Was kommt? Was geht? Was bleibt?

Von der Pandemie in die Digitalisierung

Daniel Cardinal

Dorothee Meusch

„Never waste a good crisis“ – dieser Satz von Winston Churchill von vor gut 75 Jahren hat durch das Coronavirus neue Aktualität erlangt. Die Covid-19-Pandemie hat in Deutschland schon mehr als 45.000 Menschenleben gefordert, für Millionen Menschen ist Kurzarbeit derzeit Alltag und unzählige Existenzen sind bedroht – ein menschliches und ökonomisches Desaster. Der Blick in die Zukunft liegt nicht frei, zu ungewiss sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen, die die Corona-Krise auf unsere Gesellschaft in all ihren Facetten hat. Dies ist die Stunde von Unternehmen, die es sich zur Aufgabe machen, die Pandemie auch als Beschleuniger begreifen und aktiv nutzen, um Entwicklungen voranzutreiben. Daher wollen wir es an dieser Stelle trotz aller Unwägbarkeiten wagen, mit Blick auf das deutsche Gesundheitssystem erste Antworten zu skizzieren auf die Fragen „Was kommt? Was geht? Was bleibt?“.

Die Pandemie hat in den zurückliegenden Monaten viele der bekannten Struktur- und Prozessdefizite im Gesundheitssystem wie unter einem Brennglas offenkundig gemacht. Gleichzeitig hat sie vermocht, was Sachverständigenräte, Runde Tische, zahllose Publikationen, Foren und Konferenzen mit immer ähnlichen Titeln nicht bewirken konnten: Sie hat wie ein Katalysator gewirkt, um Strukturen und Prozesse aufzubrechen und in großer Rasanz Neues zu ermöglichen, das unmittelbar Einzug in den Versorgungsalltag halten konnte – die „normative Kraft des Faktischen“ gewissermaßen. Die Digitalisierung ist dabei in weiten Teilen Sprungbrett und Lösung zugleich: Durch die katalytische Wirkung der Pandemie kann aus der digitalen Entwicklung eine digitale Transformation im Gesundheitswesen erwachsen. An zwei Beispielen veranschaulichen wir, wo dies innerhalb weniger Monate weiten Raum in der Versorgungsrealität erobert hat, und zeigen zugleich, wie die Techniker Krankenkasse (TK), deren Selbstverständnis es ist, Grenzen des bestehenden Systems im Interesse der Versicherten immer wieder auszutesten und bei Bedarf auch zu verschieben, dies mit Leben füllt.

 

Das elektronische Rezept: App statt Papier

Nahezu eine halbe Milliarde Arzneimittelrezepte stellen Deutschlands Vertragsärztinnen und -ärzte jedes Jahr aus – fast 1,5 Millionen pro Tag. „Muster 16“ wird das rosafarbene Verordnungsblatt im Fachjargon genannt. Bereits Anfang 2019 und damit deutlich vor dem Inkrafttreten eines E-Rezept-Gesetzes aus dem Bundesgesundheitsministerium hat die TK ein regionales Pilotprojekt zum elektronischen Rezept gestartet und war damit Vorreiter beim Test digitaler Verordnungen. Damit sei sie, so ein Fachmedium, einer „der wichtigsten Mit-Entwickler des E-Rezeptes in Deutschland geworden“. In der Folge wurden verschiedene Softwaredienstleister angebunden, damit niedergelassene Ärztinnen und Ärzte elektronische Verordnungen für TK-Versicherte ausstellen können – potenziell 40.000 schon Mitte 2020. Außerdem konnten auch andere Kassen dem TK-Projekt beitreten, so dass praktisch bereits anderthalb Jahre nach dem Start des Piloten über ein Drittel aller gesetzlich Versicherten profitieren könnten. So hat das E-Rezept durch TK-Initiative zügig Marktrelevanz auf allen Seiten erlangt. Eine bevölkerungsrepräsentative Umfrage im Auftrag der TK zeigte im selben Zeitraum die Bereitschaft von fast zwei Dritteln der Bevölkerung für den Einsatz elektronischer Verordnungen. Und die Ärzteschaft wiederum sieht darin die Möglichkeit, das E-Rezept praxistauglich mit zu entwickeln.

Nun ist die Zeit der verlorenen oder zerknitterten Papierrezepte endgültig vorbei: Sehr bald steht das E-Rezept deutschlandweit allen TK-Versicherten zur Verfügung, nachdem Beta-Tester es erprobt haben. Ab Mitte 2021 können alle gesetzlich Versicherten das E-Rezept nutzen, 2022 wird dies verpflichtend.

