Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz

Betriebliches Gesundheitsmanagement weitergedacht

Dr. Holger Pressel

Andreas Kaiserauer

Würde man Beschäftigte fragen, was sie mit den Begriffen „Betriebliche Gesundheitsförderung“ und „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ verbinden, so würden die Antworten wahrscheinlich „Gesunde Mittagspause“, „Rückenschule“, „Laufgruppen“, „Yogakurse“ und „Achtsamkeitstrainings“ oder so ähnlich lauten. Seit März 2020 würden einige Menschen bei diesen Begriffen vermutlich auch an die Unterweisung in und die Umsetzung der Hygienemaßnahmen („AHA-Regeln“) im Betrieb denken. [1]

Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) ist ein für Arbeitgeber sowie Beschäftigte freiwilliges Angebot, das den im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebenen Arbeitsschutz und das für Arbeitgeber verpflichtende sowie das für Beschäftigte freiwillige betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) und die Aktivitäten der DRV ergänzt (siehe Abbildung). BGF beinhaltet die Verankerung von Gesundheit als betriebliches Ziel, die Koordinierung der für die Gesundheit der Beschäftigten zuständigen Akteure sowie die systematische Gestaltung von gesundheitsförderlichen Strukturen und Prozessen in Betrieben sowie die Befähigung der Beschäftigten zu gesundheitsbewusstem Verhalten.

 

 

 

Das Gebot der Kooperation

BGF bedarf der Kooperation der Krankenkassen mit weiteren relevanten Akteuren. Neben den betriebsinternen Verantwortlichen sind dies insbesondere die Unfallversicherungsträger. Die Zusammenarbeit insbesondere mit den zuständigen Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen kann von gegenseitiger Information bis zu gemeinsamen Aktivitäten in Betrieben reichen. Krankenkassen und Unfallversicherungsträger sollen sich wechselseitig über ihre Vorhaben in einem Betrieb informieren. Dem Gebot der Kooperation entsprechend besteht das im „Leitfaden Prävention“ des GKV-Spitzenverbandes (Stand: 14. Dezember 2020) erstgenannte Ziel der BGF darin, die Zahl der betreuten Betriebe, die über ein Steuerungsgremium für die BGF unter Einbeziehung der für den Arbeitsschutz und das betriebliche Eingliederungsmanagement zuständigen Akteure verfügen, zu erhöhen.

 

Handlungsfelder und Leistungen der BGF

Zu den Handlungsfeldern der BGF gehört die Beratung zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung und somit auch zu Fragen der Kultur eines Betriebs, des Führungsstils und der sozialen Beziehungen innerhalb der Belegschaft. Auch Aspekte des gesundheitsförderlichen Arbeits- und Lebensstils und somit Fragen etwa von Bewegung, gesunder Ernährung, Stressbewältigung und Ressourcenstärkung gehören zu den Handlungsfeldern der BGF. Die Leistungen der Krankenkassen bei der BGF bestehen im Wesentlichen in der Erstellung von Analysen – etwa Arbeitsunfähigkeitsanalysen – und der Beratung zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen in Abstimmung mit den Vertreterinnen und Vertretern des Arbeitsschutzes sowie den Vertretungen der Beschäftigten (§ 20b SGB V). Zum Leistungsportfolio der Krankenkassen gehört auch die Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren (§ 20c SGB V). Dabei sollen die Krankenkassen die Ergebnisse vorhandener Gefährdungsbeurteilungen nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes bei der BGF nutzen und diese dadurch mit dem Arbeitsschutz (noch) enger verzahnen.

Bei den BGF-Aktivitäten weitgehend ausgeblendet – bewusst oder unbewusst – wird zumeist ein relevantes Phänomen (auch) der Arbeitswelt: der Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz. Die Begriff­lichkeit „Gewalt am Arbeitsplatz“ wird von der International Labour Organisation (ILO) definiert als Vorkommnisse, bei denen Beschäftigte im Verlauf oder in direkter Folge ihrer Arbeit beleidigt, bedroht oder tät­lich angegriffen werden.

 

Zahlen bitte!

Aktuelle Daten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) lassen eine gegenläufige Entwicklung erkennen: Während im Berichtsjahr 2019 trotz erneut gestiegener Zahl der Erwerbstätigen die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle im Vergleich zum Vorjahr rückläufig war, nahm die Anzahl der sogenannten „Gewaltunfälle“ erneut zu: Laut der „Statistik Arbeitsunfallgeschehen“ der DGUV wurden im Berichtsjahr 2019 mehr als 16.000 „Gewaltunfälle“ gemeldet.[2] Dies entspricht einem Anstieg innerhalb eines Jahres von acht Prozent (DGUV 2020).

