mittelständigen Versorgungsgebietes gerecht wird mit einem Finanzpolster des Mittelstandes, Sicherheit der Finanzierung und deren Verlässlichkeit.
Die Frage der Zukunft ist, wie die Weitergabe der Entgelterhöhungen an die Mitarbeiter gesichert werden kann. Mit einer Antwort bestimmen zukünftig maßgeblich die Kostenträger in diesem regulierten Markt, wie Tarifbindung finanziert wird. Natürlich auch die Unternehmen! Geteilte Verantwortung zum Wohle einer bedarfsgerechten und qualitativ hohen Versorgung der Patienten. Das ist das eigentliche Dilemma, was offensichtlich im Augenblick auf der Strecke bleibt.
Fina Geschonneck
Redaktionsleiterin Observer Gesundheit, Redakteurin Observer Datenbank
Thomas Meißner
Vorstand im AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG), Mitglied im Deutschen Pflegerat sowie Geschäftsführer eines ambulanten Pflegedienstes
[6]https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbxi/84.html
[10]https://www.dip.de/fileadmin/data/pdf/projekte/Pflege_Thermometer_2018.pdf
[11]https://www.pflegestudium.de/gehalt/#gehaelt
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