 

Die Videosprechstunde: Onlinekonsultation statt Praxisbesuch

Mit Aufkommen der Covid-19-Pandemie wurde Kontaktvermeidung das Gebot der Stunde: Schon Mitte März 2020 haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung die bestehenden Begrenzungsregelungen vorerst aufgehoben mit der Folge, dass Fallzahlen und Leistungsmengen nicht mehr limitiert waren. Das Coronavirus hat als Katalysator – manche mögen sagen „Brandbeschleuniger“ – eine Form der Arztkonsultation salonfähig gemacht, die in einzelnen Kreisen gefürchtet wurde wie das Weihwasser vom Teufel.

Die TK bietet allen ihren Versicherten, die sich per Videotelefonie behandeln lassen möchten, eine Online-Sprechstunde an: Arzt und Patient kommunizieren ausschließlich digital miteinander. Ärztinnen und Ärzte können Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und elektronische Rezepte ausstellen. Die Erkrankten können das E-Rezept (QR-Code) direkt an eine Apotheke weiterleiten – Teil einer kontaktlosen Versorgungskette, die nicht nur Infektionsgefahren in Pandemiezeiten reduziert, sondern für die Versicherten auch erhebliche Convenience-Aspekte und Vorteile im praktischen Alltag hat.

Unweigerlich kommt einem hier der Satz unserer Forschungsministerin Anja Karliczek in den Sinn, die vor gut zwei Jahren sagte: „5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig.“ „Oh doch, gerade dort“, möchte man ihr zurufen. Gegenden, in denen es mit dem Breitbandausbau nicht weit her ist, weisen nicht selten auch eine geringere Dichte an Praxen und Apotheken auf, was weitere Wege für Patientinnen und Patienten bedeutet. Auch hier wird Corona hoffentlich zu einem Umdenken führen, das zügig in infrastrukturelle Maßnahmen mündet. In unserem Unternehmen TK haben wir diesen Prozess bereits vor Jahren angestoßen und dürfen inzwischen wöchentlich davon profitieren: (Entwicklungs-)Partnerschaften mit der Industrie und die Zusammenarbeit mit Start-ups sind eine große Bereicherung, und sie verändern auch das Unternehmen TK. Wir lernen wechselseitig voneinander, zugleich sammeln viele junge Projektleiter gemeinsam mit ihren agilen Teams wertvolle Erfahrungen und verändern so auch uns als Unternehmen.

Zugute kommt uns dabei sicher auch unsere Herkunft als „Techniker Krankenkasse“, der Gemeinschaft von Ingenieuren und Architekten. Techniker und Ingenieure sind niemals mit ihrer Arbeit fertig. Sie werden angetrieben von der Überzeugung, dass ein Werkstück immer noch besser werden kann. Diese ohnehin dynamische Entwicklung im Unternehmen TK – die, offen gesagt, natürlich auch allen viel abverlangt – ist durch die Pandemie nochmals beschleunigt worden. Die Zahlen der Mitgliederentwicklung unterstreichen das Vertrauen: Im Krisenjahr 2020 sind wir erneut um mehr als 200.000 zusätzliche Kunden gewachsen.

 

Der Paradigmenwechsel im europäischen Wertekontext

Für die Digitalisierung gilt: „Don’t fight the current“. Die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, wohl aber gestalten. Und genau das ist dringend erforderlich. Wir benötigen eine klare europäische Idee, unter welchen Bedingungen Gesundheitsdaten genutzt werden können – für die Verbesserung der Versorgung ebenso wie für Forschungszwecke. Wir sehen in den USA den auf Monetarisierung fokussierten Umgang mit Daten und in China den Zweck der Gängelung und der Beschneidung von Freiheitsrechten. Je größer die Menge an Daten wird und je einfacher die Verfahren, sie auszuwerten, desto dringlicher stellt sich die Frage nach einer Positionierung der Europäischen Union (EU). Wenn wir die digitale Transformation als eine echte Chance zur Verbesserung der Patientenversorgung nutzen wollen, muss sich dieser Paradigmenwechsel innerhalb unseres europäischen Werterahmens abspielen. Ein Code of Conduct (CoC) muss her, ein Kodex für das digitale Zeitalter. Er wird kein Werk für die Ewigkeit sein, sondern sich immer wieder einem gesellschaftlichen Diskurs stellen und angepasst werden müssen an technologische Möglichkeiten, die wir heute noch nicht kennen. Die Corona-Warn-App ist ein Beispiel dafür, wie Politik gesellschaftliche Impulse aufnimmt und Festlegungen korrigiert (dezentrales versus zentrales Modell). Auch diese Diskussion ist noch nicht zu Ende, die Frage des „Greater Good“ steht nach wie vor im Raum.