Das tatsächliche Ausmaß von Gewalt in der Arbeitswelt ist jedoch (noch) viel höher als die genannten 16.000 Fälle: Die Daten der DGUV beinhalten keine Übergriffe gegenüber Beamten und keine Fälle, die nicht zu mindestens vier Tage Arbeitsunfähigkeit führen. Hinzu kommt, dass bei weitem nicht alle Übergriffe tatsächlich auch gemeldet werden. Insofern ist von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Die vorliegenden Daten stellen daher nur die Spitze des Eisbergs dar.

Eine aktuelle von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bun­desagentur für Arbeit (IAB) initiierte und finanzierte Studie untersuchte das Ausmaß von Bullying, dabei handelt es sich faktisch um Schikanieren oder Demütigung, in der Arbeitswelt in Deutschland: In Interviews gaben 17 Prozent der befragten 4.143 Beschäftigten an, schon einmal Opfer von Bullying am Arbeitsplatz geworden zu sein. Von den Befragten, die von Bullying betroffen waren, nannten 77 Prozent Vorgesetzte als Verursacher und „nur“ 42 Pro­zent Kolleginnen und Kollegen.[3]

 

Gesundheits- und Pflegewesen überproportional von Gewalt betroffen

Zahlen der DGUV belegen: Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie stationäre Pflegeeinrichtungen sind von Gewaltereignissen überproportional betroffen: Während  der Anteil der Gewaltunfälle an den meldepflichti­gen Arbeitsunfällen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften bei zwei Prozent beziehungsweise 5 Prozent im Bereich der Unfallkassen der öffentlichen Hand liegt, entfällt bei psychiatrischen Krankenhäusern mehr als jeder zweite Arbeitsunfall auf einen Gewaltunfall (56 Prozent)! In Pflege- und Altenheimen sind es etwa 16 Prozent. Folgerichtig benennt der „Leitfaden Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen nach § 5 SGB XI (Stand 14. Dezember 2020)“ die Prävention von Gewalt explizit als ein Handlungsfeld der Pflegekassen. Die AOK Baden-Württemberg widmet sich diesem Ziel unter anderem im Rahmen ihrer Aktivitäten „Prävention in der Pflege (PIP)“.

 

Folgen von Gewalt

Die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz können sehr vielfältig sein. Dabei hängt das Ausmaß der Folgen von der Form der Gewalt ab: Ein Messerangriff hat andere Auswirkungen als eine Beleidigung oder Bedrohung. Bei den meisten Übergriffen stehen die psychischen Folgen im Vordergrund; Schlafstörungen, Angst, Stress, Verunsicherung, Depressionen, Selbstzweifel, Ohnmacht und der Wunsch, die Tätigkeit zu wechseln, werden in der Fachliteratur als häufige Reaktionsformen genannt.

 

Situative und geplante Gewalt: heiße und kalte Aggression

Es gibt Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz, die aus einer Situation heraus entstehen, und andere Fälle, die nach einer (langen) Phase der Planung ausgeübt werden: Situative Gewalt bezeichnet ein aggressives Verhalten, das aus der Situation heraus entsteht und somit eine reaktive Komponente besitzt. Charakteristisch für diesen Typ von Gewalt ist eine ausgeprägte physiologische Erregung. Diese kann entweder eine Reaktion auf eine Bedrohung oder eine Folge von Wut sein. Situative Gewalt wird auch als „heiße Aggression“ bezeichnet. Bei der geplanten Gewalt fehlt die für die situative Gewalt typische physiologische Erregung. Dieser Typ wird oftmals auch als „vorsätzlich“ beschrieben. Er wird daher auch als „kalte Aggression“ bezeichnet. Dieser Gewalttyp ist häufig die Folge einer über einen längeren Zeitraum angestauten Frustration oder von Kränkungen und Demütigungen, in deren Folge jemand für sich entscheidet, sich an seinem Peiniger zu rächen.

 

Prävention: Deeskalations- und Bedrohungsmanagement

Maßnahmen der Deeskalation zielen auf eine Entschärfung von Fällen von „heißer Aggression“, also dem Typ von Gewalt, der in einer aufgeheizten Situation entsteht. Für Fälle geplanter Gewalt ist das Bedrohungsmanagement das Mittel der Wahl.

Maßnahmen der Deeskalation sollten bereits bei der Unternehmenskultur beginnen: Nur wenn das Thema „Gewalt am Arbeitsplatz“ in all seinen Facetten enttabuisiert wird, können Präventionsmaßnahmen tatsächlich greifen. Wenn Beschäftigte den Eindruck haben, von Vorgesetzten als ängstlich oder überempfindlich angesehen zu werden, wenn sie Fälle von Gewalt melden, dann fehlt die Basis sowohl für künftige Meldungen als auch für Erfolg versprechendes Präventionshandeln. Bestandteil einer sicherheits- bzw. präventionsorientierten Unternehmenskultur sollte auch ein klares Bekenntnis zu einer Nulltoleranz-Strategie gegenüber jeder Form von Gewalt sein.

Aspekte der Deeskalation sollten bereits Bestandteil der Gefährdungsbeurteilungen sein: Bei der Ermittlung von potentiellen Gefährdungen sollte explizit die Gefahr von gewaltauslösenden Reizen etwa in Wartebereichen mitgedacht werden. Auch räumliche, bauliche und technische Aspekte, die Einfluss auf die Entstehung von Aggressionen haben können, sollten Gegenstand von Gefährdungsbeurteilungen sein. Besonders bedeutsam ist die Qualifizierung der Beschäftigten in Bezug auf verbale und nonverbale Kommunikation: Ein falsches Wort oder eine unpassende Mimik kann eine ohnehin angespannte Situation zusätzlich aufheizen. Umgekehrt kann durch einen gelungenen Beziehungsaufbau zu einem Aggressor eine sich abzeichnende Gefahr häufig gebannt werden.

Beim Bedrohungsmanagement geht es darum, Eskalationsgefahren möglichst früh zu erkennen, diese qualifiziert einzuschätzen und schließlich das Risikopotenzial zu entschärfen. Der Ausgangspunkt des Bedrohungsmanagements besteht in der Erkenntnis, dass vielen Fällen von Gewalt im Vorfeld kritische Verhaltensweisen auf Seiten des späteren Täters vorausgehen. Oftmals können bei (späteren) Tätern im Vorfeld ihrer Taten sogenannte Warnsignale identifiziert werden. Hierzu zählen neben explizit geäußerten Drohungen beispielsweise auch das Zeigen von Waffen sowie verbale oder nonverbale Grenzüberschreitungen.

Der Aufbau eines Bedrohungsmanagements läuft dabei in drei Schritten ab:

Der erste Schritt bei der Implementierung eines Bedrohungsmanagements besteht in der Sensibilisierung der Beschäftigten, um die erforderliche Aufmerksamkeit für mögliche bedrohliche Verhaltensweisen zu schaffen. Diese Aufmerksamkeit von möglichst vielen Beschäftigten ist die Voraussetzung, um das Ziel des Bedrohungsmanagements, durch ein rechtzeitiges Erkennen kritischer Dynamiken und rechtzeitiger Intervention, Gewalttaten zu verhindern, erreichen zu können.

Schritt 2 besteht in der Qualifizierung von geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sogenannten „Erstbewertern“. Diesen kommt eine ganz wesentliche Aufgabe zu: Sie müssen eine Einschätzung der Gefährdungslage vornehmen.

Der dritte Schritt besteht – sofern tatsächlich Gefahr im Verzug ist – in der Eliminierung der Gefahr. Dies ist aller Regel eine Angelegenheit der Polizei und erfolgt von dieser im Rahmen von sogenannten „Gefährderansprachen“.

 

Fazit und Ausblick

Betriebliches Gesundheitsmanagement ist weit mehr als „nur“ Betriebliche Gesundheitsförderung. Erfolgreich wird Betriebliches Gesundheitsmanagement nur dann sein, wenn die relevanten Akteure vertrauensvoll zusammenarbeiten. Dies gilt auch für die Frage des Umgangs mit Gewalt in Betrieben.

Sicher wird es nicht gelingen, Gewalt vollständig aus der Arbeitswelt zu entfernen. Dessen ungeachtet sollte zumindest der Versuch unternommen, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu reduzieren. Die genannten Instrumente, Deeskalations- und Bedrohungsmanagement sollten, dabei hilfreich sein. Bei aller Bedeutung der Prävention: Mindestens genauso wichtig ist, Opfern von Gewalt sowohl im Akutfall als auch bei der anschließenden Nachsorge bestmöglich zu unterstützen.

 

[1] Teile dieses Beitrages basieren auf dem Buch „Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz“, das im Haufe-Verlag erschienen ist (Holger Pressel 2020). Dieses enthält zahlreiche weiterführende Literatur- und Quellenangaben.

[2] Meldepflichtig sind Unfälle mit einer Arbeitsunfähigkeit von über vier Tagen. Gewaltunfälle werden in der Unfallstatistik der DGUV über das Merkmal „Abweichung vom normalen (unfallfreien) Verlauf“ identifiziert.

[3] Die Summe ist deswegen größer als 100 Prozent, weil in einigen Fällen Vorgesetzte und Kollegen die Verursacher sind.

 

Literatur:

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 2020: Statistik Arbeitsunfallgeschehen. Berichtsjahr 2019. Berlin. 2020.

GKV-Spitzenverband 2020: Leitfaden Prävention und Leitfaden Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen nach § 5 SGB XI (Stand 14. Dezember 2020). Berlin.

Pressel, Holger 2020: Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz: Prävention. Deeskalation. Nachsorge. Freiburg: Haufe.

 

 

Dr. Holger Pressel
Leiter der Stabsstelle Politik, AOK Baden-Württemberg

Andreas Kaiserauer
 Leiter des Referates Gesundheitsförderung in Lebenswelten, AOK Baden-Württemberg


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