Die Covid-19-Pandemie hat das Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in diesem Halbjahr mächtig durcheinandergewirbelt, so dass es nicht mehr zur Vorlage eines CoC gekommen ist. Verbunden mit Portugal und Slowenien in der bis Ende 2021 reichenden Trio-Ratspräsidentschaft wird Deutschland hier wichtige Impulse setzen.

 

Statt eines Fazits

Angesichts der Rasanz und der enormen Vielschichtigkeit der Entwicklungen verbieten sich „Schluss“folgerungen, denn wir stehen nach unserer Überzeugung eher am Beginn denn am Ende des durch die Pandemie beschleunigten und in Teilen erst ermöglichten Prozesses. Einige Einschätzungen seien aber erlaubt:

 

Was kommt?

Weil die Digitalisierung immer weitere Bereiche des Gesundheitswesens mit einer immer größeren Eindringtiefe und Geschwindigkeit durchzieht, wird sich auch die Form der Gesetzgebung ändern – Stichwort „agile Gesetzgebung“. Noch nie hat es so viele Gesetzentwürfe als „Betaversion“ gegeben wie in dieser Legislaturperiode. Die letztliche Gesetzgebung vollzog sich nach breitem öffentlichen und Fachdiskurs dann über den Weg von Änderungsanträgen – sonst die Ausnahme, in den zurückliegenden zwei Jahren eher die Regel. Ein zweites Beispiel dafür, was nach unserer Einschätzung eintreten wird: Je mehr Künstliche Intelligenz (KI) in der Diagnostik und beim Aufzeigen geeigneter Therapieoptionen Fuß fasst, desto wahrscheinlicher wird es, dass es in wenigen Jahren als Behandlungsfehler betrachtet wird, wenn eine Ärztin oder ein Arzt in bestimmten Fällen kein KI-basiertes Expertensystem konsultiert. Und: Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) werden relevante Marktanteile erobern, allerdings wird es hier auch zu Bereinigungen kommen: Der „Goldgräberstimmung“ wird eine Konsolidierung folgen.

 

Was geht?

Die Dominanz des Analogen als Selbstzweck wird im Gesundheitswesen künftig nicht mehr handlungs- und entscheidungsleitend sein. Die bisherigen Beharrungskräfte werden an Wirkmächtigkeit spürbar einbüßen und sinnlos gewordene Traditionen, wie zum Beispiel eine quartalsweise Abrechnung ärztlicher Leistungen, werden in den Sonnenuntergang reiten. „Historisch gewachsen“ – und davon gibt es im Gesundheitswesen jede Menge – wird nicht länger als Synonym für „bewährt und erhaltenswert“ betrachtet, sondern zunehmend infrage gestellt und durch adäquate Strukturen und Prozesse abgelöst. „Das geht nicht!“ wird zu dem, was es ist: einer Floskel.

 

Was bleibt?

Bei aller Digitalisierung werden Bits und Bytes den persönlichen Kontakt in der gesundheitlichen Versorgung und im Gesundheitswesen allgemein nicht abschaffen. Wo es erforderlich ist, wird es weiterhin Präsenzbehandlungen geben, und es wird auch künftig möglich sein, das Arzneimittelrezept in der Apotheke vor Ort einzulösen. Ein Krankenhaus ohne Schwestern und Pfleger wird es nicht geben, ganz im Gegenteil. Und auch die Krankenkassen werden ihre Kundinnen und Kunden nicht mit Bot-gestützter Kommunikation abspeisen, wo es Antworten von Menschen für Menschen braucht. Es wird ebenfalls Bestandteil des gesellschaftlichen Auftrags von Krankenkassen bleiben, die bestmögliche und solidarisch finanzierte Versorgung ihrer Versicherten zu gewährleisten.

Was bleibt, sind außerdem die vielen Herausforderungen, die die digitale Transformation des Gesundheitswesens mit sich bringt. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: Unabdingbar wird es sein, neue digitale Möglichkeiten immer wieder in Einklang zu bringen und zu halten mit unserem europäischen Wertekanon. Und es bleibt eine Daueraufgabe, die Menschen mitzunehmen auf dem Weg in ein immer digitales Gesundheitswesen und zugleich Optionen zu erhalten oder zu etablieren für diejenigen, die diesen Weg nicht gehen können oder möchten.

Dann vielleicht doch ein kleines Fazit? „Never waste a good crisis.” Wollen wir aber zugleich hoffen, dass es für weitere gute Entwicklungen keiner neuen oder fortdauernden Krise bedarf!

 

Daniel Cardinal
Leiter des Geschäftsbereichs Versorgungsinnovation der Techniker Krankenkasse

Dorothee Meusch
Beauftragte für interdisziplinäre Zukunftsfragen der Patientenversorgung der Techniker Krankenkasse


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